Freies Klettern
„Vielen Dank für Deine Hilfe Mondkind und ein schönes Wochenende. Du
kannst Montag gern wieder kommen – einen festen Schreibtischplatz hast Du hier
ja.“Der Oberarzt der Station verabschiedet mich ins Wochenende.
Ich verkneife mir jetzt die Frage, wo ich bitte diese Woche geholfen
habe. Nehmen die das echt so wahr? Oder war das nur eine Floskel? Ich habe
eigentlich überhaupt nichts gemacht. Mir ein paar Neuro – Scripte zusammen
kopiert, in ein paar Büchern gelesen, irgendwelche Notizen gemacht, damit es
zumindest so aussieht, als sei ich beschäftigt.
„Ich werde Montag erstmal wieder hier hoch kommen. Der Oberarzt, der
die PJ – ler betreut, ist ja ab Montag auch wieder da – ich hoffe, dass er mich
nicht auf eine andere Station steckt…“
„Ja ich weiß, er möchte, dass Du viel rotierst. Jedenfalls hast Du
hier auf der Station immer ein zu Hause…“
Hat er gerade nicht wirklich so gesagt, oder? Er weiß nicht, welche
Schwierigkeiten ich mit dem Begriff zu Hause habe. Aber irgendwie berührt mich
die Aussage trotzdem.
Und dennoch bin ich froh, dass die Woche vorbei ist. Ich habe immer
Angst, beim Nichtstun erwischt zu werden. Aber mehr als nachfragen, ob ich
helfen kann, kann ich auch nicht. Und ich fühle mich halt ein wenig unnütz. Es
hat nicht wirklich Sinn, da die Zeit abzusitzen.
Aber darüber kann ich mir am Montag weiter Gedanken machen. Ich laufe
in mein Büro, ziehe die weißen Klamotten aus und schlüpfe stattdessen in meine
blaue Jeans und die karierte Bluse. Anschließend wähle ich einen Weg durchs
Krankenhaus, auf dem ich möglichst wenige Kollegen treffe und klopfe an die Tür
des Seelsorgers. Wir gehen einmal quer durch den Café – Bereich Richtung
Kapelle. Irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass die Blicke sämtlicher Leute
auf mir ruhen. Aber vielleicht ist es Einbildung.
Ich habe heute nicht wirklich einen Plan, worüber ich reden möchte. Es
ist irgendwie chaotisch. Das Wochenende war sehr gut und obwohl ich versuche,
die Momente festzuhalten und die Stimmung auf dem Level zu halten, rauscht sie
dann doch hinterher meistens umso mehr ab. Und im Moment bin ich einfach nur
durcheinander von mir selbst, weil ich das alles nicht so richtig verstehe. Zudem
läuft eben das PJ gerade auch nicht so richtig. Zusätzlich machen mich die Parkinson – Patienten ein wenig fertig, weil sie jedes Mal verdeutlichen, was da in der Familie
noch auf uns zukommt und jedes Mal, wenn ein zwischen 50 und 60 – jähriger Patient
als „jung“ bezeichnet wird, denke ich mir: Wenn die mal wüssten… Eigentlich ist
das bei mir in der Familie so auffällig, dass man es nach den Leitlinien
genetisch testen dürfte. Es bringt einen nur wahrscheinlich auch nicht so viel
weiter – außer, dass ich mir das mit der Neuro nochmal überlegen würde, denn
für die ist es wirklich eine Blickdiagnose.
Und im Moment ist es einfach schwierig, das Chaos auszuhalten und
dennoch habe ich das Gefühl keine Berechtigung zu haben, das Chaos nicht mehr
aushalten zu können. Andere Familien, die ich diese Woche kennen gelernt habe,
müssen viel mehr tragen.
Das Gespräch läuft etwas zäh und ich habe das Gefühl, dass er nicht
wirklich versteht, was Sache ist. Aber ich verstehe das ja auch nicht. Er sagt,
er bewundert mich für meine Stärke, dass ich es trotz aller Schwierigkeiten der
vergangenen Jahre immer noch schaffe, mich weiter den Berg hochzuziehen. Und dass
ich gut mit den Patienten zurechtkomme – gestern habe ich anderthalb Stunden
mit der Tochter einer Alzheimer – Patientin geredet. „Sitze und Lausche“ hat
eine Oberärztin der Kreisklinik mal zum Thema Angehörigengespräche gesagt und
das hat gut funktioniert. Sie musste es alles nur mal erzählen. Und ich habe
ihr am Ende gesagt, sie soll sich mal einen Zettel nehmen und all die positiven
Erlebnisse mit ihrer Mutter, die sie mir gerade erzählt hat, aufschreiben. Denn
das ist das, was bleiben wird. Und es wird wahrscheinlich immer weh tun, daran zurück
denken. Und im gleichen Moment wird es doch auch schön sein, weil die
gemeinsame Zeit so wertvoll war.
