Spätdienst

Es ist spät am Nachmittag.
Mondkind hätte eigentlich schon längst zu Hause sein sollen zu dieser fortgeschrittenen Stunde.
Vor ihr sitzt ein verwahrloster Mann mittleren Alters. Die letzten drei Jahre hat er auf der Straße gelebt. Sein Diabetes ist in der Zeit vollkommen entgleist und die Folgeerkrankungen lassen grüßen.

Es macht Mondkind nicht so viel aus. In ihrem Kopf haben sich so viele Themen und so viele Ängste angestaut, dass sie es sich kaum traut mit sich alleine zu sein. Dann kann sie den Spätdienst auch noch mit der Kollegin mitmachen, die ihr an diesem Nachmittag sehr dankbar für Mondkinds Hilfe ist.

Ihr Telefon klingelt. Auf dem Display erscheint der Name der Oberärztin. „Mist - bei welcher Aufnahme ist heute was schief gelaufen…?“, denkt Mondkind, ehe sie einmal beinahe unmerklich Luft holt und ans Telefon geht.
Die Ärztin kommt gleich zur Sache. „Mondkind, ich sitze gerade vor dem Dienstplan… - wie Du weißt, sind wir personell sehr knapp dran derzeit…“ Gerade erst am Morgen war bekannt geworden, dass jetzt noch eine Kollegin ausfällt. Wir werden uns alle hoffnungslos überarbeiten in den nächsten Wochen.
Mondkind hat die Befürchtung, dass sie jetzt nicht nur mal zwischendurch, sondern regulär entweder Notaufnahme oder Station alleine schmeißen soll. „Ich gebe mir wirklich Mühe“, beginnt Mondkind. „Ich weiß, dass es gerade alles sehr eng ist und ich versuche wirklich zu helfen, wo ich kann, aber ich befürchte, ich kann gar keine so große Hilfe sein…“ „Nein Mondkind, Du machst Deine Sache wirklich sehr gut. Du bist uns eine große Hilfe…“, entgegnet die Oberärztin. „Hast Du denn eigentlich vor, Urlaub zu nehmen…?“, fragt sie.
Mondkind erklärt, dass sie gern mal einen Freitag nicht kommen würde, um etwas an ihrer Doktorarbeit in ihrer Studienstadt zu machen. Das sei kein Problem, das werde man schon kompensieren können. Aber sie ist froh, dass Mondkind jetzt nicht vorhat in der nächsten Zeit auch noch eine Woche zu fehlen.

Wenig später klingelt das Telefon noch einmal. „Chefarzt“ steht auf dem Display. Wird ja immer schöner.
„Mondkind, ich habe ein kleines Geschenk für Dich… - Komm mal in die Endoskopie…“
Mondkind hatte heute Morgen einen Patienten aufgenommen, den der Hausarzt mit „unklarer Anämie“ eingewiesen hatte. Nach eingehender Befragung, bei der der Patient mächtig herum gedruckst hat, hat er irgendwann angemerkt, dass sein Stuhl sich in den letzten Wochen schwarz verfärbt hatte. Mondkind hatte sofort an eine Blutung im Magen gedacht. Das würde auch den massiven Abfall des Hämoglobins erklären.
„Es war sehr aufmerksam von Dir, dass Du mich vorhin angerufen hast und wir beschlossen haben, den Patienten heute noch dran zu nehmen“, erklärt der Chef und zeigt Mondkind zwei Fotos. „Der Patient hat eine massive Blutung gehabt, die sich endoskopisch aber leicht stillen ließ…“

Zu Hause. Füße auf den Tisch. Laptop auf dem Schoß. Tränen in Mondkinds Augen.
Es passt alles nicht mehr. Sie hat das Gefühl, keine Hilfe in dieser verzwickten Personalsituation sein zu können, obwohl alle ihr das Gegenteil versichern. Aber was sollen sie auch sagen?
Mondkind kann sich erinnern, dass sie irgendwann Ende des letzten Jahres ihrer Therapeutin erklärt hat, dass das Krankenhaus sich freuen wird, dass Mondkind immer freiwillig viel zu lange bleiben wird, weil sie sonst einfach nicht weiß, wohin mit sich.
Wie man auf der einen Seite einen guten Job machen und auf der anderen Seite mit der Welt nicht zurecht kommen kann, wird sie vielleicht nicht verstehen.
Es war ja leider ziemlich absehbar, dass es sich irgendwann zu sehr eindreht in Mondkinds Kopf. Dass sich die Themen zu sehr aufstauen, dass da zu viele Ängste sind.
Gerade bezüglich der Zukunft. Wo wird sie heute in einem Jahr sein? Wird sie die Einträge aus den heutigen Tagen lesen und wird ihr dabei ein Lächeln über das Gesicht gleiten?

Und irgendwie wollte sie glauben, dass es Lösungen gibt. Dass sie damit nicht alleine dasteht.
Aber es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass sie das im Endeffekt doch tut. Da ist niemand mehr, der die Schwere mit ihr aushält. Sie mitträgt. Der sie rausholt, aus den ewigen Schleifen.
Mondkind fragt sich, ob das jemals aufhören wird. Diese Stunden, in denen sie sich so sehr danach sehnt, die Tage nicht mehr erleben zu müssen. Nicht, weil die Menschen hier so furchtbar sind, oder sie im Krankenhaus nicht zurechtkommt. Sondern weil die Schwere sie erdrückt und der Schmerz viel zu tief sitzt. Und das ruft dann gleich die nächsten Schuldgefühle hervor.... 

Mondkind 

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