Zwischen Halten und Verlieren - Eine Prüfung und viel Reden
„Ich bin stolz auf Dich Mondkind“,
sagt er und nimmt mich in den Arm. Seine Hände auf meinem Rücken, seine Arme,
die an meinem Oberkörper liegen. Und für einen Augenblick, ein paar Sekunden
nur, fühlt es sich sicher an. Nach diesen letzten zwei Tagen, die so turbulent
waren.
Beginnen wir beim Gestern.
Bis halb sechs sind der
Seelsorger und ich mit Arbeiten beschäftigt, verschieben den Termin ein paar
Minuten nach hinten und kommen dann zeitgleich an der Kapelle an.
Soziale Kontakte – Lieblingsthema
von allen professionellen Helfern, von mir eher nicht so.
„Sie treffen sich also mit einem
Freund am Wochenende“, fasst der Seelsorger zusammen. „Was haben Sie vor…?“
„Ich weiß es noch nicht genau.
Bisschen in der Stadt spazieren gehen, zusammen einen Kaffee trinken; irgendwie
so etwas.“
„Was löst das jetzt in Ihnen aus?
Freut Sie das?“
„Naja, mich stresst es eher ein
bisschen. Zum Einen habe ich halt mit Kontakten sowieso sehr große Probleme.
Zwar suche ich immer Menschen um mich herum, aber wenn dann wirklich welche da
sind, wird es mir auch schnell zu viel. Das ist halt irgendwie so ein Nähe –
Distanz – Ding. Ist ein schmaler Grad. Und zum Anderen habe ich immer tausend
Dinge im Kopf, die mich daran hindern, mich wirklich darauf einzulassen. Wie in
etwa, ob Freizeit nicht zu unproduktiv ist, ob ich nicht in der Zeit etwas viel
wichtigeres hätte tun sollen, ob das dann nicht negative Konsequenzen hat. Ich
habe dann immer Angst, ich falle durch die nächste Prüfung.“
„Wie jetzt? Das letzte verstehe
ich nicht.“
„Naja, bei mir gibt es immer
einen Kausalzusammenhang zwischen Freizeit und Prüfung. Also zum Beispiel: Wenn
ich im PJ zu wenig lerne und mich zu viel mit anderen Dingen beschäftige, ist
es quasi Gesetz, dass ich durch das mündliche Examen falle.“
So wie er mich anschaut, hat er
so etwas noch nie gehört.
„Und woher kommt das?“, fragt er.
Ich soll den Antreiber in einem Bild beschreiben und dann erklären, was er wohl
will. „Naja, ich glaube, der Antreiber tut immer so stark, aber eigentlich ist
es die Angst, die ihn leitet.“ „Wovor?“, fragt er. „Vor dem Scheitern“,
erwidere ich leise.
„Verstehe ich das jetzt also
richtig“, fasst er zusammen während der aufsteht und sich den ersten Stuhl
nimmt. „Sie stehen jetzt also in der Mitte“, sagt er und stellt den Stuhl in
den Raum. „Und vor Ihnen steht die Angst vor der Zukunft und hinter Ihnen das
was Sie antreibt…“, wiederholt er mein eben Gesagtes und gruppiert einen Stuhl
vor den Stuhl, den ich abbilde und einen dahinter.
Ich nicke.
„Jetzt kommen Sie mal her und
schauen sich die Situation von außen an. Was sagen Sie dazu?“
„Naja, ist eher nicht so gut…“
„Sie sind da ziemlich gefangen, würde
ich mal sagen und haben da eine ganz undankbare Position“, erklärt er.
Ich schaue es mir eine Weile an.
