Gegensätze


Eigentlich sollte heute Abend kein Blogpost mehr kommen.
Eigentlich wollte ich viel früher fertig mit dem Thema EEG sein und noch in Ruhe auf dem Sofa Abendessen.
Eigentlich wollte ich nicht zu spät ins Bett gehen, um morgen fit für „magic Monday“ zu sein

Uneigentlich kam mir ein Telefonat dazwischen.
(Und ja, das Wort gibt es nicht – ich weiß… Außer in der Rhetorik. Und in meiner Kreativität…)

Dad in der Leitung. Keine gute Idee.
Als ob ich das nicht vorher wüsste. Aber was will man machen? Ich kann ja nicht alle Anrufe ignorieren. Ich finde meinen Schnitt ungefähr 50 % davon zu ignorieren, schon ganz gut.

„Also Mondkind – deswegen rufe ich an. Die Möbel… - die Tochter von meiner Freundin zieht Mitte November aus und ich wette, sie hat die Wohnung eher eingerichtet, als Du. Sie möchte uns da ja Weihnachten einladen. Du brauchst endlich ein Wohnzimmer. Und einen Fernseher…“

„Da steht doch gerade das Keyboard in der Ecke“, setze ich zur Verteidigung an. „So leer schaut es doch gar nicht aus…“ Immer und immer dieselbe Diskussion.
„Nein Mondkind, das sieht doch scheiße aus. Jetzt hast Du so eine schöne Wohnung und richtest sie nicht ein…“

„Ich habe ja auch irgendwann mal Urlaub. Hoffentlich“, erkläre ich. „Da habe ich Zeit dafür und dann mache ich das… Im Moment sitze ich immer bis in die Puppen auf der Arbeit. Ich bin einfach müde, wenn ich nach Hause komme. Und dann muss ich aktuell auch noch schnellstmöglich EEG lernen, sodass alle verbleibende Zeit da rein fließt.“
„Ja Mondkind, das ist gleich das Nächste. Du musst früher nach Hause gehen. Das geht so nicht. Du kannst doch da nicht so viele Überstunden machen…“
„Naja, was soll ich machen? Es geht um Menschenleben…? Dafür, dass ich Berufsanfängerin bin, gehe ich gar nicht so spät. Da haben mir andere Kollegen anderes erzählt…“
„Mondkind, da musst Du mal zum Betriebsrat gehen…“
„Ich muss erstmal mit meinem Oberarzt halbwegs klar kommen, damit er mich vor Diensten ab Januar schützt. Dann gehe ich nämlich wirklich ein…“

Diese Telefonate sind so, so sinnlos.
Und so verletzend.
Es reicht nicht. Es ist nie gut genug. Es gibt immer etwas zu nörgeln.
Wieso kann er nicht mal fragen: „Mondkind wie läuft es denn so auf der Arbeit?" und interessiert zuhören?
Wieso kann er nicht einmal sagen: „Ich bin stolz auf Dich Mondkind…“
Ist das wirklich zu viel verlangt? Kann man das wirklich nicht erwarten? Muss die einzige Motivation dieser Anrufe immer das Üben von Kritik sein?

Als sei das alles nichts hier.
Als sei das nichts, nicht mal zwei Monate nach der Entlassung aus der Klinik notgedrungen ein Leben zu führen, das schon „gesunde Menschen“ an ihre Grenzen bringen würde. Selbst dann, wenn sie sich diese Art von Leben ausgesucht hätten.
Und ich mache es im Moment, obwohl ich wusste, wie es endet. Immer. Auch damals in der Klinik schon. Dass es alles andere, als lustig wird. Dass es mit viel Glück und Durchhaltevermögen maximal irgendeine Art von Überleben wird.

