Notaufnahme #5

Heute hat Mondkind wieder das Gefühl, sich zu sehr blamiert zu haben. 
Das sind eben genau die Tage, die es auf der Neuro nicht mehr geben sollte. 

Es ist wieder viel los in der Notaufnahme. Mondkind wird zwischen den Patienten hin und her gescheucht. Auch die Schwestern kommen nicht mehr hinterher und deshalb ist Mondkind mit Nadeln legen, Blut abnehmen, Anamnesen schreiben und Aufklärungen machen beschäftigt. Nebenbei betreut sie auch noch die geplanten Aufnahmen in der zentralen Patientenaufnahme. 

Die Kollegin kommt ab und an vorbei und will etwas von ihr wissen. Mondkind hat nämlich bei der Oberärztin gestern aufmerksam zugeschaut, wie man mit dem Ultraschallgerät das Volumen der Harnblase berechnen kann. Das ist ja nicht schwer. Man muss nur die richtigen Schnittebenen einstellen und ausmessen und dann muss man eben wissen, wo der Knopf für die Volumenberechnung ist. 

Irgendwann schnappt sie plötzlich die Kollegin zur Seite. „Der Oberarzt kommt Mondkind…“ 
Und dann steht Mondkind vor einem Patienten, der einen Harnverhalt hat. Mittlerweile liegt ein Katheter und der Patient ist von seinen Schmerzen entlastet. Mondkind sieht den Patienten gerade zum ersten Mal. 
„Haben Sie die Prostata ausgemessen?“, fragt der Oberarzt.
„Nein… ?“, gibt ihre Kollegin zurück. 
Schwerer Fehler. Die Größe beurteilen könne man bei gefüllter Harnblase am Besten. Und das ist leider ein Versäumnis, dass man jetzt gerade nicht mehr rückgängig machen kann. 
„Haben Sie den PSA – Wert bestimmt?“, fragt der Oberarzt weiter.
„Nein…“, antwortet die Kollegin. 
„Warum nicht…?“, kommt zurück. „Was sagt der PSA – Wert…?“
Mondkind wird angeschaut. „Naja…“, entgegnet Mondkind. Sie ist sich unsicher, ob die Diskussion jetzt wirklich vor dem Patienten sein muss. Aber sie möchte auch nicht so tun, als sei sie verloren im Tal der Ahnungslosen. „Also das ist ja ein Tumormarker…“, sagt sie schließlich. 
„Genau… richtig“, sagt der Oberarzt.
„Na dann nehmen wir eben nochmal kurz Blut ab…“, sagt ihre Kollegin. 
Nein… - denkt sich Mondkind. Die Diskussion hätte hier beendet sein können… 
„Was passiert, wenn wir das jetzt machen?“, fragt der Oberarzt. Der Blick wieder auf Mondkind. 
„Naja – wenn man in der Gegend manipuliert, steigen die Werte an und sind diagnostisch nicht mehr verwertbar. Und da er jetzt einen Katheter hat…“, sagt sie. 
Der Oberarzt stellt fest, dass der Patient schon ein Medikament für die Prostata einnimmt. Aber vielleicht brauche er noch ein Zweites.
„Welches denn?“, fragt die Kollegin. 
„Es gibt nicht nur ein Medikament für die Prostata“, entgegnet der Oberarzt.
„Also ich kenne nur eins“, entgegnet die Kollegin. 
Die Blicke wieder auf Mondkind. Sie ist so aufgeregt, dass sie sich nicht ganz sicher ist. Es gibt Finasterid und Fenistil. Eines ist ein Medikament gegen allergische Reaktionen, das andere für die Prostata. Wenn Mondkind jetzt das Falsche nennt, haut er ihr das wahrscheinlich um die Ohren. Mondkind meint, dass es Finasterid sei, sagt aber lediglich, dass es da noch eine zweite Medikamentengruppe gibt, sie das Medikament aber gerade nicht auf dem Schirm habe. 
„Finasterid. Haben Sie davon schon einmal etwas gehört?“, fragt der Oberarzt. 

