Stationswechsel, Herbst und Klarheit


Mittlerweile habe ich die Station gewechselt. Im Moment herrscht noch ein wenig Uneinigkeit, wo genau ich jetzt sein soll – ich habe auch noch nicht durchschaut, welcher Oberarzt auf der Etage für welche Patienten verantwortlich ist. Die einen sagen, der zweite Stock sei „eine Einheit“, die nächsten finden es wiederum nicht so gut, wenn ich da jetzt zwischen den Fluren hin und her hüpfe.
Eigentlich sollte ich in die Epilepsie – Abteilung. Nachdem es aber am ersten Tag schwierig war, weiße statt der bisherigen roten Klamotten zu organisieren (und ich unter argwöhnischen Blicken der Kollegen in Zivil zur Frühbesprechung erschien), hat mich die Ärztin gleich völlig selbstverständlich mit auf die Station genommen, direkt einen Platz im Arztzimmer frei geräumt und mich mit auf die Visite genommen. Damit bin ich glaube ich nur nicht bei dem Oberarzt gelandet, für den ich eigentlich vorgesehen war. Ich hoffe nur, dass sich da jetzt keiner auf den Schlips getreten fühlt.

Ich kann mich erinnern, dass ich mit den Krankheitsbildern auf dieser Station vor zwei Jahren noch völlig überfordert war. Wie zum Geier objektiviert man Polyneuropathien? Und wie behandelt man die? Was macht denn da Carbamazepin, das ich bis dahin nur als Neuroleptikum kannte? Wie betreibt man Prävantion bei chronischen Kopfschmerzen? Wieso verschreiben wir den Patienten Amytriptilin – was hat das mit Kopfschmerzen zu tun? Und wie hilft man den Patienten bei einem Bandscheibenvorfall?
Ich habe in den letzten beiden Jahren im Studium aber wahrscheinlich noch eine Menge über die Neurologie gelesen und gelernt – mittlerweile sind mir die Dinge geläufig. Ich weiß, was wir wann und warum tun. Sogar die Elektrophysiologie habe ich mittlerweile etwas besser verstanden, auch wenn ich da immer noch nicht ganz genau durchblicke.
Im Moment finde ich es wirklich interessant dort oben.

Gestern hat es gut geklappt, dass ich mit auf die Visite gekommen bin, heute eher weniger. Jeder Assistenzarzt macht seine Visite hier mit dem Oberarzt ein bisschen individuell, wann es beiden gerade passt und wenn man nicht den ganzen Tag aufmerksam ist wie ein Luchs, verpasst man das. Und ich habe den Kollegen heute die Briefe der Patienten abgenommen, die wir von der Stroke Unit hoch verlegt bekommen haben, weil ich die zumindest vom Hören schon kannte. 
Ich hoffe, dass ich morgen wieder mehr dabei sein und vielleicht auch wieder Patienten aufnehmen darf, wie ich das am Montag auch schon gemacht habe. Wahrscheinlich muss ich da einfach aktiver nachfragen. Ich habe den allen – es hat thematisch gerade zufällig gepasst – erklärt, dass ich eher vom etwas stillen Typ bin, das aber absolut nichts mit mangelnder Motivation zu tun hat und sie mir helfen würden, wenn sie mir hin und wieder einfach Dinge auftragen.

Mit dem Oberarzt komme ich bisher auch gut zurecht. Die Briefe fand er wahrscheinlich gut, geändert hat er nicht viel. Er fragt auch öfter am Tag mal nach, ob es Fragen gibt. Da er unser Parkinson – Spezialist ist, werde ich mich mit ihm irgendwann nochmal zusammensetzen. Da die Krankheit bei mir in der Familie vorkommt, habe ich da schon ein paar Fragen hinsichtlich Therapieoptimierung. Zwar herrscht da in der Familie eine gewisse Beratungsresistenz, weshalb ich dazu auch nichts mehr sage, aber es zu wissen, schadet trotzdem nicht.

Ansonsten hat mich letztens noch eine Kommilitonin ziemlich verunsichert. Sie verbringt am Tag ungefähr 12 Stunden auf der Station und hat mir stolz berichtet, dass sie jetzt ZVKs legen und Knochenmarkpunktion lernt. Und ich habe mich gefragt: Muss man das nach dem Studium können? Kommen dann die Oberärzte auf einen zu und sagen: „Mach mal.“ Ich habe heute lange mit einem Kollegen gesprochen, der mich etwas beruhigt hat. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, ist es gut, wenn nicht, ist es aber auch okay. Letzten Endes sei das – wie Vieles – auch eine Sache der Übung. Er sei erst seit Kurzem wieder da und davor ein Jahr in der Psychiatrie gewesen – er brauche jetzt auch erstmal wieder Übung. Eine Lumbalpunktion im PJ wäre hingegen schon nicht schlecht – da muss ich vielleicht mal aktiv nachfragen das lernen zu dürfen. Und arbeiten könne man in seinem Leben schließlich noch genug. In der normalen Arbeitszeit voll bei der Sache zu sein, reiche aus.