„Ich glaube, diese Stühle, die wir hier ständig hinstellen, verdeutlichen das halt immer so. Ich habe so oft das Gefühl, eigentlich dürfte es mir gar nicht
gehen, wie es mir geht, aber wenn ich mir das so anschaue, ist es halt echt
nicht schön.“
„Und was können Sie da jetzt
machen?“
Ich erkläre, dass wir es über die
kognitive Ebene schon unzählige Male versucht haben. Ich weiß, dass man Pausen
machen muss, sich auch mal mit anderen Dingen beschäftigen sollte und damit am
Ende nicht nur glücklicher, sondern auch erfolgreicher ist. Aber ich bekomme
den gedanklichen Sprung nicht hin, das auch auf mich selbst zu beziehen.
Und sehr viel mehr fällt mir nicht
ein. Denn weder scheint die Zukunftsangst verrückbar zu sein, noch kann ich den
Stier hinter mir, den Antreiber, stoppen. Es gibt Menschen die sagen, dass das
ganze System einmal komplett zusammen fallen und dann neu aufgestellt werden
muss. Aber das ist schon eher die drastische Lösung.
„Sie müssen das machen wie im
Stierkampf“, erklärt der Seelsorger irgendwann. „Sie müssen da so eine Wand
aufstellen, über die sie mal kurz drüber hüpfen können, um dem Stier zu
entkommen.“
Er holt zwei neue Stühle und
stellt sie neben mich. „Jetzt stellen Sie sich einfach mal vor, da gäbe es
Menschen, die Sie nehmen, wie Sie sind. Die nicht den Perfektionismus erwarten.
Die sagen: Du darfst scheitern und ich bin immer für Dich da. Egal was
passiert. Wie fühlt sich das an?“
„Naja… - schon ein bisschen
erleichternd und befreiend“, gebe ich zurück. „Man kann halt nur bis zu einem
bestimmten Punkt fallen. Ich hingegen habe halt echt verloren, wenn ich es
nicht schaffe.“
„Genau und deshalb suchen Sie
immer Menschen, die Sie trotzdem halten und wertschätzen. Wie ihr Oberarzt zum
Beispiel. Oder ich. Wir wissen alle, dass Sie viel können, dass Sie eine
wunderbare Ärztin werden, aber wir wissen auch, dass es da eine ganz
zerbrechliche Seite gibt und das ist okay und macht Sie nicht weniger
wertvoll.“
„Und das ist wahrscheinlich der
Grund, warum jede Änderung des Außens zu absoluten Katastrophe wird“, ergänze
ich. „Weil die Achsen sich dann wieder verschieben und die Positionen neben mir
weg fallen.“
„Ich möchte Ihnen den Glauben ja
nicht aufzwingen“, legt er los, „aber wenn Sie sich mal auf den Gedanken
einlassen, dass es da wirklich etwas Höheres gibt. Dass es da jemanden gibt,
der Sie auch mit all Ihren Schwächen annimmt…“
Das ist dann immer der Punkt, an
dem ich nicht mehr mitkomme. Wenn man 25 Jahre mit dem Glauben nicht in
Berührung kam, ist es einfach schwer, da in irgendetwas zu vertrauen.
An der Stelle hören wir auf. Eine
Lösung ist es nicht. Aber es verdeutlicht das Problem und es zeigt mir: Es sind
alles keine Hirngespinste, die ich da habe. Für mich ist das ja alles real da.
Und dann „darf“ man sich da auch etwas zerquetscht fühlen und dann darf man
auch Angst haben, die Situation zwischen diesen beiden Stühlen irgendwann nicht
mehr bewältigen zu können.
Dass er sich als Teil der Achse,
die quer zur „Problemachse“ steht sieht, verdeutlicht sich dann nochmal bei der
Terminfindung. „Nächste Woche wird es schwierig, da bin ich drei Tage nicht
da.“ „Naja, dann macht man es die Woche darauf“, bemühe ich mich schnell zu sagen. „Nee wir finden schon was…“, erwidert er. Und irgendwie bin ich ihm in dem Moment
unglaublich dankbar, dass er das System der Ankerpunkte verstanden hat, ohne
dass ich es jemals erklärt hätte. Die unterstützende Achse konstant und
regelmäßig zu halten ist das, was ich im Moment brauche
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Blick über den Campus auf dem Heimweg am Abend |
Heute.