Wir fassen zusammen. Ziemlich beschissen gelaufen….
Mondkind versucht sich damit zu beruhigen, dass man das Medikament ja nun wirklich hätte nachschlagen können. Solange man weiß, dass man dem Patienten zwei Präparate angedeihen lassen kann, ist doch alles gut.

Später am Nachmittag wird ein psychisch dekompensierter Patient nach einem Personalgespräch angekündigt. Der Patient ist schwer führbar und irgendetwas zwischen verzweifelt und aggressiv. Die Schwester holt sich zwar einen Stuhl und setzt sich zu ihm, aber er sagt nur, dass er jetzt keinen Small – talk wolle und wesentlich größere Probleme habe. 
Die Sanitäter haben sie über die Hintergründe auch unterrichtet. Es ist da wirklich auch bewusst von der Seite der Patienten etwas schief gelaufen, das man einfach nicht entschuldigen kann. Da gibt es auch in der Tat nicht viel zu sagen. 
„Sie müssen dazu jetzt einfach stehen und versuchen das Beste daraus zu machen“, sagt die Schwester.
Und dann kommt seitens des Patienten die Suizidankündigung, die aus dem Fall jetzt wieder eine größere Nummer macht.
„Dann können wir Sie natürlich nicht einfach gehen lassen. Wir haben eine Verantwortung. Mondkind, bleibst Du bei dem Patienten?“, fragt die Schwester. 
Mit der Zeit findet Mondkind doch einen Zugang zu dem Patienten. „Sitze und horche…“, empfahl letztens die Palliativ – Oberärztin zur Gesprächsführung in schwierigen Situationen. Mondkind horcht… und sagt doch etwas dazu, als er fertig ist. 
„Ich kann Ihre Verzweiflung nachvollziehen“, erklärt Mondkind. „Aber es gibt eine Zukunft. Natürlich ist das jetzt das zentrale Thema bei Ihnen und wahrscheinlich müssen Sie jetzt einfach in ganz kleinen Schritten denken. Es wird vieles anders werden, aber es wird weiter gehen. Und irgendwann können Sie vielleicht zurück blicken und die Ereignisse anders bewerten, weil sich auch hinter jedem noch so schweren Rückschlag neue Möglichkeiten finden. Vielleicht haben Sie in einiger Zeit den besten Job, den man sich wünschen kann. Den es ohne das Ereignis jetzt nicht gegeben hätte. 
Aber um dort anzukommen müssen Sie das Jetzt überstehen. Und das ist schwierig. Aber man darf Hilfe annehmen.“
Mondkind hat Angst, dass es sich anhört wie irgendeine dämliche Floskel. Aber der Patient beruhigt sich etwas. 
Im Hintergrund agiert ihre Kollegin und bittet die Psychiatrie den Patienten aufzunehmen. Der Patient wird gefragt, ob er freiwillig hingeht, aber er verneint das. „Ich informiere die Polizei“, raunt Mondkinds Kollegin ihr zu.
 „Ich gehe jetzt…“, kündigt der Patient ein paar Minuten an und macht sich an seinem Zugang zu schaffen. „Sie warten jetzt nochmal kurz, wir klären das jetzt gleich gemeinsam“, sagt Mondkind und legt die Hand auf seine Hand am Zugang.
„Sie stressen mich langsam wirklich“, sagt Mondkind in der Hoffnung ihn vielleicht noch über die Schiene einfangen zu können. „Das tut mir leid….“, sagt der Patient. 
Zwei Minuten später zieht er sich den Zugang wirklich und obwohl Mondkind sich in die Tür stellt, rennt er sie einfach um und spaziert aus der Notaufnahme. Festhalten darf Mondkind ihn ja nicht. Das ist Aufgabe der Polizei – die in dem Fall leider zu langsam ist.
Es nützt ja nichts. Mondkind schnappt ihr Telefon und ruft die Kollegin an, die her gerast kommt. 

Die Polizei wird wieder angerufen und da Mondkind die Sitzwache übernommen hat, muss sie Rede und Antwort stehen. Die Bekleidung des Patienten wird beschrieben, in welche Richtung er los gelaufen ist und was genau er gesagt habe, wollen die Beamten wissen. 

