Notaufnahme #6

Der Morgen ist chaotisch. 
Mondkind ist mit einem Assistenzarzt unterwegs und gibt sich alle Mühe, sich nicht zu sehr in den Vordergrund zu drängen. Die beiden haben schon vier Aufnahmen angefangen, aber keine davon fertig gemacht und ihr Kollege wirkt dezent überfordert. 
„Weißt Du was“, sagt Mondkind, „ich schreibe jetzt schnell den Brief für den ambulanten Patienten, Du machst die geplante Aufnahme fertig und dann rufen wir den Hintergrund wegen den anderen beiden Patienten in der Notaufnahme.“
Bei dem Oberarzt der heute Hintergrund hat, muss man immer einen genauen Plan haben, ansonsten wird man oft vorgeführt. 
Irgendwann kommt der dann auch und die beiden stellen die Fälle vor. Einer davon ist ziemlich neurologisch und da kann Mondkind punkten. 
„Eigentlich ist das so, dass Mondkind etwas von Ihnen lernen soll und nicht umgekehrt“, sagt der Oberarzt irgendwann. 
Und irgendwie zieht sich Mondkinds Herz eigenartig zusammen. Das ist einfach nicht fair… aber wenn sie gefragt wird und die Antwort weiß… - soll sie dann lieber auch nichts sagen?

Der Spätdienst kommt. Die Kollegin, mit der Mondkind am liebsten Dienst macht. Sie hat schon antizipiert, dass Mondkind heute bisher wieder mal weder gegessen noch getrunken hat, wenn sich die Patienten in der Aufnahme stapeln. 
Sie hat Mondkind ein Brötchen mitgebracht. „Mondkind, ich übernehme Deinen Patienten. Du gehst jetzt erstmal etwas essen und einen Kaffee trinken…“
Mondkind ist ihr sehr dankbar, ihre Kräfte wieder ein wenig sammeln zu dürfen. 
Der Strom in der Notaufnahme reißt aber nicht ab – im Gegenteil: Es wird immer schlimmer und die Patienten werden auch menschlich immer schwieriger. Die einen sind im Delir, die anderen meckern, weil sie so lange warten mussten. 
„Mondkind, Du musst heute bitte länger bleiben..“, sagt ihre Kollegin. 
Und Mondkind bleibt gern.

Es ist schon fast Abend, als Mondkind nochmal rauf muss, um eine Blutabnahme zu machen. Die Frau hat Mondkind vor ein paar Tagen aufgenommen. Sie hat einen Alkoholentzug hinter sich und wollte jetzt in die Entwöhnungstherapie – hat aber leider unmittelbar vor der dortigen Aufnahme nochmal getrunken. 
„Man wird hier behandelt, wie ein Schwerverbrecher“, sagt sie. 
„Ich weiß“, entgegnet Mondkind, „und das ist nicht fair…“
„Ich bin da eben so rein gerutscht und ich möchte ja wirklich aufhören – deshalb bin ich ja auch zur Entwöhnung gegangen“, erklärt sie.
„Wissen Sie“, sagt Mondkind, „ich glaube, dass jeder Mensch für sein Handeln Gründe hat. Keiner trinkt, weil er so viel Langeweile hat. Und das wird oft vergessen. Auch die Patienten, die mit Problemen wie dem ihrem bei uns landen, verdienen Respekt.“
„Da sind Sie eine Ausnahme…“, entgegnet die Patientin, „haben Sie Erfahrung damit…?“
Mondkind zögert. „Mit Alkohol nicht“, erklärt sie, „aber mit psychischem Durcheinander schon…“
„Deshalb waren Sie auch in der Aufnahme so nett zu mir“, sagt die Frau.
„Naja, manchmal habe ich das Gefühl, ich muss solche Patienten irgendwie ein bisschen schützen. Das ist ja sowieso schon ein mutiger Schritt, die Problematik anzugehen, dann braucht man keinen, der da nochmal drauf haut…“

Viel zu spät geht Mondkind heim. 
Sie wartet. Sie weiß nur nicht, worauf. 
Keiner kann ihr diese Sehnsucht nehmen. Danach, sich einfach mal auf etwas verlassen zu können. Danach, dass irgendwer mal auf sie wartet, wenn sie heim kommt. Danach, dass sie jemand  ganz fest in den Arm nimmt und sie einfach eine Weile hält. Danach, dass jemand ihr so viel Geborgenheit gibt, dass ihr Kopf, der permanent schreit, einfach mal ruhig ist. Danach, dass ihr jemand den Schatten von der Seele nimmt einfach nur dadurch, dass er da ist. 


Mondkind


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