Nachdem die mündliche Prüfung fünf
Mal hin und her geschoben wurde, fand sie um die Mittagszeit statt, als ich
schon leicht nervös geworden bin, dass sie eventuell doch genau in das
Telefonat mit der Therapeutin fällt.
Bis 10 Minuten vor der Prüfung
war nicht klar, welchen Patienten ich nehme. Jeder Oberarzt hatte da andere
Vorstellungen und die Assistenten hatten sich auch noch eingemischt. Gestern
wurden es dann plötzlich die Enzephalitiden, wo ich wirklich etwas Panik
bekommen habe, da ich mich dort nicht gut auskenne. „Mein“ Oberarzt kam ein
paar Minuten vorher nochmal vorbei. „Mondkind, Du bist immer nur so halb
vorbereitet. Jetzt setz Dich dahin und lies das.“ Nach der Ansage habe ich dann
gar nichts mehr gelesen. Ich bin nie halb vorbereitet und ich kann wenig dafür,
dass mir alle Assistenten auf der Station immer dazwischen quatschen, bevor ich
zu Wort komme. Gestern hatten wir einen Patienten mit Neuritis vestibularis,
der aber mit Verdacht auf Schlaganfall kam. Nach meinem Schwindelreferat
letztens, der klinischen Untersuchung und der ersten negativen bildgebenden
Diagnostik war mir das schnell klar, dass es differentialdiagnostisch in
Betracht kommt und sehr wahrscheinlich ist, aber natürlich hat keiner die
Studentin zu Wort kommen lassen.Obwohl es mein Patient war und ich mich wirklich gefreut habe so einen Fall zu bekommen und zwischen den Schlaganfällen auch mal etwas anderes heraus fischen zu können.
Es ist einfach nicht fair dann zu
behaupten, dass ich nicht vorbereitet bin. Einer der Assistenten sollte dann
neben meinem Oberarzt noch bei der Prüfung dabei sein. Später am Nachmittag hat
er mir erzählt, dass mein Neuro – Oberdoc wirklich Angst hatte, dass ich das nicht
hinbekomme und er mir in dem Fall aushelfen und die Sache retten sollte.
Aber wenn man mich mal zu Wort
kommen und ausreden lässt und ich weiß, dass ich jetzt auch wirklich dran bin,
klappt es auch. Ich konnte den Fall vorstellen, begründen warum welche
Diagnostik gemacht wurde und auch fachliche Rückfragen beantworten. Ich nehme an, mir glaubt hier auch keiner, dass ich in der Kreisklinik die Notaufnahme sehr selbstständig gemacht habe. Aber da wusste ich einfach immer: Es ist mein Patient, meine Anamnese, meine Untersuchung. Wenn ich etwas brauche frage ich und sonst lässt man mich machen. Ich muss aber nirgendwo dazwischen springen.
Leider hat nur der
Bewertungsbogen überhaupt nicht zur Prüfung gepasst. Wie soll man eine
körperliche Untersuchung bewerten, wenn die gar nicht Gegenstand der Prüfung
war? Und wie soll man bewerten, ob ich empathisch mit dem Patienten umgegangen
bin, wenn es zu einer Patienten – Arzt – Kommunikation gar nicht kommen sollte?
Ich habe es alles nicht ganz
verstanden, aber die Note ist in Ordnung, auch wenn mir klar gemacht wurde, dass
ich mich darauf nicht ausruhen soll. Und der Kollege meinte hinterher, dass ich
es gut gemacht habe.
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Teil des Script - Stapels zu Vorbereitung... |
Nachdem der Oberarzt am Morgen
selbst so gestresst mit und von mir war und ich ihn mit einer Härte erlebt
habe, die sonst nicht da ist, habe ich mich kaum getraut an seinem Büro zu
klopfen und ihn nach dem Schlüssel zum Bereitschaftsraum zu fragen.
