Notaufnahme #2

Früh am Morgen. 
Mondkind ist schon eine Weile wach und beantwortet vor dem Aufstehen noch einige whatsApp – Nachrichten, die sie zwar gestern Abend noch gesehen hat, aber zu denen sie nichts mehr sagen konnte und wollte. Die meisten haben einen anderen Rhythmus als sie und fangen erst um 22 Uhr mit Schreiben an. Mondkind hat sich vorgenommen nach 22 Uhr nicht mehr zu antworten – sonst kommt sie nie pünktlich ins Bett. 

Ein kalter Wind weht ihr an diesem Morgen ins Gesicht und zum ersten Mal seit langer Zeit ist sie wieder in einem Pullover unterwegs. 
Der Morgen beginnt wie gewohnt mit Blut abnehmen. Immer öfter darf und soll sie jetzt auch Nadeln legen. Nachdem sie gestern alle drei Patienten beim ersten Mal versorgt hat, traut sie sich heute an eine alte Dame mit schwierigen Venenverhältnissen. Beim zweiten Mal gelingt es auch. 

Frühbesprechung. 
Gefühlt werden sie jeden Morgen weniger Leute. 
„Mehr werden es heute wohl auch nicht…“, seufzt der Chef, als sie schon fünf Minuten über die Zeit sind. „Also fangen wir an…“

Mondkind ist froh, dass heute wieder die halbtags arbeitende Kollegin da ist. Mit ihr war sie in den letzten Tagen oft morgens in der Notaufnahme und die beiden werden langsam ein eingespieltes Team. 
Da so früh am Morgen noch keine Patienten da sind, beginnt der Tag auf der Notaufnahme mit einem Kaffee im Schwesterzimmer. Mondkind weiß immer gar nicht, ob die Ärzte deren Kaffeemaschine nutzen dürfen, aber die Kollegin stellt ihr immer ganz selbstverständlich einen Kaffee auf den Platz. Das hat den Vorteil, dass ihr Kreislauf nicht am Morgen schon spinnt. 

Der erste Patient wird angekündigt. Ein älterer Patient, der beim Zeitung herein holen wohl gemerkt habe, dass er einen Schleier vor dem Auge sehe und Kopfschmerzen habe. Außerdem soll er wohl hypertensiv entgleist sein. 
Einseitige Sehstörung und ein exorbitant hoher Blutdruck schreit geradezu nach TIA.
„Der gehört doch in die Neuro“, traut sich Mondkind anzumerken. 
„Ja, aber die wollten den unbedingt hier erst vorstellen“, gibt die Schwester zurück. „Wir können ihn dann ja weiter schicken…“
Das ist auch das, was letzten Endes vorgeschlagen wird. Da eine neurologische Ursache das Naheliegenste ist, sollen die Neuros das abklären und ihn dann entweder zu uns zurück oder zum Augenarzt schicken. 
„Dann müssen wir ja jetzt auch noch einen Brief schreiben“, stellt die Kollegin etwas entsetzt fest. „Ich kann das machen“, sagt Mondkind. „Ich müsste es nur auf Deinen Namen im System machen.“
Und schon tippt Mondkind ein paar Zeilen. Drückt sich mal ein bisschen neurologisch gebildet aus. Und fragt sich, wer den Brief in ein paar Minuten in der Neuro in der Hand halten wird. Und nicht wissen wird, dass er von ihr ist. Denn unterschreiben darf Mondkind den leider nicht. 

