Looking back...

Ich habe viel nachgedacht in den letzten Tagen. Über einen Weg, der am Anfang nur eine Idee war, an dem ich auch immer wieder gezweifelt habe, aber den ich am Ende doch nicht aufgegeben habe. Und irgendwie hatte ich das Bedürfnis aus all den Stationen dorthin, die ich in den letzten Tagen nochmal gedanklich passiert bin, nochmal einen Text zu schreiben. 
Und wer jetzt Lust hat, Teil dieses langen Weges zu werden, der holt sich vielleicht lieber noch einen Kaffee oder einen Tee, bevor er sich mit dem Laptop oder Handy in eine ruhige Ecke verkrümelt und mit mir zurück zu den Anfängen geht. 

***

Sommer 2015
Das sechste Semester neigte sich dem Ende. 
Nach den Prüfungen wartete die nächste Famulatur auf Mondkind. Zu dem Zeitpunkt ahnte sie, dass sie nie würde als Ärztin arbeiten können – selbst wenn sie das Studium noch übersteht. Sie sollte einfach keinen Beruf im sozialen Bereich ausüben, wenn sie so empfindliche Antennen hat. Ihre erste Famulatur hatte sie in der Anästhesie verbracht. Die Tage im OP, in denen man die Spannung in der Luft beinahe hätte zerreißen konnte, hatten sie an ihre Grenzen gebracht. Jeden Morgen hatte sie die Musik im Auto ganz laut aufgedreht und hatte mit so vielen Tränen in den Augen vor dem Steuer gesessen, dass sie die Straße kaum gesehen hatte. Jede Faser ihres Körpers hatte sich geweigert, noch einmal auch nur einen Fuß in dieses Krankenhaus zu setzen. Und dennoch ist sie jeden Morgen dort erschienen. 
Am letzten Tag kam eine junge Ärztin auf Mondkind zu. Sie hatte mitbekommen, dass Mondkind sich dort nicht wohlgefühlt hatte und entschuldigte sich bei Mondkind – dabei konnte sie allein ja gar nichts dafür. Und sie gab Mondkind noch einen Rat mit auf den Weg: „Wenn Du wirklich etwas lernen willst Mondkind, dann musst Du ins kardiovaskuläre Praktikum gehen. Das war wirklich die beste Zeit in meinem ganzen Studium.“ 
Mondkind schrieb sich den Namen dieses winzigen Ortes, von dem sie noch nie etwas gehört hatte, auf einen Zettel und ließ ihn in der Tasche des Kasacks verschwinden. Beim Umziehen hatte sie den Zettel vergessen, aber sie erinnerte sich noch an den Namen des Praktikums und nach kurzer Suche wurde sie fündig und schrieb kurzerhand die Sekretärin an um zu fragen, wann das nächste Praktikum ist und was sie für die Bewerbung tun muss. Und es stellte sich heraus, dass das nächste Praktikum erst in rund einem Jahr sein würde - Mondkind hatte es knapp verpasst.

Damals war Mondkind noch bei einer Beratungsstelle gewesen. Therapie konnte man das eigentlich nicht nennen. Ihre Therapeutin und sie haben sich im Schnitt alle drei Monate mal gesehen – und das auch nicht regelmäßig. Ab und an haben sie sich Mails geschrieben; allerdings blieben nicht wenige von Mondkinds Mails unbeantwortet. Aber die Therapeutin hatte mitbekommen, dass es Mondkind in der Famulatur sehr schlecht gegangen war und hatte für die Hausarzt – Famulatur eine Freundin gefragt, ob sie Mondkind nimmt. Da war zumindest einigermaßen gesichert, dass auf menschlicher Ebene ein bisschen Rücksicht auf Mondkinds Antennen genommen wird. 

Die Situation zu Hause war zu dem Zeitpunkt alles andere als einfach. 
Mondkind wollte mehr Freiheiten. Immer wieder hat sie angesprochen, dass sie ihr Konto selbst verwalten möchte. Dass sie gern ihre Karte hätte, um selbst Geld abheben zu können. Sie wollte die Erlaubnis bekommen die Waschmaschine nutzen zu dürfen, sodass sie ihrer Mutter ab und an helfen konnte und nicht immer einen Monat warten musste, bis ihre Mutter, die alleine mit dem Haushalt überfordert war, dann auch endlich mal die Wäsche gemacht hat. 
Mondkind wollte hin und wieder den Wochenendeinkauf übernehmen, um sich selbst auch mal etwas zu essen aussuchen zu dürfen und nicht immer das essen zu müssen, das im Kühlschrank ist. 
Mondkind war zu dem Zeitpunkt 22 Jahre alt. Andere waren schon längst zu Hause ausgezogen und Mondkind hatte nicht mal die minimalsten Freiheiten. 

