Notaufnahme #4

Der Tag startet genauso stressig, wie der Alte aufgehört hat. 
Auf dem Weg zum Krankenhaus muss Mondkind einem rückwärtsfahrenden Baukran ausweichen. Natürlich ist er langsam gefahren und man hätte ihn auch schon eher sehen können, aber Mondkind war noch müde und deshalb erschien er dann doch sehr plötzlich in ihrem Bild. 
Dabei ist sie mit dem Rad so unglücklich die abgesenkte Bordsteinkante hinaus gefahren, dass es das Hinterrad ordentlich erschüttert und den Dynamo verkantet. Der hat dann wiederrum am Hinterrad gerieben und ihr Fahrrad klang wie ein sterbendes Motorrad. 
Sehr gut gemacht Mondkind… 

Erstmal muss sie sich dennoch um die Blutabnahmen kümmern. Eigentlich war sie extra ein paar Minuten eher los gefahren, damit sie das schafft vor der Frühbesprechung, da die Kollegin die ihr eigentlich hilft, im Urlaub ist. 
Und schon auf dem Flur kommt ihr eine Schwester mit einem grünen Röhrchen in der Hand wedelnd entgegen. „Mondkind, die Patientin muss eigentlich schon in der Endoskopie sein, aber wir brauchen nochmal schnell einen Quick…“
Zeitdruck… Mondkind weiß, dass der erste Stich sitzen muss und die Patientin hat schlechte Venen. Beste Kombi… Dennoch… - es ist fast ein Wunder – trifft Mondkind die Vene.

Nach den Blutabnahmen wartet die Frühbesprechung. 
Im Raum herrscht heute gähnende Leere. Der Chef, drei Oberärzte und drei  Assistenzärzte. Mehr werden sie heute auch nicht mehr. 
„Wir sind heute äußerst dünn besetzt“, stellt die Oberärztin unnötigerweise fest. „Auf Station II haben wir heute gar keinen Assistenzarzt – da mache ich dann die Visite und die Notaufnahme ist am Nachmittag auch nicht besetzt…“ 
Mondkind ahnt, was das für sie bedeutet. 

Nach der Frühbesprechung wartet die erste Patientin in der Notaufnahme. Sie hat eine allergische Reaktion auf ein Antibiotikum entwickelt. „Mondkind legst Du schon mal den Zugang…“, ruft ihre Kollegin und verschwindet schon wieder. Die Patientin ist nicht gerade mit guten Venen gesegnet… - aber sie muss es ja können, bis sie auf der Neuro ist. 
Die Patientin friert und hat sich gerade in eine Decke eingewickelt. Deshalb möchte Mondkind sie sich nicht nochmal auspacken und hinlegen lassen. Es wird auch schon im Sitzen irgendwie gehen. 
Wie Mondkind zu dem Glück gekommen ist, irgendeine vage in der Tiefe getastete Vene zu treffen, weiß sie selbst nicht genau. Als Mondkind das Blut abzapft, atmet die Patientin plötzlich schneller. „Alles okay?“, fragt Mondkind. Ein schwaches „Ja“ der Patientin, das eher nicht danach klingt. 
Oh shit… - Mondkind muss die Patientin hinlegen. Mit einem nicht fixierten Zugang im Arm. „Lassen Sie den Arm ausgestreckt und lassen Sie sich einfach zur Seite fallen“, sagt Mondkind. Sie lagert die Patientin so, dass es für die nächste Minute irgendwie geht, fixiert den Zugang und legt die Patientin dann vernünftig hin. Mittlerweile geht es ihr auch schon wieder etwas besser. 
Lektion 1 für den Tag: Patienten immer, immer hinlegen bei Blutabnahme oder Zugang legen. Und wenn sie dann meckern, dann ist das so… 

Heute Früh ist es etwas ruhiger in der Notaufnahme. 
Mondkind nutzt die Zeit und läuft schnell runter in die Technik. Manchmal wundert sie sich ja doch, was sie sich so traut… Sie fragt, ob sie dort irgendwo einen Schraubschlüssel haben, damit Mondkind den Dynamo abschrauben kann. Der Techniker ruft aber gleich mal den Hausmeister und der geht mit ihr zu dem Rad und löst den verklemmten Dynamo. 
Manchmal hilft es halt wirklich, den Mund aufzumachen…. 

