Und jetzt - Bewerbung...?
Verwirrt. Vielleicht trifft es
das am Besten. Irgendwie bewegt, gehalten, verloren und ängstlich gleichzeitig.
Heute fehlen uns drei Ärzte auf
der Station. Da braucht man eine Mondkind. Und in den letzten Tagen hat man
scheinbar gelernt: Man darf Mondkind einspannen. Zwar heißt es immer noch: „Mondkind,
wenn Du wirklich gar nichts zu tun hast…“, aber ich bekomme wenigstens
Aufgaben.
Patientenaufnahmen. Und Briefe. Der
Brief, der mir zugeteilt wird, ist von einem Patienten, der zwei Wochen bei uns
war, unzählige Untersuchungen, Konsile und Therapieversuche hatte, die beinahe
alle wegen Unverträglichkeit abgebrochen wurden, bis man irgendwann etwas
gefunden hatte, das hilft. Der Brief erfordert also viel Recherche und
Struktur. „Ich gebe es ja zu Mondkind, ich hatte dazu einfach keine Lust…“,
sagt die Assistenzärztin. Ich bastle anderthalb Stunden. „Der Brief ist nach
besten Wissen und Gewissen fertig“, erkläre ich ihr und drehe mich mit dem
Bürostuhl zu ihr um. Ich schließe den Brief auf meinem Desktop, sie öffnet ihn.
Liest ihn. „Mondkind, der Brief liest sich wie ein Roman – das hast Du wirklich
sehr gut gemacht“ „Danke“, sage ich nur und denke mir stumm, dass ich mein „Schreibtalent“,
wie es von vielen immer wieder bestätigt wird, vielleicht doch nicht unbedingt
in Arztbriefen hätte verewigen sollen.
Eine Patientin wartet noch auf
mich. Sobald ich im Zimmer bin, bricht der Redeschwall los. Seit der Einweisung
habe sie keine Lust mehr auf überhaupt nichts. Sie möchte keine Leute sehen,
nicht stricken, nicht in ihrer Zeitschrift lesen, fühlt Druck auf den Ohren und
der Brust, innerliche Unruhe. Denkt an den Suizid der Schwester vor ein paar
Jahren – von der Person, von der man glaubte, sie sei die Stärkste von allen.
Ich höre geduldig zu. Stelle dann
und wann Zwischenfragen. Versuche zum Rausgehen zu animieren – und wenn man mit
dem Rollator nur einmal ums Cache läuft oder sich auf eine Bank im „Mini – Wald“
in der Nähe setzt. Stricken zur Ablenkung. Schreiben, um die Gedanken „auszulagern“.
Sie soll ausprobieren, was ihr hilft – auch wenn sie nicht überzeugt zu sein
scheint, dass irgendetwas davon hilft. Ich kann es irgendwie nachvollziehen.
Sie wünscht sich, dass jemand
ihren Rücken eincremt und da ich gerade sowieso ein bisschen Zeit habe, mache
ich das gleich noch und hoffe, dass ihr das zumindest ein bisschen guttut.
„Kann ich Sie jetzt so alleine
lassen?“, frage ich sie, bevor ich gehe. „Oder muss ich Angst haben, dass Sie
sich etwas antun?“, schließe ich an. Es ist komisch, diese Frage zu stellen.
Aber gerade notwendig.
Nein ich könne sie alleine lassen
– es gehe ihr nach dem Gespräch etwas besser. „Und wenn etwas ist, dann klingeln
Sie“, ermahne ich. Ganz wohl ist mir nicht dabei zu gehen, aber weder kann ich
hier den ganzen Nachmittag sitzen, noch sollte man jede Krise dramatisieren –
dann reden die Patienten vielleicht aus Angst nicht mehr. Aber wir haben es
alle auf dem Schirm über das Wochenende wachsam zu sein und spätestens am
Montag gibt es ein Psych – Konsil.
Später Nachmittag. Gestern hatten
wir beide keine Zeit, aber heute soll das Wochenabschlussgespräch mit dem Neuro
– Oberdoch statt finden.
Ich auf dem grünen Stuhl, er
übereck. Das hat es jetzt schon eine Weile nicht mehr gegeben und es ist sehr
schön, mal wieder da zu sein.
„Mondkind, nur weil Du jetzt
nicht mehr hier bist, heißt das nicht, dass ich nicht mehr für Dich zuständig
bin…“, sagt er fast vorwurfsvoll. „Naja, ich wollte Sie auch nicht zu sehr nerven…“,
erwidere ich. Er erklärt, dass wir jeden Freitag ein Mal kurz darüber reden
sollten, was das PJ macht und wie es mir geht.