Mondkind hat es oft mit Gesprächen versucht. Sie konnte ihre Mutter verstehen. Vor Jahren hatten sie ihren Vater verloren. Dass sie sich trennen – damit hatte keiner gerechnet. Sowohl für ihre Schwester und Mondkind, als auch für ihre Mutter kam das sehr überraschend. 
Mondkinds Mutter wollte nicht auch noch ihre Töchter in die Welt hinaus lassen. Insbesondere, nachdem sie zwei Jahre zuvor mit einer Erkrankung diagnostiziert worden war, die sie früher oder später in die Pflegebedürftigkeit bringen wird. 
Aber das war kein adäquater Weg damit umzugehen. 

Hausarzt – Famulatur. 
Was soziale Situationen angeht, war Mondkind immer schon sehr schüchtern und hatte damit zu kämpfen, sich unzulänglich zu fühlen. Aber es war erträglich und das Team war nett. 
Es war ein heißer Sommer und irgendwann stellte sich das „Sommerloch“ ein. Die Praxis war gähnend leer und die Ärzte, Arzthelferinnen und Mondkind haben die Tage mit einem Wasserglas vor dem Ventilator sitzend verbracht. 
Mondkind ist immer so lange wie möglich in der Praxis geblieben. Was erwartete sie zu Hause schon? Ihre Schwester hatte es ja genauso gemacht. Sie hatte mit ihrer Doktorarbeit begonnen, verließ das Haus morgens um sechs und kam oft erst nach 23 Uhr nach Hause. 

Es war der Sommer, in dem Mondkind rapide an Gewicht verloren hat. In der Praxis war kaum Zeit zum essen. Abends durfte immer erst gegessen werden, wenn alle zu Hause waren – was durch ihre Schwester erst sehr spät war. Ihr Bauch hat das aber am nächsten Morgen regelmäßig mit Schmerzen quittiert. Mondkind kann bis heute nicht zu spät essen. Deshalb verschwand sie dann oft ohne gegessen zu haben im Bett und irgendwie mochte sie die zunehmende Zerbrechlichkeit ihrer selbst. Innen und außen passten wieder mehr zusammen. 

Gegen Ende der Famulatur fühlte Mondkind sich dort pudelwohl. Die ersten Ausläufer des Herbstes ließen grüßen und Mondkinds Körper quittierte das Nichtessen. Auf den Hausbesuchen wurden ihre Fingerspitzen und Lippen meistens blau und sie sah kränker aus, als so mancher Patient. Es war ihr immer sehr unangenehm, aber so warm sie sich auch anzog – es ließ sich nicht verhindern.

Irgendwann nachmittags. Die Praxis hatte schon zu, es musste nur noch Papierkram erledigt werden.
Mondkind saß auf der Untersuchungsliege, die Beine in der Luft baumelnd.
Der Nachmittag, an den Mondkind gefragt wurde, was los ist. Mondkind wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, die Dinge zu leugnen. Ihre Mutter erwartete, dass man überall die perfekte Welt vorspielte, aber das war nicht mehr möglich. Mondkind hatte keine Ahnung, wie sie weiter studieren wollte. 
Und dann hat sie alles erzählt. Und als sie ein Mal angefangen hatte, war es gar nicht mehr so schwer. Und mit jedem Satz, wurde es ein Stück leichter in ihr. 
Die Hausärztin bot ihr an, vorrübergehend bei ihr zu wohnen. 

Mondkind wollte es nochmal versuchen zu Hause. Sie hat versucht zu reden, aber es ging nicht. 
Und dann kam dieser Nachmittag, an dem Mondkind nur mit einem Koffer und einem Rucksack auf dem Bahnhof stand. Auf dem Weg ins Nirgendwo. In eine Zukunft, die sie sich nicht vorstellen konnte. 
Nachgedacht hat sie damals nicht mehr. Als sie ausgezogen war, war sie massiv untergewichtig und eher ein Schatten ihrer selbst. Das war auch damals primäres Ziel in der Ambulanz, in der sie damals seit ein paar Wochen war. Erstmal musste sie zunehmen.

