Der ganz normale Stationswahnsinn...


Ich stehe noch mit roten Socken im Arztzimmer und befestige gerade mein Namensschild am Kasack.
Plötzlich klopft es und die Tür öffnet sich. Ein erleichtertes Seufzen vom Pfleger. „Sind Sie schon im Dienst...?“, fragt er. „Naja… - so halb“, entgegne ich – unsicher, was er jetzt von mir will.
„Da wurde eine Patientin schon zum MRT abgerufen – wir brauchen noch eine Nadel…“, erklärt er hastig. „Ja ich komme“, sage ich. Der Transportdienst ist auch schon da, das Bett steht quer im Zimmer und die Patientin liegt ebenfalls fast quer im Bett.
Na super. 
Der zweite Blick des Tages fällt in die Mails. Der Oberarzt möchte noch eine Ergänzung in einem Brief – die Mail kann gestern nur wenige Minuten nachdem ich gegangen bin, reingeflattert sein. Da die Patientin rasch verlegt werden soll, muss das wahrscheinlich noch vor der Frühbesprechung passieren. Also mache ich das auch noch, schaue im Anschluss schnell bei einer mir noch unbekannten Neuaufnahme von gestern vorbei, werfe einen Blick auf die Medikamente, erhebe eine kurze Anamnese, untersuche sie grob neurologisch und dann muss ich auch erstmal in die Frühbesprechung.

Danach muss ich bei einer Patientin noch kurz Blut abnehmen, mit der Neurochirurgie telefonieren und meine Visite vorbereiten und dann ist es auch schon 10 Uhr. Zeit für die Visite. Bis dahin war der Tag noch okay.

Visite.
Wir besprechen mit einer Patientin nochmal die Blutverdünnung nach ihrem Schlaganfall. Sie ist schon speziell… - das wusste ich schon vorher… - aber das? „Also ich darf ja nicht einfach irgendeine Blutverdünnung nehmen, weil bei mir ja eine Gerinnungsstörung bekannt ist…“ Bitte was… - das höre ich gerade zum ersten Mal. Und dann erzählt sie ausschweifend die ganze Geschichte, die eigentlich mehr ihren Sohn betrifft. Der Oberarzt schaut mich immer mal mit einem irritierten Seitenblick an und ich schaue bestimmt mindestens genauso irritiert zurück. „Mondkind…?“, fragt er irgendwann. „Ich telefoniere…“, erkläre ich, mache mir eine Notiz und schaue nebenbei nochmal die alten Briefe durch. Es ist an keiner Stelle erwähnt und sie ist sogar schon operiert worden, ohne dass die Kollegen davon scheinbar etwas wussten.
Nächste Patientin. Die Patientin hat Embolien in der Vorgeschichte – nimmt aber keine Blutverdünnung. Wieso? „Naja, das ist ja ein Medikamentenplan von letzter Woche, den ich da vom Hausarzt habe. Ich nahm an, dass das im Rahmen des Tumorgeschehens war und man die Blutverdünnung danach weg lassen konnte, weil die Ursache ja beseitigt war…“ Das gefällt dem Oberarzt augenscheinlich auch überhaupt nicht. „Ich telefoniere…“, erkläre ich und mache mir eine Notiz.
Nach einigen weiteren Aufträgen sind wir durch mit meinen Patienten. Ich muss jetzt erstmal ein CT vorziehen lassen, klinke mich kurz aus der Visite aus und laufe zum Arztzimmer. Kaum sitze ich, steckt eine Mitarbeiterin den Kopf zur Tür herein. Diejenige, dessen Angehörige bei mir in Behandlung war. Die mittlerweile eigentlich verlegt ist. Und der – weil sie so schlechte Venen hat – ich heute das Blut erst kurz vor der Verlegung abnehmen konnte, weil die Pflege es nicht geschafft hat. Daher habe ich die Ergebnisse noch nicht gesehen. „Mondkind, kannst Du mir das erklären?“, fragt sie und hält mir den Zettel unter die Nase, auf dem einige Werte gelb markiert sind, während ich noch die Radiologen an der Strippe habe.
Aus dem Augenwinkel sehen ich es. Akutes Nierenversagen. Fuck… - wo kommt das denn jetzt her? Vor zwei Tagen war doch noch alles in Ordnung. Nierenwerte eines älteren Menschen eben, aber keine Katastrophe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was mir da in den letzten beiden Tagen die Niere zerschossen hat. Ja, die Frau hat eine Liste von mindestens 15 Medikamenten und mir ist durchaus die Idee gekommen, die etwas zu verschlanken. Allerdings habe ich dazu viel zu wenig Erfahrung. Da stand noch ein leicht pathologischer Urin im Raum, weshalb ich das im Blick hatte und aufgepasst habe, dass sie genug getrunken hat.
In der Reha ist man natürlich alles andere als begeistert und die Kollegin setzt sofort Chef, Oberarzt und Assistenzarzt auf das Problem an. Und es steht mein Name unter dem Brief. Jetzt weiß die Chefetage also bevor ich es wusste, dass da etwas ziemlich schief gelaufen ist.
Schuldgefühle… - was hätte ich denn jetzt anders machen können? Was hätte ich eher sehen müssen? Ich habe ihr doch schon alle zwei Tage Blut abgenommen – trotz der Tatsache, dass das mit ihren Venen für alle Beteiligten eine Zumutung war. Aber ich habe eben immer Angst, etwas zu verpassen. Und im Zweifel kann man wohl nie schnell genug sein.
Wir warten also, bis der Chef mich morgen einen Kopf kürzer macht. Und warum muss das unbedingt bei der Angehörigen einer Mitarbeiterin passieren… ? Wo ich doch versprochen habe, gut auf sie aufzupassen…

