Eltern im Selbst


Eigentlich wollte ich diese Woche noch eine kleine Übersicht darüber schreiben, wie die erste Woche PJler – Leben auf der peripheren Station verlaufen ist. Dazu komme ich hoffentlich im Lauf des Wochenendes noch. Aber erstmal möchte ich hier die Erkenntnisse des heutigen Tages teilen. Ich glaube nämlich, dass die eventuell nicht nur für mich, sondern auch für den ein oder anderen Leser hilfreich sein könnte. 

***

„Also wissen Sie“, beginne ich, „ich glaube hin und wieder bin ich für manche Menschen dieser Ankerpunkt. Also das, was ich selbst immer so verzweifelt suche; diese Bezugsperson. Und dann denke ich mir immer: Ich kann das doch überhaupt nicht tragen. Ich kann doch mich selbst kaum halten, dann ist es doch den Menschen gegenüber fast unverantwortlich zuzulassen, dass all diese Hoffnung auf einer Illusion fußt. Ich kann niemanden halten.“
Es ist Freitag. 17:30 Uhr. Eigentlich hätte ich jetzt in einer Fortbildung sitzen sollen und ich werde mich am Montag noch der Frage stellen müssen, wieso ich nicht da war. Aber jetzt sitze ich mit dem Seelsorger in der Kapelle und philosophiere über Mutterrolle, Vaterrolle und Ankerpunkte.
„Ich sehe darin jetzt nicht unbedingt einen Widerspruch“, erklärt der Seelsorger. „Als Ärztin haben Sie die Rolle als Bezugsperson und Ankerpunkt durchaus – für manche Menschen kommen Sie direkt hinter Gott. Beschreiben Sie doch mal, wie Sie mit Patienten umgehen?“
„Es ist immer schwer das selbst einzuschätzen“, beginne ich, „aber manchmal wird mir schon zurück gemeldet, dass ich einen guten Umgang mit den Patienten habe. Vielleicht scheitert man daran irgendwann in diesem Gesundheitssystem und wird so zynisch, wie einige Kollegen.  Allerdings ist Krankenhaus halt für viele Patienten sowieso eine absolute Ausnahmesituation und dann sind sie gestresst und verunsichert und ein negativer Kontakt mit dem Arzt, hängt dann wahrscheinlich den ganzen Tag nach – ich kenne es von mir selbst, wenn der Psychiater mal wieder irgendwelche unüberlegten Sprüche reißt. Ich versuche mir immer etwas Zeit für die Patienten zu nehmen, Fragen zu beantworten und auch Interesse nicht nur an den medizinischen Dingen, sondern auch an dem Menschen selbst anklingen zu lassen. Und wenn jemand ein nichtmedizinisches Anliegen hat, dann versuche ich mich auch darum zu kümmern, auch wenn es mir auf die Füße fällt, weil ich dann länger an meinen Briefen sitze – die müssen halt geschrieben werden. Letztens wollte jemand etwas zu essen haben, weil er durch die Aufnahmesituation bis zum Nachmittag nichts gegessen hatte. Und ehe ich die Schwestern beauftrage, die auch viel beschäftigt sind, und es dann noch ewig dauert, mache ich es halt schnell selbst. Und wenn ich eigene Patienten habe, schaue ich immer bevor ich gehe nochmal vorbei, ob es allen den Umständen entsprechend gut geht. Manchmal gelingt auch mir das sicher alles nicht so gut, aber ich versuche mir das jeden Tag bewusst zu machen.“
Er erklärt, dass da also auch ein sehr fürsorglicher Teil  in mir ist – man könnte auch sagen ein Mama- und ein Papa – Anteil. Dass Familie so ist, wie sie eben ist, kann man nicht ändern. Aber man könne versuchen morgens nicht diese elterlichen Anteile anzuziehen und sie abends vor Verlassen des Krankenhauses wieder abzulegen, sondern versuchen, das auch auf sich selbst zu beziehen. Und dadurch könne man eventuell erreichen, dass das Außen immer weniger wichtig wird – was in meinem Fall ja mal eine echte Erleichterung wäre – weil man in sich selbst etwas gefunden hat, das einen trägt.
„Eigentlich haben Sie den perfekten Job, um sich selbst zu therapieren“, erklärt er, „wenn Sie eine gute Ärztin sein wollen – und das werden Sie, da bin ich sicher – dann müssen Sie immer wieder fürsorglich und empathisch sein. Die Aufgabe ist jetzt, das auch für sich selbst zu werden. Und Sie haben einen elterlichen Teil in sich – so wie übrigens alle Menschen. Der mag bei Ihnen sehr klein sein, aber er ist da und den müssen wir jetzt eben ausbauen, wenn Sie sich darauf einlassen können. Das braucht aber ohne Frage einiges an Zeit und Übung.“
Vielleicht habe ich bis Ende Dezember zumindest Ansätze davon erreicht und solange sei er ja noch da. Ich habe selten jemanden erlebt, der das so freiwillig mitträgt.

Impression vom Parkspaziergang

Ehrlich gesagt finde ich den Ansatz gar nicht blöd. Im Prinzip ändert es die Situation nicht. Aber für mich heißt „für mich selbst sorgen“, eben immer gleichzeitig egoistisch zu sein. Das ist sicher zu gewissen Teilen auch richtig, aber ich denke oft, dass es mir nicht zusteht, weil meine Eltern eben nichts anderes, als den geradlinigen Weg zulassen. Aber wenn man die jetzt versucht, die Sache in einem anderen Licht zu sehen, nachzuvollziehen, dass jeder in sich elterliche Anteile trägt, die auch fürsorglich sind, einen in gewisser Hinsicht tragen und in seinen Entscheidungen unterstützen, dann kann man den Egoismus vielleicht auch als berechtigte Selbstfürsorge betrachten. Dann schafft man es vielleicht, sich weniger selbst zu verurteilen und eventuell sogar eine gewisse Wärme und Geborgenheit dabei zu spüren. Dazu muss man allerdings noch lernen, sich selbst etwas wert zu sein – nächste Baustelle.

„Ich bin echt immer ein bisschen beeindruckt“, sage ich am Ende unserer Stunde, „Ich meine, das ist ein gewagtes Konzept und man muss sich glaube ich wirklich darauf einlassen, aber einen Versuch ist es definitiv wert in meiner Situation. Da sind halt so oft Gedankenanstöße in den Gesprächen mit Ihnen dabei, die ich noch von niemandem gehört habe, auf die ich selbst im Leben auch nicht gekommen wäre, die aber wirklich hilfreich sind. Mir bringt das hier wirklich etwas…“
Er erklärt, dass er in seinem Leben auch schon so manche Dinge erlebt habe. „Und manchmal habe ich halt ein Gefühl dafür, was in der Situation zumindest ein bisschen helfen kann, es erträglich zu machen, wenn man die grundlegende Situation nun mal nicht ändern kann“, erklärt er. Und ich fürchte, das ist der riesige Unterschied zu den meisten Therapeuten.

Und ich hoffe, das mit dem Fehlen bei der Fortbildung gibt nicht zu viel Ärger – aber die Stunde hat mir heute für mich selbst so viel vermittelt, wie das keine fachlich noch so gute Fortbildung je hätte erreichen können. Ich kann halt nur schlecht erklären, was ich Freitagabend stattdessen getan habe... 

Allen Lesern einen guten Start ins Wochenende!
Mondkind

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