Im Anschluss stellt Mondkind sich in Sichtweite der Notaufnahme in eine ruhige Ecke. So bemerkt sie, wenn Krankenwagen von hinten ankommen und sie schnell handeln muss. Und kann unterdessen die Zeit nutzen, um mal bei einem der Psychologen anzurufen, die der Chef der Psychosomatik empfohlen hat. 
Sie hat eine Dame in der Leitung, die erstmal ihre Personalien aufnimmt und ihr dann erklärt, dass der Psychologe sich seine Leute immer selbst raus suche und sie dann kontaktiere und dann halt selbst entscheidet, ob er mit ihnen arbeiten will oder nicht. Aha… - ist ja wie so ne Bewerbung, denkt Mondkind bei sich. 
Was Mondkind nicht auf dem Schirm hatte ist, dass die Dame jetzt auch wissen will, worum es bei Mondkind geht. Sie hofft, dass jetzt keiner von den Mitarbeitern irgendwo in der Nähe steht und lange Ohren macht. 
Mondkind berichtet, dass sie erstmal nur bis Ende Dezember hier ist und daher nicht so genau weiß, ob das jetzt alles etwas bringt, aber das könne man ja besprechen. Oder auch mögliche Alternativen. Dann berichtet sie über die Diagnosen aus dem Arztbrief. 
Die Dame will noch wissen, wer ihr denn die Überweisung geschrieben habe. Was für eine Überweisung? Braucht man so etwas? Oder ist das von Bundesland zu Bundesland anders? Mondkind sagt, dass man das sicher regeln kann, vielleicht könnte die Ambulanz in ihrer Heimat da irgendetwas ausstellen. 
Obwohl – das sagt sie natürlich nicht so – der Plan erstmal war, die Therapeutin nicht unbedingt davon zu unterrichten. Es gibt nämlich Themen, die würde Mondkind derzeit mit keinem anderen besprechen. Es gibt genug „Nebenthemen“ bezüglich Familie, Zukunft und Heimat, die gerade in Mondkinds Kopf herum springen und auch langsam mal beachtet werden wollen, aber gerade was das Thema Sinnlosigkeit und Suizidalität anbelangt, will sie das eigentlich in ihrer Heimat besprechen. Das wird nichts mit einem neuen Therapeuten und das ist ja die ganz zentrale Sache im Moment. Manchmal glaubt sie sich ja selbst nicht. Sie macht ihren Job und gleichzeitig ist das hier alles so komisch und so sinnlos…  „Das sind manchmal völlig unauffällige Patienten gewesen… - und am nächsten Tag haben die sich umgebracht“, hatte ihr letztens eine Kollegin erzählt, die in der Psychosomatik gearbeitet hat (und natürlich über Mondkind nichts weiß). Mondkind ist sich unsicher, ob sie das beängstigend finden soll, oder nicht.
Mondkind ist gespannt, was dabei raus kommt. Sonderlich zuversichtlich ist sie nicht.

Gegen Mittag – als Mondkind gerade einen Patienten mit einer vermeintlich entzündeten Gallenblase betreut - übergibt ihr die halbtags arbeitende Kollegin den Pieper. 
Eigentlich möchte Mondkind bei dem Patienten einfach nur ein Sono machen. Das zieht sich aber über eine halbe Stunde, weil ständig das Telefon klingelt. Eine Hausärztin möchte einen Patienten auf die Palliativstation legen, aber nach hausinternen Telefonaten ergibt sich, dass die voll ist und der Patient kurzzeitig auf die Normalstation soll. Das muss dann der Praxis kommuniziert werden, die Mondkind aber die falsche Nummer gegeben hat. Also Freund Google bemühen. 
Danach möchte die Kardiologie noch einen Patienten schicken und kaum dass Mondkind wieder aufgelegt hat, klingelt ein Oberarzt aus der Psychosomatik an. Er hätte auch noch einen Patienten. 

Gegen 3 Uhr nimmt ihr die Oberärztin von der Palliativstation den Pieper ab. 
„Ich habe gehört, wir haben hier eine neue Assistenzärztin…“, kommt sie auf Mondkind zugelaufen. 
„Naja, ich tue was ich kann; nicht wahr?“, sagt Mondkind und kramt das Telefon aus ihrem Kittel. 
Gerade versucht sie bei einer Patientin einen Zugang zu legen. Erst beschwert sie sich, dass ihr ja heute Morgen beim Hausarzt schon Blut abgenommen wurde. Wenn der aber keine Werte mitgibt, bringt das nichts. „Bei meiner Mutter muss mal ein Arzt ran, der stechen kann…“, fordert der Sohn der Patientin. Na super, da ist Mondkind ja die Richtige. 
Die Patientin hat dünne Venen und Mondkind nimmt die dünnste Nadel, die es gibt. Der erste Versuch misslingt ihr, aber auch die Schwestern sind beschäftigt. Sie muss es selbst machen, sonst kommt sie nicht weiter. Und obwohl die Vene weder so aussieht, noch sich so anfühlt, trifft Mondkind sie und es läuft sogar Blut aus dem Zugang, das Mondkind abnimmt. 