Alle meine Patienten sind im Moment ein bisschen… verkorkst…
Die eine rückt erst quasi am Entlasstag mit ihrer Gerinnungsstörung um die Ecke – und wenig später wird mir der Hausarzt erklären, dass er das gerade auch zum ersten Mal hört. Eine andere Patientin hat eine Metastase im Kopf, aber ob der Primärtumor kurativ oder palliativ behandelt wurde, geht endgültig aus keinem Brief hervor und jeder – Hausarzt, die Fachabteilung, in der sie operiert wurde und die Strahlentherapeuten sagen mir etwas anderes – vermutlich, weil sich jeder gescheut hat, ehrlich zu sein. Und dann kommen die Neurochirurgen mit einer Empfehlung um die Ecke, die auch schwierig umsetzbar ist. Und die Familie… - ja, was sagt man der eigentlich? Es gilt geschickt zu umschiffen, dass ich als Ärztin eigentlich keine Ahnung habe, was da los ist.
Wir brauchen also erstmal eine fachliche Stellungnahme zum Primärtumor, aber da es die Fachrichtung nur als Belegabteilung bei uns gibt, bekomme ich da am späten Nachmittag auch keinen mehr an die Strippe. Ich hoffe, dass ich da morgen irgendwen bewegen kann…

Zumindest hat mich heute am späten Nachmittag doch tatsächlich noch ein Kollege aus der Gerinnungsambulanz zurück gerufen und mit mir zusammen besprochen, wie wir die Patientin mit der fraglichen Gerinnungsstörung, die bei ihr wohl doch nie offiziell diagnostiziert wurde, behandeln können. 

Schon etwas älter, aber an den Arbeitszeiten hat sich nicht wirklich etwas geändert...
Morgen wird  auch ein langer Tag und Freitagabend ist Fortbildung... - keine Zeit, die Kopfschmerzen abzuschütteln...