Allerdings bewundere ich diese Stärke eher weniger sondern befinde
oft, dass sie mir eigentlich im Weg steht, weil das so nie anders wird, als sich
von Punkt zu Punkt zu hangeln, wenn das immer irgendwie funktioniert. Aber
funktionieren kann halt nicht das Leben sein. Das kann er allerdings nicht so
richtig nachvollziehen.
„Es ist so schade, dass Sie nicht sehen können, wie viel Stärke da in
Ihnen ist. Und wie viel Gefühl da ist – weil Sie immer meinen, dass Sie so
wenig fühlen. Wenn Sie das nicht hätten, könnten Sie nicht so mit Patienten
reden…“
Er zeichnet ein Bild von einem Bergsteiger, der sich Stück für Stück
an der Bergwand hinauf hangelt. „Wie machen Sie das eigentlich?“, fragt er
nochmal. „Woher nehmen Sie die Stärke?“ Ich erkläre ihm, dass ich einerseits
weiß, dass ich weiter muss und es eben auch immer Etappen sind. „Nur bis zum schriftlichen
Examen, dann muss sich etwas ändern.“ „Erstmal nur bis Ende Dezember – da wäre
nochmal – wenn es überhaupt nicht geht – eine Möglichkeit.“ „Nur bis nach dem
PJ.“ Wenn jemand sagen würde: „Noch ein Jahr Mondkind“, dann würde ich daran
glaube ich scheitern.
Er bleibt beim Bild des Bergsteigers. „Mondkind, was machen denn
Bergsteiger, um nicht abzustürzen?“ „Naja, Sie sichern sich ab.“ „Und wer
sichert Sie?“. Schweigen. Langes Schweigen. „Ich glaube niemand so richtig…“
„Mh…“, sagt er und nickt. „Ich glaube das ist der Punkt. Sie betreiben
da so ein bisschen free climbing ohne Sicherung. Und wenn Sie abstürzen, dann fallen Sie in
den Abgrund. Dass das sehr anstrengend ist und Angst macht, ist doch völlig
verständlich. Ich wäre auch müde an Ihrer Stelle."
Ich überlege lange. „Vielleicht ist es nicht die Angst vor der
Zukunft. Vielleicht ist das hier der Haken. Die Angst daneben zu greifen. Und
zu fallen.“
„Und was passiert dann? Spielen wir den worst case durch… Was
passiert, wenn ein Bergsteiger hunderte Meter in die Tiefe fällt?“
„Naja… - überleben wird man das eher nicht…“, gebe ich vorsichtig zu
bedenken.
„Genau…“
Er sieht mich lange an. „Wissen Sie“, beginne ich, „das ist das, was mich
immer wieder beschäftigt. Werde ich die nächste Stufe überleben? Wenn ich
daneben greife, schaffe ich das nicht. Und ich frage mich jeden Herbst, wenn
die Blätter von den Bäumen fallen, ob ich nochmal erlebe, wie die Bäume wieder
grün werden. Ja, bisher habe ich es immer geschafft. Aber irgendwann wird der
Punkt kommen, an dem es dieses eine Mal anders ist… Und das glaubt mir immer
keiner – aber auch der beste Bergsteiger kann irgendwann mal einen Fehler
machen.“
„Sie brauchen also ein Sicherheitsnetz. Einmal sind Sie ja schon
hinein gefallen. Und man stellt sich dieses Zurückfallen immer so schlimm vor,
aber das ist es nicht. Sie haben so viel Kraft, Sie sind wieder aufgestanden
und haben weiter gemacht. Und jetzt haben Sie ein halbes Jahr Verzögerung – was
ist das schon…?“
„Ich glaube aber nicht, dass das System Psychiatrie nochmal trägt. Das
wäre eine Bombe, die ich da in die Familie schmeiße. Sie wollen nicht wissen,
was damals los war… Ich verspreche der Therapeutin zwar immer brav, dass ich
dort anrufe oder in die Psychiatrie fahre, aber manchmal ist das moralisch
eigentlich nicht vertretbar. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob da irgendwann der
Automatismus anspringt und ich das wirklich mache, aber versprechen kann ich es eigentlich nicht. Das kann ich halt so nicht
sagen vor Leuten, die mich dann womöglich zwangseinweisen würden.“
Er erklärt, dass die anderen nicht zählen. Auch wenn man sich von der
Familie wahrscheinlich nie völlig befreien kann.
