Stationswechsel

Das Diensttelefon klingelt.
Mondkind zieht es ein Stück aus ihrer Brusttasche hoch und schaut, wer das etwas von ihr will. Die Oberärztin…
„Mondkind, wo bist Du gerade…?“, fragt sie.
„In der Notaufahme“, gibt Mondkind zurück, während sie mit dem Telefon am Ohr und dem Patienten noch ein „Entschuldigung“ entgegen nuschelnd das Zimmer verlässt.
„Na, hast Du heute schon viele Patienten aufgenommen?“, fragt sie.
Wie soll Mondkind die Frage interpretieren? Ja, heute war es mal relativ ruhig in der Notaufnahme. Und das dringt scheinbar schneller an Oberarztohren, als wenn die Aufnahme aus allen Nähten platzt.
„Naja, geht so…“, gibt Mondkind zurück.
„Du ich war heute oben in der Neuro“, sagt die Oberärztin, „und habe da ein bisschen mit Deinem Oberarzt gequatscht, zu dem Du so einen guten Draht hast…“
„Ja, ohne ihn wäre ich in der Tat nicht hier“, erwidert Mondkind.
„Also wir haben uns gedacht, dass Du vielleicht ab nächster Woche mal auf die Innere II gehst. Damit Du auch noch ein bisschen was lernst, solange wie Du hier bist. In der Notaufnahme bist Du ja immer sehr auf Dich selbst gestellt und kannst vielleicht auch nicht so viel lernen. Die Kollegin oben ist da sehr routiniert; die kann Dir mit Sicherheit noch etwas beibringen. Und Du kannst ja vielleicht auch mal in die Funktionsbereiche gehen…“
„Ja…“, sagt Mondkind etwas gedehnt, „können wir machen.“
Wahrscheinlich hat der Neuro – Oberarzt erklärt, wie das PJ in der Neuro abläuft. Dass es da festgesetzte Rotationspläne gibt, dass man die PJler nicht gleich ins kalte Wasser schmeißt und dass sie nach Möglichkeit auch etwas lernen sollen.
So ganz passt es Mondkind trotzdem nicht. Jetzt hat sie sich gerade in der Notaufnahme eingelebt, kennt die Schwestern und die Ärzte dort und weiß, was sie sich selbst zutrauen kann. Und jetzt soll sie wieder weiter gehen, wird in den Alltag eines anderen Kollegen geschmissen, mit anderen Ansprüchen und einem anderen Tagesablauf.
Wenn das Innen schon nicht stabil ist, muss wenigstens das Außen stabil sein, ist immer Mondkinds Gedanke. Aber in so einem Praktikum ist das Außen meist nicht sonderlich stabil. (Insofern sind Mondkinds ständige Ortswechsel auch ein bisschen kritisch zu hinterfragen).
Jedenfalls… - auch wenn der Neuro – Oberarzt das sicher gut meint, aber auf Mondkinds Gegenliebe trifft es nicht.
Aber die Oberärztin hält ja scheinbar doch etwas von Mondkind und dass Mondkinds Neuro – Oberarzt das jetzt mal von der Kollegin gehört hat, macht Mondkind auch ein bisschen stolz.
„Es ist ja schon beängstigend, dass da zwei Oberärzte wahrscheinlich irgendwo auf der Stroke herum sitzen, einen Kaffee trinken und über mich reden. Und ich weiß nicht mal, was da gesagt wurde“, erklärt Mondkind einer Schwester nach dem Telefonat.
„Naja“, gibt die zurück, „Du bist hier ein Unikat. Du bist gut und Du kannst Deutsch – so jemanden will hier jeder haben…“
Und obwohl es immer wieder prophezeit wird, dass Mondkind hier eine Stelle bekommen wird, hat sie dennoch Bauchschmerzen. Im Dezember ziehen alle Kliniken des Ortes außer der Psychosomatik (die hat es genau andersherum gemacht) hinauf auf den Berg. Mondkind versteht nicht, warum dieses Krankenhaus und diesen Campus keiner kennt. Für Monkind ist es so perfekt. Kein großer Uni – Betrieb, in dem alle – wie Mondkind immer das Gefühl hat – noch höheren Zielen entgegen streben. Doktorarbeit gehört sowieso nebenbei gemacht und dann bitte schnell Oberarzt werden und auch noch eine Professur bekommen. Das ist nichts für Mondkind.