Zwischendurch schreibe ich der Therapeutin aus der Studienstadt nochmal eine Mail – die ist nämlich diese Woche wieder da, nachdem sie letzte Woche im Urlaub war. Sie hasst telefonieren, macht es meist aber doch, wenn ich sie in einer Mail höflich darum bitte. Und Mail schreiben kann ich meist auch dann noch, wenn ich sonst nichts mehr kann, weil ich mir sage, dass ich damit ja niemanden akut belästige. Man kann Mails schließlich auch überlesen, sollte man schon beim Anblick meines Namens im Absender die Augen verrollen müssen.
Ich soll sie anrufen. Nachmittags. Ich habe keine Ahnung wo, aber langsam ist es mir auch egal. Ich wähle die Stationsküche. Irgendwie scheint mir das ein geeigneter Ort zu sein, da die Patienten ja ohnehin verkabelt auf den Bett liegen sollten. Tun sie nur offensichtlich leider nicht. Wir werden ständig gestört.
Einschätzung der Situation am Telefon ist natürlich schwierig, sagt sie. In einigen Hinsichten scheinen die Anforderungen an mich schon sehr hoch zu sein. Verständlich ist auch, dass einen der Job am Anfang komplett überfordert. Aber man sollte natürlich Hilfe bekommen und ernst genommen werden. Und nicht die Briefe ohne befundetes EEG zurück bekommen, mit dem Hinweis das zu tun, obwohl ja wohl klar sein muss, dass ich noch nicht der Experte sein kann. Oder anzumerken, mich dann eben im Januar auf eine andere Station zu versetzen, wenn ich es mir mit den Diensten nicht zutraue. Strafversetzung wegen Unzulänglichkeit…  Dann ist es halt auch deren Job sich Gedanken zu machen, wie sie mich fit bekommen. Ich muss nicht alles können, nur weil man das von mir erwartet, sagt sie.
Wir kommen auf das Thema Suizidalität zu sprechen. „Ich halte das für einen Ausdruck von absoluter Überforderung“, erklärt sie. „Das ist bei Ihnen ja auch jetzt nicht das erste Mal…“, ergänzt sie. „Ich weiß… - und ich weiß auch, dass man das langsam nicht mehr ernst nehmen kann…“, leite ich ein. „Ernst nehmen muss man das immer…“, wirft sie ein. Und ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen. „Ich halte nur diesen Druck dahinter langsam nicht mehr aus. Weil sich das so real anfühlt. Weil mich das so traurig macht, was die Bilanz von so vielen Jahren Drehen und Wenden der Situation ist, bis es endlich mal passt. Und es sich gleichzeitig so friedlich anfühlt, das nicht mehr tun zu müssen…“ Sie hält an, doch noch etwas zu tun. Alles, was eben möglich ist. Mit dem Oberarzt zu reden (obwohl ich bei meiner Fehlerquote langsam überlegen sollte, ob das wirklich eine gute Idee ist…), zur Not auf eine andere Station gesteckt zu werden, um mehr Hilfe zu bitten, wenn ich noch nicht so gut bin, wie alle denken, dass ich es bin.
„Ich bin langsam wirklich zu müde dafür…“, sage ich leise. „Ich meine ja, ich weiß, dass es sinnvoll ist und dass es meine Aufgabe ist, weiter alles zu drehen und zu verändern. Aber ich kann nicht mehr. Und ich will auch irgendwie nicht mehr.“
„Wollen Sie nächste Woche nochmal anrufen…?“ fragt sie.  Ich hätte das natürlich nicht vorgeschlagen, aber wenn sie das tut, ist es wohl okay für sie.

Morgen wird auch wieder ein anstrengender Tag – und die Kopfschmerzen haben seit Beginn der Woche auch noch nicht nachgelassen.
Zwischen 12 Uhr und 16 Uhr haben wir drei Besprechungen (wann sollen wir eigentlich noch arbeiten…?) und am Abend bin ich noch mit dem Seelsorger verabredet. Vermutlich bin ich bis dahin nicht fertig und darf dann hinterher die Dokumentation fertig machen.
Und wer aufmerksam mitgezählt hat merkt, dass das morgen der dritte Termin diese Woche im Helfersystem ist. Ich habe auch ehrlich gesagt noch keine Idee, wie ich morgen versuche, den Druck da raus zu nehmen. Ich kann einfach nicht mehr. Aber ich weiß auch nicht, wer oder was mir noch helfen kann. Immerhin sperre ich mich ja schon allein dagegen, mal einen Tag krank zu sein. Was wollen die Leute denn auch tun? Und gleichzeitig hoffe ich, dass jemand mal irgendien zündende Idee hat und es zumindest für ein paar Stunden mal ein bisschen leichter wird.
„Zwangs – Umtopfen…“ Wahrscheinlich warte ich ein bisschen darauf, dass das jemand tut und kommuniziere das gleichzeitig nicht so klar, um mir keine Vorwürfe machen zu müssen, dass ich die Menschen auf die Gedanken gebracht habe, dass das eine nötige Maßnahme ist.  Vermutlich würde ich da auch komplett durchdrehen – nur manchmal erscheint es mir die einzig mögliche Maßnahme. Weil das System halt irgendwie in der verkehrten Reihenfolge läuft. 

So... - bis eben habe ich noch mit dem Versicherungsmakler telefoniert... - jetzt schnell spülen und ab ins Bett. Schlimmer kann es morgen ja nun irgendwie auch nicht mehr so richtig werden... 

Mondkind

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