Ein fremdes Haus. Fremde Menschen. Regeln, die sie nicht kannte. Ein Ort, an dem sie gar nicht sein sollte. Und wie die Kinder der Ärztin das fanden, dass da plötzlich ein fremder Mensch bei der Tochter im Zimmer schlief, wusste sie nicht. 
Sie war viel an der Uni in der Zeit. Hat etwas für die Doktorarbeit gemacht. Oder zumindest so getan. 
In Mondkind war noch die leise Hoffnung gewesen, dass es ihre Mutter ein wenig wachrüttelt. Dass sie begreift, dass sie dadurch, dass sie ihre Kinder so unselbstständig sein lässt sie nicht gewinnt, sondern verliert. 
Aber das hat nicht funktioniert. Im Gegenteil… - jeden Tag gab es irgendeine Mail mit Worten, die sie jeden Tag zum Weinen gebracht haben. Mondkind hat viel geweint in der Zeit. Ganze Nachmittage, bis sie vor Müdigkeit eingeschlafen ist. 

Sie brauchte eine Bleibe. Und es stellte sich schnell heraus, dass das in ihrer Studienstadt mit ihren zur Verfügung stehenden Finanzen nicht möglich war – denn auch an Unterhalt und Kindergeld hakte es. Das Studentenwerk war auch keine Hilfe. Der Beginn des neuen Semesters rückte näher und Mondkind musste auch irgendwann mal bei der Hausärztin raus. 
Ihre ehemalige Therapeutin (zu dem Zeitpunkt war sie schon an der Ambulanz der Uni) und die Ärztin hatten sich auch ihre Gedanken gemacht und fanden eine Bleibe für Mondkind bei einer gemeinsamen Freundin. Und auch die kannte Mondkind. Es war damals der verzweifelte Versuch ihrer Therapeutin gewesen, Mondkind abzugeben. Eben diese Freundin war auch Psychologin und hatte mal eine Stunde mit Mondkind zusammen gesessen. Sie war auch ganz nett gewesen, konnte aber nicht mit der Krankenkasse abrechnen. Und das letzte das Mondkind sich hätte leisten können, wäre es gewesen, eine Therapeutin zu bezahlen. Von daher war der Plan schnell vom Tisch gewesen. 
Und jetzt sollte Mondkind bei ihr wohnen. Sie hielt das von Anfang an für eine schlechte Idee, aber eine andere Möglichkeit schien es nicht zu geben. 

Kurz vor dem Semesterstart zog Mondkind um. Zu jemanden, der für eine Vermieterin zu viel wusste. In einen Ort, an dem sie je nach Zugverbindung vier bis fünf Stunden pro Tag mit Pendeln beschäftigt sein würde. 
Mondkind hatte von Anfang an ihre Sorgen dort. Pendeln, Uni und Lernen war ein Pensum, das wirklich irre war. Mehr als vier Stunden war Mondkind pro Nacht meist nicht im Bett und manche Tage hat sie mehr im Halbschlaf verbracht. Freitags war sie generell nur physisch anwesend. 
Und dann hat sie in einer funktionierenden Familie gewohnt. Vielleicht war es, weil sie Familienleben nicht gewohnt war, aber sie kam nicht zurecht dort. Hat ihren Platz nie  gefunden. Manchmal wurde sie mit einbezogen, andere Male aber auch nicht. Manchmal war unerwartet das ganze Haus voller Freunde, wenn Mondkind kam und eigentlich noch lernen wollte und sich das dann als unmögliches Unterfangen heraus kristallisierte. Manchmal war aber auch das Gegenteil der Fall, wenn Mondkind eigentlich dachte, dass jemand da sein müsste. 
Auf der einen Seite wollte man sie mit in den Urlaub nehmen, auf der anderen Seite wusste sie nie genau, was gerade Sache dort war. Weil sie ja nur Mieterin war…
Ob sie mal freie Fahrt in der Küche gehabt hätte oder nicht, war auch immer eine vorher nicht zu beantwortende Frage und irgendwann hat Mondkind das so geregelt, dass sie immer etwas zu essen da hatte, für das man keine Küche brauchte.
Und wie die Kinder es fanden, dass eine Fremde durchs Haus wuselte, wusste Mondkind auch nie genau. Sie hielt sich meistens sehr im Hintergrund und einen Ort, an dem alle Anspannung mal von ihr abfiel, gab es nicht. So sehr Mondkind sich auch bemüht hat, das als „zu Hause“ zu betrachten.
Es gab diese Abende, an denen Mondkind mal alles vergessen konnte. An denen sie alle beim Essen zusammen saßen. Oder irgendwann kurz vor Weihnachten, als sie alle vor dem Kamin auf dem Boden lagen und die Vermieterin allen eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen hat. Oder ab und an, wenn sie auf dem Sofa saßen, man Mondkind gefragt hatte, ob sie auch dazu kommen möchte, und sie alle einen Film geschaut haben. Wenn Mondkind dann so müde war, dass sie vor dem Fernseher eingeschlafen ist, man eine Decke über sie gelegt hat und sie irgendwann so eingepackt wieder aufgewacht ist. 
Das waren diese Momente, in denen irgendetwas in Mondkind das nachgeholt hat, das ihr so lange gefehlt hat. Und die viel ausgeglichen haben.  