Aber da es diesmal wirklich
wichtig war, dass es kein Flurgespräch wird, habe ich doch mein Hasenherz
zusammen genommen. Er war auch wieder ganz anders… - wahrscheinlich waren wir
beide gestresst gewesen von der Situation.
Die Vorwahl der Studienstadt, die
ich auf meinem Display eingebe. Der Draht in eine andere Welt. Und eine
vertraute Stimme der Therapeutin am anderen Ende der Leitung. Und wenn man die Augen schließt
und sich vorstellt ihr gegenüber zu sitzen, fällt es gar nicht so auf, dass man
mehr als 400 Kilometer weit weg ist. Aber es ist eine Distanz die ausreicht, um
das Ganze von meiner Seite aus strukturierter zu gestalten. Ich rede nur kurz
über die Prüfung und komme dann schnell zu meinen Themen. Ich erkläre, dass ich
die Stelle in der Neuro zumindest mündlich habe und der Oberdoc, der das in die
Wege leiten soll, Bescheid über meinen Zustand weiß und mir sogar zu einer Pause
rät. Also habe ich die Neuro aus dem Rücken und Zeit nach dem Examen. Da kann man
über Klinik nachdenken. Wo sich dann auch viele Fragen stellen: Welche
Fachrichtung, welche Station, funktioniert es als Promotionsstudentin beim
alten Oberarzt, wie macht man das finanziell? Aber so schnell möchte sie gar
nicht sein. Erstmal brauche man eine Pro- und Contra – Liste für und gegen
Klinik, um eine fundierte Entscheidung zu treffen. Ich persönlich muss ganz
ehrlich sagen – ich brauche da keine Liste. Es ist nicht so, dass ich mir nach
dem Examen nicht etwas Besseres vorstellen könnte, aber mit der aktuellen
Situation macht das einfach keinen Sinn. Mit einem Rucksack nach Neuseeland zu
reisen, wird mich nicht weiter bringen, außer dass ich das wieder irgendwie
überlebe. Die letzten Reisen waren immer dieselbe Katastrophe. Ich weiß halt
nicht, wieso ich mich da immer rechtfertigen muss. Es ist ja nicht so, als dass
ich nicht selbst genug Zweifel hätte „krank genug“ für die Klinik zu sein. Aber
dieses „nee das ist ja alles nicht so schlimm…“ – ich weiß es nicht. Es steckt
halt keiner in meiner Haut.
Ich erkläre ihr auch kurz das
Konzept der Achsenverteilung, das wir gestern erstellt haben und dass es – wenn
man es von außen betrachtet – schon klar ist, wieso ich da immer das Gefühl
habe von zwei Seiten erschlagen zu werden. Und dass es nur eine logische
Reaktion ist zu versuchen, eine andere
Achse quer dazwischen zu legen und eben erstmal zu versuchen Menschen zu
finden, die mittragen, solange wie ich mich selbst noch nicht halten kann. Und vor dem Hintergrund der Jahreswechsel ein Problem
wird. Denn es wird nichts mehr sein, wie es war. Neuer Job, neues Krankenhaus,
neue Leute, wieder einleben in der Studienstadt, Therapeutenwechsel. Kompletter
Umbruch, komplettes Wegbrechen der Achse. Ich erkläre, dass mir ja schon geholfen wäre, wenn zumindest eine
Säule stehen bliebe – zum Beispiel sie noch einen oder anderthalb Monate für
mich als Ansprechpartner zur Verfügung stünde – solange, bis ich wieder ein
paar Steine aufeinander gestellt habe und irgendetwas gebastelt habe, das
wenigstens ein bisschen trägt. Das anzusprechen ist riskant. Wenn sie „nein“
sagt, wird das wahrscheinlich tatsächlich eine Katastrophe am Ende des Jahres.
Aber wenn sie „ja“ sagte, mache ich mich wochenlang umsonst verrückt, wenn ich
es jetzt nicht frage. Aber sie bleibt bei einem „nein“.