Mondkinds nächster Fall. Ein Patient, der aus der Herzklinik eingewiesen wurde. Zunächst habe man geglaubt, er habe einen Herzinfarkt, aber das sei ausgeschlossen worden. Nun vermute man eher eine Gallenblasenentzündung. 
Der Patient sieht schlecht aus, als Mondkind ihn sieht. Er hat Fieber und ist sauerstoffpflichtig und viel mehr als ein Murmeln bekommt Mondkind nicht aus ihm heraus. Die Blutgasanalyse zeigt ihr eine global respiratorische Insuffizienz und sie rast schnell zur Kollegin, ob das jetzt eine Indikation für die Intensivstation sei. Die Kollegin erklärt, dass es so schlimm nicht sei, Mondkind solle ein kleines bisschen mehr Sauerstoff geben. 
Mühselig erhebt Mondkind eine Anamnese, ehe eine der Schwestern herein gestürmt kommt. Der Patient sei privat versichert, darum müsse sich ohnehin der Chef persönlich kümmern. Mondkind solle ihn noch körperlich untersuchen und dann den Chef informieren. 
Chef informieren… - gar nicht so einfach. An sein Telefon geht er nicht, also rast Mondkind in die Endoskopie, wo man ihn meist antrifft. Geduldig wartet sie, bis er Zeit hat und stellt dann ihr Anliegen vor. Auf dem Weg zum Patienten rasselt Mondkind strukturiert Anamnese und Befunde herunter. 
Nach einem kurzen Blick auf den Patienten sagt der Chef, Mondkind solle einen Ultraschall für ihn organisieren und den Chef dann informieren. Mondkind telefoniert und rast herum, bevor sie den Patienten dorthin bringen kann. 
Sie ist gespannt, was jetzt passiert. Im Sonobefund, den die Herzklinik gestern geschrieben hatte, stand nichts von einer Gallenblasenwandverdickung und im Labor waren auch lediglich die Entzündungsparameter erhöht. 
„Also Frau Mondkind, jetzt machen wir hier mal ein bisschen Lehre“, sagt der Chef und tastet nochmal den Bauch des Patienten ab. „Was wir hier vor uns haben, ist ein Peritonismus. Jetzt bin ich mal gespannt, was wir hier im Sono sehen.“
So spektakulär, wie der Chef sich das erhofft hatte, ist es nicht. Die Gallenblasenwand ist ödematös so eindrücklich verdickt, dass man im Prinzip gar nicht weiter suchen muss. 
„Ich rufe die Chirurgen an...“, sagt der Chef.  
Er sieht die Unterlagen durch, die Mondkind ausgefüllt hat, damit die Innere der Chirurgie alles richtig übergibt. 
„Das haben Sie sehr gut gemacht“, lobt er Mondkind. „Wenn Sie nicht unbedingt in die Neuro wollten, würde ich Ihnen hier einen Job anbieten. Die Innere ist auch sehr schön…“
Mondkind weiß gar nicht, was sie dazu sagen soll. Ob er das wohl wirklich ernst meint… ? So kompliziert war der Fall nun wirklich nicht… 