Ich berichte, dass ich
langsam doch auf der Station ankomme. Ich zwar zu Beginn meine Schwierigkeiten
hatte und immer noch nicht ganz angstfrei hierher komme, aber dass es in den
letzten beiden Tagen schlagartig sehr viel besser geworden ist. Zum Glück
spricht er nicht an, dass ich ab nächster Woche wieder woanders sein soll und
ich spreche es auch nicht an…
„Mondkind, Du kannst Dir das ja
noch ein bisschen anschauen, wenn Du magst, aber was hältst Du denn davon, wenn
Du langsam mal Deine Bewerbung schreibst…?“ Für einen Augenblick sitze ich da
ganz gelähmt. Die meinen es also ernst – die wollen mich wirklich. Und er auch –
trotz der Schwierigkeiten. Wir besprechen kurz, wen ich ansprechen muss und wo
ich die Bewerbung abgeben soll.
„Und wie geht es Dir sonst so?“,
fragt er.
Ich erkläre, dass es im Moment
einigermaßen geht. Die Fahrt in die Studienstadt nächste Woche stresst mich ein
wenig, weil ich genau weiß, dass ich wieder zwischen den Welten hängen werde. Im
Moment fühle ich mich hier wirklich sicherer, aber ein bisschen vermisse ich
die Studienstadt schon auch.
Und meine Schwester stresst mich
auch ein wenig. Wahrscheinlich merkt sie es gar nicht, aber wenn ich höre, dass
sie zwischen 7 und 21 Uhr auf der Arbeit ist, bis dahin lediglich einen Kaffee
getrunken und einen Apfel gegessen hat und am Wochenende nur an der
Doktorarbeit werkelt, triggert das ziemlich. Irgendwo habe ich immer noch im
Kopf, dass man nur eine Daseinsberechtigung hat, wenn man das Leben auf dieser
Grenze lebt. Und das mache ich gerade nicht. Ich achte darauf, genügend zu
schlafen, ausreichend zu essen und jeden Tag eine kurze Runde spazieren zu
gehen. Und die Doktorarbeit mache ich gerade fast gar nicht.
Und die Angst vor dem Januar –
die ist natürlich auch noch da. Dass die Therapeutin damals gesagt hat, dass
sie es im Januar wirklich nicht mehr mit mir macht, hat mir ein bisschen den
Boden unter den Füßen weggezogen. Es wäre wirklich eine wahnsinnig große Stütze
gewesen, wenn sie zumindest noch bis Mitte Februar geblieben werde. „Das habe
ich gemerkt“, sagt er und spielt wohl auf unser letztes Treffen in seinem Büro
an.
„Es fehlt halt eine Sicherung,
wenn ich wieder zurück bin“, erkläre ich. „Und wenn ich falle, dann falle ich…“
„Du kommst ja wieder…“, erklärt er. „Und hier hast Du Dein Netz ja schon…“
Irgendwie traue ich mich jetzt nicht ihn zu fragen, ob er sich als zugehörig
betrachtet. Und ein bisschen hat der Seelsorger schon Recht – ich vertraue
nicht darauf, dass es hält. Dass die Leute wirklich bleiben, wenn es ernst
wird.
Er ermahnt mich noch einmal, die
Zeit bis zum Januar zu genießen. Noch ist Oktober. 2 Monate noch. 1/6 des
Jahres.
Und jetzt… - hinsichtlich der
Bewerbung müssen viele Dinge bedacht werden. Wann fange ich an? Der Neuro –
Oberdoc sagt dazu, dass er beides okay fände. Wenn es sich sicherer für mich
anfühlt, schnell wieder zu kommen, kann ich im August anfangen. Wenn ich meine,
dass das Hangeln von Tag zu Tag dadurch nicht aufhört, fange ich eben Anfang
2020 an und kümmere mich in der Zeit darum.
Aber im Prinzip ist es halt nicht
nur meine Entscheidung. Es stellt sich die Frage: Würde die Klinik mich nehmen?
Das muss geklärt werden, denn die sind da ja teilweise ziemlich inkongruent.
Manchmal muss man Angst haben, dass sie mich sofort einkassieren, andere Male
heißt es „Naja, Frau Mondkind, Sie können aber nicht bei jeder Krise in die
Klinik.“ Ich muss auch überlegen, wie ich die Monate finanziell überbrücke. Und
wenn ich im August schon anfange zu arbeiten, muss ich mir zweierlei Dinge
bewusst sein: Es darf im Januar dann nicht schief gehen, weil Examen schieben
nicht mehr geht. Und es wird nie wieder so einfach und unauffällig sein,
nochmal eine Pause einzulegen. Wenn ich mit dem Arbeiten loslege, muss ich mir
einigermaßen sicher sein, stabil zu sein. Und wie kann ich das heute wissen?
Er verabschiedet mich ins
Wochenende. Heute ohne die – mittlerweile schon fast zum Ritual gewordene –
Umarmung. Ich hoffe, er nimmt es mir nicht übel, dass mittlerweile zwei
Schultern mein Gewicht tragen. Ich persönlich finde es für die Beziehung
zwischen dem Oberdoc und mir eigentlich positiv – das sorgt dafür, dass es auch
mal positive Gespräche gibt; so wie heute. Und nicht jedes Treffen in seinem
Büro im Desaster endet.
Einen guten Start in Wochenende
wünsche ich allen Lesern!
Mondkind
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