Seit vielen Wochen habe ich es das erste Mal wieder geschafft, nach der Arbeit eine Runde im Park spazieren zu gehen. Ich glaube, die letzte Woche hat in meinem Kopf viel los getreten und danach auch ein bisschen aufgeräumt. Zwar ist die Frage, ob sich die Situation grundsätzlich verbessert hat, aber ich persönlich kann besser damit leben. Und zum ersten Mal seit Wochen bin ich nicht mehr ganz so müde.



Die roten Blätter liebe ich im Herbst am Meisten...🍁🍂

Im Park wird das Grün allmählich gegen herbstliche Farben getauscht.

Vor dem Haus... - so eine unfassbar schöne Farbenvielfalt... 🍁

Ich glaube das Wissen, dass das Ende des Jahres schwierig werden wird, weil die Stabilitätsfaktoren weg fallen, war mir unterbewusst schon länger klar – ich wollte es nur nicht sehen und mich damit auseinandersetzen. Es bringt auch nichts, sich selbst da immer wieder Vorwürfe zu machen, dass ich es einfach nicht schaffe, mich selbst zu halten. Mir ist jetzt klar, warum das so ist. Man kann die Sache ja auch mal andersherum betrachten und sagen: Naja zumindest schaffe ich meinen Alltag, wenn ich Menschen finde, die bereit sind mit mir zusammen die Situation zu tragen (oder davon in manchen Fällen nicht mal wissen, obwohl sie es trotzdem tun). Das könnte auch ganz anders aussehen – letzten Endes hätte man das Studium auch nicht schaffen können. Und dann fährt man halt dafür alle paar Wochen auch durch halb Deutschland, wenn es hilft. Diesen enormen Aufwand dafür würde ich nicht betreiben, wenn es anders erträglich wäre. Das Problem ist – wenn es diese Stabilitätsfaktoren nicht mehr gibt, rutscht das gern schonmal in suizidale Krisen ab. Für andere, außenstehende Menschen mag das eine völlig übertriebene Reaktion sein, aber für mich selbst und die Leute, die da bis in die Tiefe Bescheid wissen, ist das logisch. Auch dafür kann ich mich verurteilen – das mache ich auch teils - das hilft aber auch keinem weiter.
Ich kann mir jetzt fünftausend Gründe überlegen, warum ich das im Januar unbedingt schaffen muss und von keinem der Gründe so richtig überzeugt sein. Ich kann mir einreden, dass das Ende des Studiums in greifbarer Nähe liegt, obwohl es für mich durch die Januar – Problematik noch hinter einer hohen Mauer verborgen ist.
Oder ich kann einfach erstmal akzeptieren, dass es so ist. Das einfach mal so im Raum stehen lassen. Das heißt nicht, dass ich das am Ende nicht doch schaffe – bisher habe ich ja viel am Ende doch hinbekommen. Aber es nimmt mir persönlich ein bisschen den Druck aus der Sache. Ich bin halt nur ein Mensch. Sicher mit einer relativ vielversprechenden Zukunft vor mir, wenn ich es schaffe, den Weg weiter zu gehen. Aber auch mit einer Vergangenheit, die man in gewissen Grenzen auch im Gestern lassen sollte, da die Dinge nicht mehr änderbar sind, aber die man dennoch nicht ausblenden kann, so gern ich das auch hin und wieder würde. Denn es hat mich nicht nur stärker werden und mich viele kleine zwischenmenschliche Situationen viel mehr schätzen lassen, sondern es hat mich eben auch zerbrechlich gemacht. Und manchmal kann man halt nicht mehr tun, als sein Bestmögliches zu versuchen und dabei die für sich selbst noch tragbaren Kompromisse einzugehen. Der Mensch funktioniert nicht wie ein mechanischen Uhrwerk, dem seine Vergangenheit und Zukunft ziemlich egal ist.
Und dann wird es am Ende so passieren, wie es eben passiert. Hoffentlich nach ein paar schweren Tagen mit gutem Ausgang – das wünsche ich mir für mich selbst auch. Nur erzwingen kann man es nicht und mit Perfektionismus kommt man da auch nicht weiter.

Mondkind

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