Wieder zurück in der Notaufnahme stapeln sich die Patienten schon wieder.
„Da kam gerade jemand mit dem Rettungswagen wegen Kreislaufkollaps. Das hat er aber sicher nicht. Ich glaube, das ist eher etwas Psychisches“, erklärt eine Kollegin.
„Das mache ich“, sagt Mondkind. „Wo ist der Patient…?“
Als Mondkind die Tür aufschiebt, rutscht ihr das Herz doch ein Stück herunter. Auf der Trage liegt ein sichtlich mitgenommener Mann mittleren Alters, auf je einer Seite stehen die Tochter und die Ehefrau des Patienten mit Tränen in den Augen. 
Das wird nicht einfach. 
Mondkind muss auf jeden Fall eine gute Gesprächsatmosphäre herstellen. Sie schiebt den Angehörigen einen Stuhl hin und holt sich selbst auch noch einen Hocker. 
Und dann spricht sie den Patienten an und fragt ihn, was ihn her führe. Die Ehefrau beginnt zu reden. „Nein, nein, ich kriege das schon hin…“, sagt der Patient hyperventilierend und weinend. 
„Vielleicht lassen Sie Ihren Mann erstmal sprechen, wenn er das gern möchte“, sagt Mondkind. 
Es ist offensichtlich, dass der psychische Zustand und das Gesagte nicht zusammen passen, was Mondkind dann auch vorsichtig anmerkt. 
„Wir machen uns einfach solche Sorgen um ihn – deshalb haben wir heute auch den Rettungsdienst gerufen“, merkt die Ehefrau an.
„Das ist doch gar nicht nötig, dass sich so viele Leute um mich bemühen – ihr habt doch alle viel Wichtigeres zu tun…“, wiegelt der Patient ab.
„Ich denke, dass es sehr richtig von Ihrer Familie war, Hilfe zu holen. Und jeder Mensch in einer Notsituation ist in einer Notaufnahme richtig aufgehoben. Eventuell glauben Sie mir das gerade nicht, aber ich beschäftige mich wirklich gern mit Ihnen“, sagt Mondkind. Und letzteres meint sie sehr ernst. Sie weiß, dass einigen Kollegen schon wieder der Geduldsfaden mit dem Patienten gerissen wäre, aber sie möchte die Situation für alle Seiten zufriedenstellend klären. 
Mondkind verschafft sich einen groben Überblick über die Stressoren des Patienten und lässt mit seiner Zustimmung auch die Angehörigen zu Wort kommen, die berichten, dass der Patient auch immer wieder berichtet habe, dass es doch besser wäre, er wäre nicht mehr da.
Diese Frage hat Mondkind noch nie gestellt. Aber sie weiß, dass sie hinsichtlich des weiteren Procedere mit dem Patienten sehr wichtig ist und sie weiß auch, dass sie selbst immer sehr lange vergeblich auf die Frage gewartet hat. 
„Wie sieht das im Moment aus mit Gedanken, sich etwas anzutun?“, fragt Mondkind.
Er weint. Und die Angehörigen weinen mit. Und Mondkind muss sich zusammen reißen. 
„Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll“, sagt der Patient. 
„Ich glaube“, beginnt Mondkind, „dass wir nicht das richtige Krankenhaus sind, um Ihnen zu helfen. Ich denke, dass hier Fachleute gefragt sind. Was halten Sie davon, wenn wir Sie in ein Krankenhaus mit einer psychiatrischen Abteilung verlegen?“
Das möchte der Patient nicht. Er möchte seine Familie nicht alleine lassen, die würden ihn doch brauchen und er müsse zur Arbeit und sich darum kümmern, dass das Bad gefliest werde. 
„Aber sein Sie mal ehrlich zu sich selbst“, sagt Mondkind, „in dem Zustand können Sie nicht arbeiten und kein Bad fliesen. Und ich denke Ihre Familie wäre Ihnen im Gegenteil sogar sehr dankbar, wenn Sie sich Hilfe holen würden. Es würde sie eher entlasten…“
Die Ehefrau nickt. 
„Aber nur für ein paar Tage und nur, wenn ich entscheiden darf, wann ich wieder gehe…“
„Wenn Sie freiwillig hinein gehen, können Sie sich auch selbst entlassen“, sagt Mondkind. Sie hofft inständig, dass sie das nichts Falsches erzählt, aber so hat man ihr das auch immer erklärt. 
Mondkind läuft zu ihrer Kollegin, erläutert kurz den Fall und  erklärt, dass sie den Patienten gern verlegen würde. 
„Du kannst doch nicht einfach einen Patienten verlegen. Da müssen wir den Oberarzt anrufen und einen Brief schreiben. Der bleibt bei uns und bekommt ein paar Infusionen…“
„Was wollen wir denn bei dem mit Infusionen?“, fragt Mondkind. „Der braucht einen Psychiater.“
„Dann ruf Du den Oberarzt an und kläre das…“, sagt die Kollegin nicht erfreut. 
Der Oberarzt kommt ein paar Minuten später. Mondkind erklärt ihm nochmal alles und er redet auch nochmal kurz mit dem Patienten. „Ich sehe das wie Sie“, sagt er zu Mondkind. „Ich frage in der Psychiatrie nach, ob sie ihn nehmen.“ 
Ein paar Minuten später hat er das okay. „Dann brauchen wir noch einen Brief…“ 
„Mache ich…“ sagt Mondkind. 
Und jetzt tippt sie irgendeinem Kollegen eine Anamnese, einen groben psychiatrischen und einen internistischen Befund. Und sie schreibt der Ehefrau die Adresse und Telefonnummer von eben dem Krankenhaus auf, in das Mondkind laut ihrer Therapeutin im Notfall auch soll. 
Soweit sind sie gar nicht auseinander. Weißkittelträger und deren Patienten. 
Mondkind wünscht Ihrem Patienten alles Gute. Und sie weiß, dass er am Anfang von einem sehr langen Weg steht. Aber den ersten Schritt ist er gegangen. Freiwillig. Und jetzt müssen die Kollegen ihn auffangen. 

Mittagspause. Die gibt es bei Mondkind selten, aber jetzt hat sie eine Pause wirklich nötig. 
Zusammen mit zwei Kollegen von der Station, dem Pflegepraktikanten, den sie letzte Woche kennen gelernt hat und der Oberärztin der Palliativstation gehen sie essen. 
Und selbst in der vierten Woche noch steht die Frage im Raum, wie Mondkind in dieses Kaff gekommen ist. „Und ehrlich gesagt möchte ich bleiben“, schließt Mondkind. „Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, als nochmal ein paar Wochen zurück zu gehen, um das Studium fertig zu machen und dann zurück zu kommen. Und ich habe Angst, dass es nicht klappt. Dass die in der Neuro keine Stelle frei haben oder ich irgendetwas im PJ so verbockt habe, dass sie das für keine gute Idee halten.“
„Mondkind… - die haben hier so viel Personalmangel; auch in der Neuro“, beginnt die Oberärztin, „Du hast schonmal den Vorteil, dass Du sehr gut Deutsch kannst, weil Du nicht aus dem Ausland bist. Und außerdem hast Du – was ich gehört habe – echt etwas drauf. Du hast den Job da schon jetzt sicher, wirklich…“
Ob sie wohl Recht hat…?

Der Tag geht weiter. 
Der Chirurg übergibt Mondkind noch einen Patienten, den er mit Verdacht auf eine Blinddarmentzündung aufgenommen hat, aber die will er ausgeschlossen haben. Jetzt muss der Patient internistisch betreut werden. 

Außerdem wartet in der Notaufnahme noch eine Familie. Mutter, Vater und eine 15 – jährige Tochter. Bei der Mutter wurde vor drei Wochen Krebs diagnostiziert, beim Vater vor wenigen Tagen. 
Mondkind will nicht wissen, wie groß die Sorge der Eltern um die Tochter sein muss. Und umgekehrt, wie groß die Sorge der Tochter um die Eltern sein muss. 
„Mit Feingefühl“, ermahnt die Schwester die Ärzte. 
Mondkind zieht sich zu einem anderen Fall in der Notaufnahme zurück. Das kann sie jetzt wirklich nicht.

Ihr letzter Fall an diesem Tag ist eine beinahe hundertjährige Frau aus dem Pflegeheim. Man habe dort den Verdacht, dass sie im Darm bluten könne. 
Mondkind ist ein bisschen verzweifelt. Die Dame lebt in ihrer eigenen Welt. Vaskuläre Demenz, Morbus Fahr, Depression, Schizophrenie und Epilepsie sind nur einige weniger ihrer Latte an Diagnosen, die die Frau gedanklich irgendwo im Nirwana versacken lassen. 
Sie ist so unruhig – man kann nicht mal ein EKG schreiben, geschweige denn irgendetwas untersuchen. Ansprechbar ist sie überhaupt nicht. Und das Pflegeheim hat nichts mitgegeben außer der Verdachtsdiagnose und einen Medikamentenplan. 
Eigentlich würde Mondkind die Frau ja in Ruhe lassen, aber wenn sie jetzt im Krankenhaus ist, dann werden die Ärzte etwas von ihr hören wollen. Also ist wohl eine Magen- und Darmspiegelung angezeigt, aber so ganz ohne dass es möglich gewesen wäre sie zu untersuchen…?
Mondkind ruft den Oberarzt an, der ihr sagt, dass sie es genauso machen werden. 
Mondkind kümmert sich noch darum, dass die Patientin auf die Station gebracht wird und dann ist es halb 5. Feierabend. 

Kaum, dass sie die Tür aufgeschlossen und den Schlüssel auf die Küchenzeile vor die Kaffeemaschine geworfen hat, überfällt sie die Schwere. 
Sie versteht das überhaupt nicht. Das PJ läuft doch. Auch wenn sie es nicht so annehmen kann, so gibt es doch viele Leute, die ihr immer wieder sagen, dass sie ihre Sache gut macht. 
Und sie ist an dem Ort, an dem sie immer sein wollte.
Was soll sie jetzt machen… ? Die Krankheit ist ja nun nicht gerade rational. Und es ist ja auch nicht das PJ, das sie so fertig macht oder die lange Arbeitszeit. Es sind die zwischenmenschlichen Dinge, die Angst vor der Zukunft, die Angst Dinge die sie hier hat, wieder zu verlieren. 
Zu warten bis sie hier komplett dekompensiert, wäre ziemlich bescheuert. Mondkind hat im Park gehalten und spaßeshalberweise nochmal in die Mails geschaut. Aber da kam nichts mehr von ihrer Therapeutin. Und organisieren kann sie die Reise nicht, bis sie vernünftiges Internet hat. Ein Kollege kam letztens auf die Idee, dass jemand sie vielleicht nur ein Stück mitnimmt und es von dort auch eventuell bessere Verbindungen gibt. 
Ihr Oberarzt hat Mondkind erklärt, sie soll sich melden, bevor sie vollkommen drin hängt. Das wäre wahrscheinlich so ziemlich jetzt. Allerdings ist das mal so die Frage, ob er wirklich damit rechnet, dass Mondkind irgendwann auf ihn zukommt.

Mondkind

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