Ich weiß es nicht… - der nächsten
Krise schon ins Gesicht schauen zu können, zu wissen, dass es wieder Tage geben
wird, in denen es tatsächlich um das Überleben geht, weil das jedes Mal eine
existenzbedrohende Sache ist, ist nicht einfach. Und wir werden das gar nicht
ausdiskutieren können. Soweit ich das gerade sehe, wäre sie der einzige Faktor,
der irgendwie verrückbar wäre, aber ich kann die Verantwortung unmöglich auf
sie abschieben – das wäre absolut unfair.
Es kommt von ihrer Seite das, was
immer kommt: Sie müssen sich ein Konzept erstellen, Sie müssen die Tage planen,
Sie müssen langfristige Lösungen finden.
Ein Konzept suche ich seit Jahren
und ich würde mir das nicht jedes Mal antun, wenn es das gäbe. Und das wird es
bis Dezember nicht geben. Wir kommen nicht weiter.
Und so endet das Telefonat dann
auch. Und dann brauche ich erstmal ein paar Minuten. Solange, bis die Augen
nicht mehr ganz so rot sind und ich nicht mehr ganz so fertig aussehe, wie ich bin.
Ich laufe zurück zum Büro des
Oberarztes, um ihm zu sagen, dass er den Raum wieder abschließen kann. „Mondkind…“,
sagt er mit fragendem Blick, als er mich sieht. „Was ist los, Ihr habt doch
lange geredet?“ „Naja…“, entgegne ich, „das heißt aber nicht, dass es mir
danach besser geht…“ Ich lasse mich ungefragt auf den grünen
Stuhl fallen, ziehe das Knie hoch und stelle meinen Fuß auf die Sitzfläche. „Das ist einfach schwierig und es gibt keine Lösungen. Ich renne
da in etwas rein und ich weiß, dass es die nächste Katastrophe wird…“
Und dann darf ich es nochmal
erklären. „Ich meine“, schließe ich, „für die Leute, die sich das von außen
anschauen, mag das ja amüsant sein. Und die sagen sich dann: Ach lass Sie mal
rumspinnen, in einem Monat hat sie sich wieder beruhigt. Aber die leben dieses
Leben nicht. Und die sind in diesem Monat nicht ich. Ich kann das nicht mehr.
Und ja ich weiß, es ist nicht das erste Mal. Und ich weiß, bisher ging es am
Ende immer. Aber das macht es nicht einfacher.“
Er schaut mich lange an. „Es ist
das letzte Mal Mondkind“, sagt er irgendwann, „Ziel ist das Ende des Studiums
und dann sehen wir weiter. Und Du nimmst Dir Zeit für Dich. Ich sage nicht,
dass es im Januar einfach wird. Aber zieh es einfach durch. Sag Dir: Das muss
jetzt einfach sein. Es wäre schade, so kurz vor dem Ziel doch nochmal zu
scheitern. Obwohl das auch kein generelles Scheitern wäre. Lediglich noch ein
Umweg und Du würdest das alles eben etwas weniger elegant lösen. Und Du bist so
stark und hast schon so Vieles geschafft, obwohl die letzten Jahre so schwer
waren. Heute habe ich ja gesehen, was aus Dir im spannenden Moment werden kann.
Ich habe mir echt Sorgen gemacht, dass Du die Prüfung nicht packst, aber
plötzlich stand da ein ganz souveräner und sortierter Mensch.“
„Ich hoffe es geht irgendwie…“,
sage ich leise. „und ich weiß, dass alles andere keine Option ist.“
„Ich glaube allerdings auch, dass
es bei Dir sein kann, dass Du kurz vor dem Ziel doch nochmal scheiterst im Sinne eines Einbruchs und Klinik. Da mache ich mir ein bisschen Sorgen“, sagt er. „Ich
finde, das sollte man auch ansprechen dürfen und manche Dinge verlieren ja
ihren Schrecken, wenn man sie einfach nur ausspricht. Du bist in den letzten
Jahren wie ein Spielball hin und her geworfen worden. Und natürlich hast Du
dadurch Dich selbst verloren. Du weiß überhaupt nicht, wer Du bist, was oder
wen Du magst. Und sich diesem Loch in sich selbst zu stellen, erfordert sehr
viel Mut. Ich glaube nicht, dass Du es bewusst machen würdest, aber es kann
sein, dass das Unterbewusstsein aus Angst davor sich dem stellen zu müssen,
diesen Zustand des Pingpong – Spiels noch eine zeitlang aufrechterhalten
möchte. Und dann könntest Du doch noch scheitern.“
„Naja, ich habe manchmal den
Verdacht, dass das vor dem Klinikaufenthalt so war. Ich war ja auf der
Zielgeraden. 16 Wochen und es wäre vorbei gewesen…“, gebe ich zu bedenken.