Ihre letzte Patientin hat es in sich. 
Sie wurde mit der Hausärztin mit Verdacht auf eine Gallenblasenentzündung eingewiesen. 
Allerdings zeigt das Sono eine winzige Gallenblase, in der zwar Steine sind, aber die Gallenblasenwand sieht ganz unauffällig aus und die Laborparameter sind auch unauffällig. 
Dafür zeigt das EKG Auffälligkeiten. Mondkind meldet noch ein paar Werte nach und auch Trop T und CKs sind erhöht. Oh shit… - zwar hat die Patientin die Beschwerden schon seit vier Tagen – akut lässt sich da also ohnehin nicht mehr viel machen, aber dennoch. Allerdings ist das ein Schrittmacher – EKG und die kann man immer nicht so ganz verwerten, weil die schon mal Veränderungen zeigen, wo keine sind. 
Und als Mondkind die Patientin nochmal genau zu ihren Beschwerden befragt, sagt sie, dass sie eher im rechten Unterbauch sind, obwohl auf der Einweisung Oberbauch stand. 
Jetzt hat Mondkind also einen angeblichen Gallenblasenprozess, der sich eher Richtung Herzinfarkt laut apparativer Diagnostik bewegt und eine Patientin, bei der man eher an einen Prozess im Darm denken könnte. 
Mondkinds Plan: Trop T und CK kontrollieren und schauen, ob es eine Dynamik gibt, Kontroll – EKGs, Morgen Kontroll – Sono und vielleicht eine Koloskopie.
Chef anrufen. Aber der muss in eine Konferenz. Ersten Oberarzt anrufen. Er hat keine Zeit. Also Palliativ – Oberärztin anrufen. Auch keine Zeit. Also den neuen Oberarzt anrufen. Mondkind passt ihn auf dem Weg in den Feierabend ab. Der Oberarzt ordnet statt der Koloskopie ein CT an, aber sonst stimmt er mit Mondkind überein.

Mondkind ist schon wieder viel zu lange da. Bis das Procedere mit dem Patienten fertig ist und Mondkind auch noch das CT organisiert hat, ist die Konferenz des Chefs auch zu Ende und er schaut noch in der Notaufnahme vorbei. „Ach die Mondkind ist auch noch da…“, sagt er. 
„Die fängt ja im Herbst hier an…“, sagt er. „Sie möchte doch in die Neuro“, entgegnet der Oberarzt. „Und erstmal muss ich ohnehin Examen machen“, wirft Mondkind ein. „vor nächstem Frühjahr fange ich nirgendwo an…“ „Der Mondkind liegen die Stellen doch zu Füßen“, sagt der Oberarzt.
Vielleicht hätte Mondkind ihren Plan in die Neuro zu wollen, nicht laut sagen sollen. Falls es dort doch nicht klappt, weiß jeder, dass die Innere nur eine Übergangslösung ist. Denn wahrscheinlich würde Mondkind lieber in die Innere gehen, wenn sie dafür in diesem Ort sein könnte.

Auf dem Heimweg trifft sie die Oberärztin. „Mondkind komm, wir fahren noch ein Stück zusammen…“
 Sie stellen fest, dass sie gar nicht weit auseinander wohnen. „Also wenn  mal etwas ist“, sagt sie, „melde Dich gerne…“ Mondkind bedankt sich. Irgendwie ist die Oberärztin schwer zu durchschauen. Sie ist streng und hat sehr hohe Erwartungen und wenn etwas falsch läuft, hat man echt nichts mehr zu lachen, aber irgendwo ist sie doch auch sehr menschlich. 
„Und danke nochmal für Deine Hilfe in den letzten Tagen Mondkind…“ 
„Gerne“, entgegnet sie. „Ich gebe immer mein Bestes…“
„Ich weiß“, sagt sie. 
Und dann trennen sich ihre Wege. 

Mondkind kocht Kaffee und geht in den Park. Und schreibt Blog. Das wird ihr fehlen am Ende des Sommers. Im Park zu sitzen. Am Teich. In der Ecke mit den Enten. Und zuzuschauen, wie aus den Baby – Enten langsam schon jugendliche Enten geworden sind. 

Mondkind

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