Nachdem Mondkind ein halbes Jahr dort gewohnt hat, kamen die nächsten Semesterferien. Mondkind hatte sich beim kardiovaskulären Praktikum beworben. 
Und irgendwie hat manchmal doch alles einen Sinn. Ohne diese furchtbare Anästhesie - Famulatur wäre so viel anders gekommen. 
Es war eine weite Reise mit dem Zug und einem riesigen Koffer gewesen, den Mondkind kaum tragen konnte. Und irgendwann purzelte sie unten in der Stadt am Bahnhof raus. Schaute auf den Berg und sah die Gebäude der Klinik. Noch am Bahnhof hat sie eine der 30 Kommilitonen getroffen, mit denen sie die nächsten Wochen verbringen würde und gemeinsam sind sie den Berg hinauf gelaufen. 
Es war beeindruckend, das erste Mal durch den Eingang zu gehen. Die Glaskuppeln und der überdachte Campus – so etwas hatte Mondkind noch nie gesehen. 
Beim ersten Abendessen sollten sich alle kennen lernen. 
Mondkind wollte hier alles anders machen. Sich integrieren. Etwas mit anderen Menschen machen. Einfach mal normal sein. 
Am ersten Abend waren auch viele Oberärzte da, um sich vorzustellen und Mondkind hat letztens ein Foto von einer Vistenkarte einer Neuro – Oberärztin gefunden. Schon bevor sie in der Neuro war – einfach, weil sie das Fach im vorangegangenen Semester begeistert hatte – hat sie sich also schon mal ein paar Kontaktdaten gesichert. 

Nachdem die Wohnsituation so ambivalent war, hat Mondkind das hier sehr genossen, einfach mal die Tür hinter sich schließen zu können. Ihr eigenes Reich zu haben, in dem sie sicher niemanden stört.  In dem sie sich einen Kaffee kochen kann, wann sie mag. Einen Ort, von dem sie immer weiß, was dort los ist, wenn sie kommt. 
Was für andere zu dem Zeitpunkt vielleicht irgendwie normal war, war für Mondkind absoluter Luxus.

Erste Begegnung mit der Neuro. 
Morgens gegen acht Uhr sollten sie da sein. 
Allein das Gebäude ist wunderschön. Die einzelnen Flügel sind nach den Himmelsrichtungen benannt und in der Mitte sind die Schwesternstützpunkte. Unten in der Eingangshalle befindet sich ein Kiosk und an einer Wand steht sogar ein Klavier, mit dem man alle vier Etagen unterhalten kann. 
Man hat sich dort viel Mühe gegeben. Am ersten Tag haben sie mit einer Oberärztin noch einmal ausführlichst besprochen, wie man eine komplette neurologische Untersuchung macht. An einem anderen Tag haben sie vom Chef höchstpersönlich einen Vortrag über den Schlaganfall gehört. Dort war Mondkind in der Woche auch eingeteilt – auf der Stroke – unit. Und obwohl sie vorher sehr viel Respekt vor dieser Station hatte, war sie doch sehr positiv überrascht und es hat ihr richtig gut gefallen. 
Ein anderen Tag haben sie die Sonografie der extrakraniellen Gefäße in einer kleinen 4 – er Gruppe erlernt. „Wer will mein erstes Opfer sein?“, hatte der Oberarzt damals gefragt, woraufhin sich keiner gemeldet hat. Die Raucher der Gruppe hatten Angst, dass man erste Veschleißerscheinungen der Arterien erkennt und Mondkind hasste das, irgendwem ausgeliefert zu sein. 
„Mondkind…?“, fragte der Arzt. Naja, was blieb ihr übrig… - sie wollten es ja alle lernen und die Oberärzte höchstpersönlich opferten ihre Zeit.