Als sei das nichts, dass hier alles klappt.
Dass es Sonntagabends so sauber hier ist, dass man vom Boden essen könnte. Die Wäsche gefaltet wieder im Schrank liegt. Der Kühlschrank voll für die Woche ist. Und, dass ich am Wochenende jeden Tag koche. Wenn man bedenkt, dass die Anorexie auch mal Teil meines Lebens war und ich – als ich meine ambulante Therapeutin damals kennen gelernt habe – ständig Essenspläne schreiben musste, über die sie selbst dann die Augen verdreht hat, wenn ich hin und wieder etwas dazu gemogelt habe...
Als sei das nichts, nach einem Monat im Job einen halben Tag ganz alleine eine halbe Intensivstation betreuen zu müssen. Und dabei – das muss hier mal angemerkt sein – ist keiner gestorben.
Als sei das nichts, täglich mit dem drohenden Tod konfrontiert zu sein, mit Menschenleben, die in der Akutsituation so fragil, wie ein Stück Porzellan sind.

Und dass das alles nicht so unbedingt selbstverständlich ist, sieht man ja an meiner Schwester. Wir waren beide mal nahezu am gleichen Punkt. Und dann haben sich unsere Leben in komplett verschiedene Richtungen entwickelt.

Und dann… - dann hallt der Freitagabend nach.
Ein Zuhörer. Ein Verbündeter. Einer, der mir den Rücken stärkt. Einer, der mich dort abholt, wo ich gerade bin, nicht ohne ganz vorsichtig in Richtung Leben zu drücken.
Ein „Mondkind, Du machst Deine Arbeit ganz wundervoll.“ Ein „Mondkind, ich bin sehr stolz auf Dich…“
Der Mensch, der der Letzte war, mit dem ich vor dem Examen noch telefoniert habe. Und der Erste, mit dem ich danach wieder gesprochen habe.
Der Mensch, der mich mit einer ganz festen Umarmung ins Wochenende geschickt hat. Die für ein paar Sekunden einfach nur getragen hat.
Und der Mensch, von dem ich nicht weiß, wie lange er noch bleiben wird. Bleiben kann.
Leben für diese paar Minuten zwischendurch. Seit Jahren. Am Freitag, das war die erste Situation, seitdem ich hier arbeite. Und ich weiß nicht, wann ich rotieren muss. Ab wann wir uns allerhöchstens noch in der Frühbesprechung sehen. 



Und dann… - dann tut es einfach nur weh, wenn ich mir das bewusst mache. Wie groß die Gegensätze sind.
Wie viel er mitträgt, ohne es zu wissen. Wie viel ich verliere, wenn ich ihn nicht mehr habe.
Und das Wissen, dass das ganz sicher früher kommen wird, als ich es mir erhoffe.

Es gibt so viele Menschen, die behaupten, dass das, was hier gerade stattfindet, ja mal so gar nicht geht. Wie viel Kritik musste ich mir dafür in der Psychiatrie anhören? "Ich höre Ihre Ausführungen hinsichtlich des Ortes in der Ferne immer mit großen Sorgen...", sagte Frau Oberärztin in ungefähr jeder Visite.
Aber was soll ich machen? Wundert es irgendwen wirklich? Dass man sich an dem festhält, das noch bleibt? Auch wenn es freilich nie so hätte sein sollen. Aber sollte Familie so sein? 

Morgen ist „Magic Monday“… Und da wir Freitag sehr viel entlassen haben, wird das echt eine Überraschung morgen früh. Hoffen wir auf eine Gute.
Und dann findet morgen Abend hoffentlich Herr Klinik – Therapeut eine Ecke Zeit. Und ich selbst auch. Einer der Menschen, dem ich auch nicht mehr viel erklären muss. Der mir vielleicht einfach mal kurz beim Reflektieren helfen kann. Über die letzten Wochen. Und mir hoffentlich erklärt, dass es alles nicht so verloren ist, wie es sich anfühlt. Weil es eben doch keinen Weg dort raus gibt. Weil die Menschen, die unterstützen sollten, das nicht tun. Und die, die das vielleicht nicht mal sollten, es umgekehrt doch tun. Und ich so wahnsinnig viel verlieren kann. Und das nicht aushalten kann.

Habt einen guten Wochenstart!
Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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