„Deshalb sage ich es…“ Und nach
einer Weile: „Mondkind, Du hast Dich so lange auf die Zeit hier gefreut. Ich
weiß, dass da ganz viele Ängste sind. Aber was kommt, das kommt sowieso. Und
versuche bis dahin einfach die Zeit hier ein bisschen zu genießen…ich weiß,
dass das nicht einfach ist. Aber versuch es…“
„Ich versuche es…“, sage ich. „mir
wird nur langsam klar, warum ich den ganzen Tag so müde bin. Bei dem, was ich
so den ganzen Tag im Kopf habe, ist es doch kein Wunder…“
„Du denkst generell viel zu viel…“
Und irgendwie holt mich dieses
Gespräch wirklich ein wenig zurück aus der Panik – Schleife, in der ich nach
dem Telefonat mit der Therapeutin war. Ich weiß, dass es nur noch wenige von
diesen Gesprächen dort unten geben wird. Ich auf dem grünen Stuhl und er
übereck. Einfach, weil ich jetzt die Station wechsle und wir kaum noch etwas
miteinander zu tun haben. Ich weiß auch, dass ich die Therapeutin nur noch
zwei- maximal drei Mal dieses Jahr sehe. Und der Dezember – Termin ist eine
Woche, bevor ich hier ohnehin die Segel streiche, aber wenn ich vor Weihnachten
nochmal kommen möchte, geht es nicht anders, weil ich bis zum Freitag vor Weihnachten
arbeite und sie ständig nicht kann. Ob das etwas wird, weiß ich nicht.
Aber ich bin dankbar für all die Worte und Gedankenanstöße aus der Zeit.
Aber ich bin dankbar für all die Worte und Gedankenanstöße aus der Zeit.
Ich weiß noch nicht, ob es alles
gehen wird. Ob ich diesen letzten Umbruch schaffe. Ich kann es nicht sagen.
Aber was kommt, das kommt sowieso. Und er hat Recht – es ist nicht änderbar und
ich sollte versuchen mich nicht verrückt zu machen. Und vielleicht hilft im
Januar wirklich der Gedanke, dass es das letzte Mal ist. Und dass es blöd wäre
auf der Zielgeraden zu scheitern. Und zu wissen, dass es vielleicht kein
Scheitern wäre, weil das wirklich dieses eine Mal zu viel wäre, sondern weil es
vielleicht nur die Angst vor der Auseinandersetzung mit mir selbst wäre. Denn
ich will das ja – die Auseinandersetzung. Ja, ich habe auch Angst davor, dass
ich es trotz allem nicht schaffe. Aber ich weiß auch, dass ich nicht ständig
durch den Druck vom Gestern und der Angst vor dem Morgen erdrückt werden kann.
Da muss es andere Lösungen geben.
Ich bedanke mich. Für seine Worte
und seine Zeit, für sein Dasein.
Wir stehen auf. Und er nimmt mich
in den Arm. Nach all den Turbulenzen der vergangenen Tage ein Ende, das
kurzzeitig trägt. Den Schmerz einfach ausschaltet. Und für einen Moment
leuchtet die Achse quer zwischen dem Gestern und dem Morgen auf.
Mondkind
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