Mondkind hat so viele wunderschöne Situationen in dieser Zeit erlebt. Die für sie so neu waren und für die anderen so normal. Am Wochenende etwas unternehmen. Am Ende des Tages Billiard spielen oder zusammen einen Film schauen. Abends – eigentlich war es verboten, es wusste ein einziger Oberarzt in der Herzchirurgie Bescheid und ermahnte sie, sofort Platz zu machen, wenn es nötig wird – den Sonnenuntergang vom Hubschrauberladeplatz zu beobachten. 
Einfach mal dazu gehören. 
Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hat sie das Leben gefühlt. Gemerkt, wie wunderschön alles sein kann. Und wie unkompliziert die Welt sein kann. Wie nett Menschen sein können. Dass man nicht immer Angst haben muss. 
Und irgendwie gab es diese Zeit in der Mondkind geglaubt hat, dass alles gut werden kann. Dass sie es schaffen kann. Dass sie schon so weit gekommen ist im letzten halben Jahr und dass sie den Rest auch schafft. 
Es war der Zauber dieses Ortes, den sie zum ersten Mal fühlte.

Sie hatte Tagebuch geschrieben wie eine Verrückte, um die Momente einzufangen. Um sie zwischen den Zeilen zu verewigen. Damit sie wieder zurück kann. Denn sie wusste, dass das nicht für immer halten würde. Dass sie zurückgehen würde. 
Und das fing schon am Abend nach ihrer Rückreise an. Es ist einer der tragischsten Tagebucheinträge. Ein paar Stunden zuvor hatte sie noch das Gefühl, dass diese positive Lebenseinstellung vielleicht bestehen bleiben könnte, aber kaum dass sie zurück in ihrem Chaos war, drehte sich alles um. Sie spürte so eine Sehnsucht nach diesem Ort und dieser Zeit, dass es sie fast zerriss. Nachdem sie begriffen hatte, dass sich das Leben lohnt und dass Suizidgedanken lediglich ein Ausdruck temporärer Verzweiflung waren, wurde es alles noch schlimmer.

Wenige Wochen später stand sie im Labor und rief den Oberarzt aus der Neuro an. Sie hatte ihm ja schon am letzten Tag gesagt, dass sie vielleicht zurück kommen möchte.
Danke Schlafstörungen. Dieser letzte Tag im Praktikum, an dem sie eigentlich frei hatten im kardiovaskulären Praktikum, weil die Abschlussveranstaltung am Abend davor erst spät in der Nacht endete, hat so viel geebnet. 
Es war für Mondkind ein beeindruckender Tag. Das erste Mal im Leben erschien sie freiwillig in Dienstkleidung in einem Krankenhaus. Und die Ärzte dort nahmen ihr das Interesse für die Neurologie wirklich ab. 

Bis heute weiß Mondkind nicht, woher diese Faszination für diesen Ort so genau kommt. Vielleicht sind es auch einfach nur die positiven Erfahrungen, die sie sowohl mit den Menschen, als auch mit dem Krankenhaus hier gemacht hat. Und vielleicht ist es auch, weil sie den Ort kennen gelernt hat. Ihre Studienstadt kannte sie ja bis letztes Jahr nicht, weil sie von der Uni aus nie in die Stadt gefahren ist. 

Die zweite Famulatur in der Neuro war wieder eine Verschnaufspause von der Wohnsituation gewesen. Es war anders als das erste Mal, weil sie viel auf sich selbst gestellt gewesen war – es waren eben keine Kommilitonen mehr da. 
Aber so schräg es auch war – man kannte sie noch. Trotz der Tatsache, dass die das letzte Mal 30 Studenten gewesen waren. „Schön, dass Du wieder da bist Mondkind“, begrüßte einer der Oberärzte sie am ersten Tag, mit dem sie damals kaum etwas zu tun gehabt hatte. Es war beeindruckend, dass Mondkind mal sichtbar war. Dass man sich an sie erinnerte. Dass sie nicht das magersüchtige, zerbrechliche Wesen sein musste, sondern dass es ausreicht sie selbst zu sein, um einen Platz zu finden. 
In dem Monat wurde Mondkind immer mehr klar, dass das der Ort ist, an dem sie sein möchte. 
Dass sie für das PJ wieder kommt – darauf hatten sich der Oberarzt und Mondkind am Ende ihrer Zeit dort geeinigt. 