„Ich baue Ihnen jetzt mal ein Netz. Wenn es schlimm wird, dann sagen
Sie sich zuerst, dass sie ganz viel Kraft in sich haben und das bis jetzt immer
geschafft haben. Und wenn das nicht reicht, dann rufen Sie eine Freundin an.“
Über den ersten Punkt bin ich – wenn es brenzlig wird – meistens allerdings
schon hinweg und Freunde damit zu belasten, ist halt immer eine schwierige
Sache. Vor allem, wenn diese Freunde auch genug mit sich selbst zu tun haben. Was
sollen die denn machen?
„Und wenn das nicht geht, oder nicht reicht, dann rufen Sie mich an
für die Zeit, in der Sie noch hier sind – also bis Jahresende“, erklärt er. „Können
Sie mir das versprechen…?“ Oh nein, jetzt geht das wieder los. Meistens knallt
es halt abends oder nachts und ich klingele mit Sicherheit keinen aus dem Bett.
„Naja – solange, wie ich Sie im Haus erreiche…“, sage ich. Das lässt er gelten,
obwohl es für die nächsten zwei Wochen schonmal nicht gilt, weil er da im
Urlaub ist.
„Und wenn das alles nichts gebracht hat, dann gibt es immer noch die
Psychiatrie…“
„Sie haben dieses Sicherheitsnetz – Sie müssen nur lernen darauf zu
vertrauen und es zu nutzen. Ich weiß, Sie haben nicht viel – auf psychologisch
würde man es Urvertrauen nennen – mit auf den Weg bekommen, aber ein bisschen
was davon ist da. Und in das Sicherheitsnetz zu fallen, ist keine Schande. Sie
haben bisher alles so gut gemacht. Und ich weiß, dass Sie das für sich selbst
auch richtig finden würden, das Netz zu nutzen – Sie haben ja selbst gesagt,
dass Sie die Psychiatrie fast ein bisschen erleichternd fanden - und Sie es
wohl nur wegen der anderen nicht tun. Aber vergessen Sie die anderen – es geht
in dem Fall nur um Sie. Aber daran arbeiten wir noch.“
Ein bisschen muss ich mich bemühen, nicht zu weinen. Insbesondere,
weil wir da schon anderthalb Stunden sitzen und er sicher langsam nach Hause
möchte. Da ist einerseits so viel Verzweiflung, weil ich nicht vertrauen kann,
dass es trägt. Und andererseits haben wir den Knackpunkt der ganzen derzeitigen
Problematik nochmal beleuchtet und – nachdem er identifiziert war – nach Lösungen
gesucht. Und mir wurde deutlich gemacht – ich muss nicht von dem Berg fallen,
wenn es alles irgendwie nicht klappt. Ich muss nur darauf vertrauen, dass mich
ein paar Meter unter mir jemand auffängt und dass ich stark genug bin mit etwas
Starthilfe weiter zu klettern. Und irgendwann werde ich ankommen. Und es wird
auch irgendwann leichter, meinte er. Wenn das Studium vorbei ist, die ganzen
Examen, die Ausbildungsphase, in der man sich ständig beweisen muss, nicht
weiß, wo man in der Zukunft einen Job findet und dann noch mit Beziehung oder
dergleichen beschäftigt ist.
Es fällt mir immer noch schwer. Aber ich weiß, es gibt eine
Rettungskette. Ich muss nicht in die Tiefe fallen, wenn ich akzeptieren lerne,
dass ein Stück fallen okay ist.Und das ist vielleicht eine Take - home - message für jeden. Es ist definitiv die bessere Alternative als freies Klettern ohne Sicherung. Jede Sicherungskette mag individuell sein, aber professionelle Hilfe kann zumindest in Deutschland am Ende jeder Kette stehen.
Jetzt hat er erstmal zwei Wochen Urlaub. Am 9. November sehen wir uns
wieder. Und obwohl mich die lange Pause gerade ziemlich stresst, ist das
vielleicht gut so. Das darf nicht zu sehr in die Abhängigkeit rutschen. Umso
schwerer wird es dann, diesen Ort hier loszulassen.
Mondkind
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Parkspaziergang letzte Woche... |
Bildquelle: Pixabay
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