Und dennoch ist es hier eine Klinik mit einem weit überregionalen Einzugsgebiet und mit – zumindest betrifft das die Neuro – einem breiten Behandlungsspektrum, sodass dieser Ort dennoch viele Chancen der Weiterentwicklung bietet.
Mondkind versteht nicht, warum hier keiner für das PJ her möchte, oder um hier zu arbeiten. Vielleicht ändert sich das mit dem Umzug der Klinik. Aber dann ist Mondkind ja immer noch nicht fertig mit dem Studium.
Und sie kann es sich nicht vorstellen, in ihrer Studienstadt mit der Arbeit zu beginnen. Irgendwie möchte sie diesen Ort hinter sich lassen.
Mondkind ist allmählich dauermüde. Und sie hat Angst, dass sich das irgendwann doch im Krankenhaus bemerkbar macht.
Sie kämpft ein bisschen verzweifelt, gegen die immer lauter werdenden negativen Gedanken. Mondkind hat keine andere Chance, als das irgendwie auszuhalten.
Alles das, was im Hinblick auf ihre psychische Verfassung mal möglich erschien, ist es nicht.
Mondkind hat mittlerweile herausgefunden, dass ihr Psychiater gar nicht mehr in der Ambulanz arbeitet und dass es derzeit keine Vertretung gibt. Also kann Mondkind auch wenn sie Mitte Juli in die Studienstadt fährt, keiner ein Rezept unterschreiben. Mondkind hat drei Mal nachgefragt, ob die das jetzt wirklich ernst meinen. Sie möchte ja gar kein Arztgespräch – jetzt etwas an den Medikamenten ändern, wäre sowieso blöd – aber es ist ja auch unmöglich eine Unterschrift auf einem Rezept zu bekommen.
Mondkind versucht jetzt noch die zweite Ambulanz des Uni anzurufen und ansonsten wird ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich hier einen Hausarzt zu suchen. Wobei das immer so eine Sache ist. Von Psychiatern kann man ein gewisses Grundverständnis für psychische Erkrankungen ja erwarten – von Hausärzten nicht unbedingt. Und dann beim ersten Besuch so eine Geschichte…
Jedenfalls… - versteht Mondkind es gerade nicht. Es passt doch im Moment alles. Mondkind ist dort, wo sie sein wollte, sie fühlt sich im PJ akzeptiert, sie hat super liebe Kollegen.
Und dennoch legt sich die Schwere so arg auf die Tage, die Suizidgedanken werden lauter (obwohl Mondkind weiß, dass sie das ihrem Neuro – Oberarzt nicht antun kann. Zwar hat der überhaupt nichts damit zu tun und ist – im Gegenteil – eine große Stütze für Mondkind, aber sie möchte auf keinen Fall, dass er sich in irgendeiner Hinsicht mitverantwortlich fühlt und ausschließen kann Mondkind das nicht).
Aber Mondkind wusste um all diese Umstände. So lange hat sie die Angst davor, in der Prüfungsvorbereitungszeit auf Trab gehalten. Zwar schien es am Ende eine Lösung zu geben, was Mondkind die Sorgen etwas genommen hat, aber wenn es darauf ankommt…
Und vielleicht ist es jetzt auch okay, dass es so ist. Mondkind muss keine Angst mehr davor haben, denn sie ist ja mittendrin. Und sie überlebt jeden Tag irgendwie. Steht jeden Tag auf Station. Hat wieder dieses merkwürdige Gefühl beim Umziehen morgens zu einer Person zu werden, die sie gar nicht ist. Und hat dennoch die Hoffnung, dass das hier ein Ort ist, an dem es irgendwann besser werden kann...
Mondkind

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