Aber es war noch eine lange Zeit bis hin. Das zweite Mal war sie nur ein halbes Jahr später da gewesen, aber bis zum zweiten PJ – Tertial wären es fast zwei Jahre gewesen. 
Sporadisch – ab und an – haben sich der Oberarzt und Mondkind geschrieben. Mal ging es um irgendwelche Fragen zum PJ, mal ging es um die Doktorarbeit. Und irgendwann sind die beiden vom „Sie“ zum „Du“ übergegangen. 

In der Zwischenzeit hatte Mondkinds Schwester spitz bekommen, dass der Ort dort irgendeine Faszination an sich trägt. Deshalb wollte sie auch ins kardiovaskuläre Praktikum. 
Mondkind hat versucht, viel zu argumentieren. Dass es so viele andere Orte und andere Krankenhäuser gibt. Dass das ein Ort ist, den sie für sich haben möchte. An dem sie mal nicht das Gestern mit ins Heute nehmen möchte. Der isoliert von allem anderen sein soll. Ein anderes Leben. Ohne die Schwere, ohne die Ängste, ohne die Enge. 
Aber ihre Schwester ließ sich nicht erweichen – verbieten konnte Mondkind es ihr nicht - und war auch dort. 
Und berichtete Mondkind. Dass man sie wieder erkannt habe… - fälschlicherweise. Weil ja niemand ahnen konnte, dass sie eine Zwillingsschwester hat, die auch Medizin studiert. Dass die Ärzte auf sie zugekommen sind und gesagt haben: „Schön, dass Du wieder da bist Mondkind.“ Dabei war es gar nicht Mondkind. Nur eine Kopie von ihr und ein wenig schmaler. Und da das für so viel Verwirrung gesorgt hatte, habe  der zuständige Oberarzt wohl morgens mal in der Frühbespechung gesagt, dass ihre Schwester und Mondkind zwei verschiedene Personen sind. 
Mondkind haben diese Tage wehgetan. Zu wissen, dass da jemand durch „ihre“ Neuro streift. Dass jemand auch dort ist, wo sie jetzt gern wäre. „Ihre“ Leute kennen lernt und um sich herum hat. 
Und es hat Mondkind dazu angespornt, noch mehr für eine Zukunft dort zu kämpfen. 

Zwei Jahre vom letzten Praktikum dort bis zum PJ. 
Und dann kam die Klinik dazwischen, als alles schon in trockenen Tüchern war. 
Was würde jetzt aus diesem Ort werden? Würden sie Mondkind auch mit Verspätung nehmen? Würden sie dann vielleicht negativ über Mondkind denken? 
Irgendwann wurde dieser Ort zu einer Illusion. Vielleicht idealisierte Mondkind das auch alles ein wenig. Man nimmt sich am Ende doch immer selbst mit. Was sollte dort so anders sein? 
Irgendwann glaubte sie sich selbst nicht mehr.

Dezember 2017. Nachricht aus der Ferne. 
„Mondkind, wir können jetzt auch Innere…“ 
Und eine Mondkind, die zweifelte. Beinahe acht Monate weg aus der Studienstadt? Wo sie dort quasi wöchentlich die Therapeutin gesehen hat. Wie sollte das gehen? Was ist, wenn Mondkind dort zusammen bricht. Wer würde dann noch da sein? Und doch kann sie ihr Leben nicht um die Ambulanz aufbauen. 
Eine Mail. Mondkind hat in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass eine gewisse Offenheit nicht schadet. Voran die Bitte, dass das Gesagte zwischen dem Oberarzt und Mondkind verbleibt. Und dann die Erklärung, warum Mondkind so lange krank war, sich das Examen verschoben hat und wo bei acht Monaten Abwesenheit der Hase im Pfeffer begraben liegt.
Eine Antwort, die Mondkind zu Tränen rührte. Er bedankt sich für Mondkinds Vertrauen, hat sich aber so etwas Ähnliches schon gedacht. Man spüre ihre Sensibilität, aber auch ihre Stärke und ihren Willen. Er ermutigt sie, dass sie die Problematik nicht abhalten solle, dass er sich - wenn es sein muss - schon etwas einfallen lässt und dass er keine Zweifel hat, dass Mondkind es schaffen kann. 