Mondkind macht sich Vorwürfe. Zwar hatte sich der Patient ein wenig beruhigt, aber erst nachdem die Psychiatrie ins Spiel kam. Vielleicht hat er gedacht, er kommt noch um die Einweisung herum, wenn er jetzt vorgibt, sich im Griff zu haben. Man weiß es nicht. Er wäre nicht der erste Patient, der das so macht. 
An welcher Stelle hätte Mondkind was anders machen können?

Der Tag geht weiter und kurz vor Feierabend ruft die Polizei nochmal auf dem Telefon des diensthabenden Arztes an, das Mondkind zu dem Zeitpunkt schon los ist. Die Beamten wollen nochmal die Studentin sprechen. Der Patient wurde gefunden und wird gerade in die Psychiatrie gefahren. 
Mondkind ist erleichtert. 

Im Büro gibt es, bevor Mondkind geht, noch eine kleine Diskussion. Mit der Psychiatrie hat man hier mehr Berührungspunkte, als Mondkind so geglaubt hat. Gerade haben sie auch eine Patientin mit schizoaffektiver Störung auf der Station, die nun aber auch eine Lungenentzündung hat, die die Kollegen in der Psychiatrie aber nicht in den Griff bekommen. 
„Na wenn sie sterben will, dann soll sie sterben…“, sagt eine Kollegin. 
„Die ist gerade nicht Herr ihrer Sinne“, entgegnet Mondkind. „Sie kann doch da auch nichts für…“
Es kann jeden treffen, denkt Mondkind bei sich. Niemand ist sicher vor solchen Erkrankungen. Es sind die Patienten, die uns relativ viel Zeit nehmen, weil sie unkooperativ sind, sich die Nadeln ziehen, das Essen verweigern und ab und an eben auch die Psychose sehr im Vordergrund steht. Aber keiner von denen kann etwas dafür, keiner sucht sich das aus. 
Mondkind findet, dass den Patienten hier zu wenig Respekt gegenüber entgegen gebracht wird. Natürlich ist das schwierig mit dem geringen Personalschlüssel. Aber teilweise ist es wirklich unmenschlich.

Und wenn sie an die Notaufnahme denkt… in den letzten Tagen ist dort sehr viel los. Und es gibt nicht wenige, die das die Patienten spüren lassen. Mondkind fragt sich, ob man so wird mit der Zeit. Die Meisten arbeiten schon viele Jahre hier. Machen den Dauerstress schon so lange mit. Stumpft man irgendwann ab? Ist man irgendwann nicht mehr so ambitioniert wie Mondkind, die versucht den Patienten auch dann noch freundlich und zugewandt zu begegnen, wenn sie eigentlich schon im Feierabend ist…?

Bei Mondkinds eigener Psychologen – Aktion ist übrigens noch nichts raus gekommen. Und Mondkind bezweifelt allmählich, dass es das noch wird. 
Der Neuro – Oberarzt möchte auf dem Laufenden gehalten werden und ist ab morgen wieder zugegen. Aber was soll Mondkind ihm sagen? Dass jeder Mondkind allein aufgrund ihrer nur relativ kurzen Aufenthaltsdauer hier ablehnen wird, war vorher ja schon die Sorge. Und es ist halt auch wirklich blöd. Leider sind Psychologen ja so überlaufen, dass sie sich die Leute raus suchen können. 
Mondkind bräuchte halt so etwas wie die Ambulanz in ihrer Studienstadt. 
Eigentlich wäre es auch mal wieder Zeit, persönlich in die Neuro zu laufen… 
Und immer noch ist Mondkind erstaunt, wie sie es schafft mit psychisch völlig dekompensierten Patienten umzugehen. Auch wenn es schon anstrengend ist. Manchmal ist es weniger die Thematik, die Mondkind da an ihre Grenzen bringt, sondern mehr die Reaktion des Umfeldes. 
Ob es aus Angst ist, dass man mal in derselben Situation landen könnte oder ob das für einige Menschen wirklich so fremd ist, weiß Mondkind nicht. 

Mondkind

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