Anfang Mai 2018. 
Mondkind hat es gehofft, aber nicht so richtig für möglich gehalten, das Examen zu bestehen. 
Sie hätte nicht gedacht, dass es irgendwann mal eine Zeit gibt, in der ihrer Rückkehr an diesen Ort, der ihre Zukunft werden soll, nichts mehr im Weg steht. Weil sie den Platz bekommen und das Examen bestanden hat.
Die Tage davor: Zweifel. 
Das letzte Mal bei ihrer Therapeutin. Wann werden die beiden sich wieder sehen? Wird Mondkind es schaffen, ab und an hoch zu kommen? Wird sie es im PJ schaffen?
Und was hat dieser Ort, das kein anderer Ort dieser Welt zu haben scheint? „Frau Mondkind, was wollen Sie denn in diesem Kaff?“ Worte des alten Psychiatrie - Oberarztes. Eigenartige Betonung. Verrollen der Augen. Theatralisches Falten der Hände. Eine Frage, die Mondkind ihm nie beantworten konnte. Es ist ein Gefühl. Aber nicht rational. 
Wenn der Weg sich richtig anfühlt, frag nicht wohin er führt. Mondkind weiß es nicht. Und vielleicht muss sie auch nicht immer alles begründen können. Ungewohnt für einen rational denkenden Menschen wie sie, aber sie weiß die Antwort auf die Frage wirklich nicht.

Mitte Mai.
Mondkind sitzt neben ihrer Schwester im vollgepackten Auto. Der Weg führt über bekannte Straßen. 
Und irgendwie fühlt es sich kein bisschen fremd an. Eher so, als würde sie nach viel zu langer Zeit zurück nach Hause kommen. 
Sie hat es geschafft. Und nach ein paar Tagen wird ihr klar: Auch hierher nimmt sie sich mit. Auch hier gibt es Ängste und Zweifel. Aber es ist anders.  Dort in ihrer Studienstadt hatte sie kaum etwas und konnte nicht viel verlieren. Hier hat sie so viel und kann eine Menge verlieren. „Wer nichts hat, kann nichts verlieren.“ Lange ihr Lebensmotto. Das Einzige, mit dem sie am Ende bei ihrer Mutter zurecht kommen konnte. Und deshalb ist das hier etwas völlig Neues, mit dem es gilt zu lernen, umzugehen. Und das wird noch eine Menge Arbeit. Insbesondere, weil sie ja weiß, dass sie das hier wieder verlieren wird. Auch wenn sie hofft, zurück zu kommen.
Dieser Ort ist keine Wunderheilung. Aber zumindest Hoffnung. Dass es doch geht. Dass es auch für eine Mondkind ein Leben geben wird, in dem die Schwere irgendwann ein Stück zurück weichen wird. In dem vielleicht nicht alle Fragen beantwortet werden können, aber in dem die Fragen vielleicht die Bedeutung ein wenig verlieren. 

Wie wird es weiter gehen? Erstmal ist sie nur bis Ende Dezember hier.
Wird sie in einem Jahr wieder ihre Sachen packen? Sie alle mit hier runter nehmen? Einen Arbeitsvertrag für die Neuro haben? Endlich für unbestimmte Zeit an diesen Ort gehören?

Gestern war sie noch beim Einwohnermeldeamt. Zum Zweitwohnsitz durfte sie das hier nicht machen. Warum, hat sie nicht verstanden. Jedenfalls wurde die Adresse auf ihrem Ausweis überklebt. Und für die nächsten Monate gehört sie ganz offiziell hierher. 
Ein unbeschreibliches Gefühl.

Und ein bisschen gehört sie nach vier Wochen auch in die Innere. „Mondkind, ich schreibe gerade die Anmeldung. Du gehst mit uns zum Sommerfest?“ Eigentlich war das keine Frage, sondern eher eine Aussage gewesen, die ihre Kollegin da gestern getätigt hat. 

Manchmal hat Mondkind Angst aufzuwachen. Dass es alles doch nicht die Realität ist. Nach diesem weiten Weg, nach all den Steinen und Stolperfallen der letzten Jahre fühlt es sich so merkwürdig an, zumindest für ein paar Monate angekommen zu sein.

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen