Schwierige Patienten und Termin beim Seelsorger
„Mondkind, Du kannst Deiner Patientin gleich mal Blut abnehmen…“,
kommt mir die Schwester entgegen. Die Patientin, die ich gestern unwissend mit
einem akuten Nierenversagen in die Reha verlegt habe, ist wieder da. Zurück in
meinem Zimmer.
Vor der Frühbesprechung schaffe ich es nur ein Mal zu stechen und das
ist kein Treffer. „Mondkind, ich habe Dir doch gesagt, sie hat eine gute Vene
in der Ellenbeuge…“, erklärt die Kollegin, als ich sie auf dem Weg zurück um
Hilfe bitte.
Im Endeffekt ist die Vene in der Ellenbeuge auch schon zerstochen. Ich
finde noch eine auf der Hand, aus der wir das Blut dann mühselig tropfenweise
gewinnen.
Inständig hoffe ich auf ein kleines Wunder. Obwohl mir die Patientin
gar nicht gefällt. Als ich sie gestern verlegt habe, war sie in einem besseren
Zustand. Ihre jetzige Verwirrtheit ist sicher auch zurück zu führen auf das
niedrige Natrium – laut einiger Kollegen nur auf das niedrige Natrium.
Das Telefon klingelt und der Name der Kollegin, die eine Angehörige
der Patientin ist, leuchtet auf dem Display. Sie aktualisiert sicher sekündlich
die elektronische Akte und hat daher die neuen Blutergebnisse mutmaßlich vor
mir gesehen. Die Hoffnungen zerschlagen sich – die Nierenwerte sind noch
schlechter.
„Ich denke, ich rufe jetzt mal die Internistin an…“, sage ich. „Nein
Mondkind – ruf besser direkt in der Nephrologie an…“, rät eine Kollegin.
„Naja…“, entgegne ich lang gezogen, „mit dem Chef da hatte ich auch so meine
Erlebnisse im PJ. Der hat uns nicht selten alle als unfähig bezeichnet…“ „Mondkind,
das ist jetzt egal – Du rufst ihn an.“ Also wähle ich die Nummer. Und bin sogar
erstaunt, wie freundlich er ist. Die Nieren haben wir ihr wahrscheinlich mit
unserem Kontrastmittel und unserer Hirnödemtherapie zerschossen. Das hätten wir
nur auch nicht ändern können – das brauchte sie ja. Und es ist bekannt, dass
diese Stoffe ein akutes Nierenversagen auslösen können. Eine Komplikation eben.
So nicht vorhersehbar. Er sagt, dass er vorbei kommt, die Nieren schallt und
für mich ein Konzept macht. Sehr gut.
Weniger gut findet das unser Oberarzt. „Ihr müsst mir Bescheid sagen,
bevor Ihr ein Konsil macht…“, sagt er in einem Ton der vermittelt, dass er das
aus irgendwelchen Gründen alles nicht mal halb so gut findet, wie ich. Dabei
hatte er mir doch schon vor Wochen gesagt, dass ich selbstständiger werden
muss. „Sie hat noch ein CT bekommen, da sie jemand mit Verdacht auf einen
Reinfarkt aufgenommen hat“, erkläre ich ein paar Minuten später, als wir uns
vor der Visite die Bilder anschauen. „Ja, dieser Jemand war ich“, erklärt der
Oberarzt und fühlt sich offensichtlich auf den Schlips getreten. Mist, ich hatte gedacht, es wäre der Dienstarzt gewesen...
Die Visite geht dann auch eher weniger gut weiter. Es gibt ein Zimmer,
in dem im Moment aufgrund der Dienstverteilung, jeden Tag ein anderer
Assistenzarzt zuständig ist. Und aufgrund einer Medikamentenunverträglichkeit, muss da
ein Antrag über den Hausarzt für ein wesentlich teureres Medikament laufen.
Gestern hatte ich das Zimmer. Und gerade, als ich es gestern auf meiner To Do –
Liste notieren wollte, erklärte der Oberarzt: „Mondkind, das musst Du nicht machen.
Das macht der Kollege, wenn er morgen wieder da ist…“ Als der Patient heute
Morgen danach fragte, hatte sich noch keiner darum gekümmert. „Das ist hier
seit Tagen Thema und keiner kümmert sich darum“, wirft der Oberarzt uns vor und
schüttelt den Kopf, während er die Augen verdreht.
So wie in den letzten Wochen und insbesondere in den letzten Tagen,
habe ich ihn nie erlebt. Vermutlich hat es nicht unbedingt nur etwas mit mir zu
tun. Es tut seltsam weh einen Menschen auf die Art an den Stress des
Krankenhauses zu verlieren. Und mitten in der Tatsache, dass es mir seltsam das
Herz zerreißt, kann ich auch fast noch den Frieden nachfühlen, den die Ruhe in
seiner Stimme mal ausgelöst hat.
Am Nachmittag schlagen mir die Radiologen vor, dass ich bei einer
Patientin nochmal ein CT zur Verlaufskontrolle mache. Aber damit möchte er,
glaube ich, gerade auch nicht so richtig behelligt werden – obwohl ich es mich
jetzt nicht mehr traue, einfach ohne Rücksprache etwas anzumelden.
Schwieriger Fall mit ihm. Richtig machen kann man es vermutlich gerade
irgendwie nicht. Leider.
Später Nachmittag. Zeit, den Seelsorger zu besuchen.
Auf dem Weg laufe ich natürlich einem der Oberärzte über den Weg.
Meistens bin ich ziemlich gestresst, bis wir endlich in der Kapelle sitzen, da
es vermutlich nur eine Frage der Zeit ist, bis meine Termine dort im Team die
Runde machen.
„Wie läuft es?“, fragt er.
„Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen kann…“, leite ich ein. „Sowohl
beruflich, als auch privat ist das mehr als grenzwertig…“
Eigentlich hatte ich mal das private Geschehen in den Vordergrund
stellen wollen, aber die Frau mit ihrem Nierenversagen macht mich fertig. „Hat
man Ihnen denn Vorwürfe gemacht?“, fragt er irgendwann. „Naja… - so richtig
nicht. Aber wenn ich nach Hause gehe und dort ein Krisengespräch zwischen der
Mitarbeiterin, dem Chef und dem Oberarzt auf dem Flur statt findet und man nur
ein paar Gesprächsfetzen mitbekommt, dann frage ich mich schon, ob sie sich
gerade darüber unterhalten, was ich hätte sehen müssen und nicht gesehen habe…“
Und dann geht es auch um die Patientin mit ihrem Tumor im Kopf. „Die
Pflege wirft mir schon vor, dass ich einer so alten, dementen Dame jetzt noch
ein Staging antun will. Aber was soll ich denn machen? Sie hat keine Patientenverfügung
– ich kann die jetzt nicht einfach sterben lassen – das geht nicht. Da habe ich
nicht das Recht, darüber zu entscheiden. Außerdem erzählt mir jeder etwas
anderes. Der Hausarzt sagt, es sei palliativ; die Strahlentherapeuten sagen, es
sei kurativ. Die Angehörigen berichten, sie waren vor kurzem noch mit ihr
spazieren, der Hausarzt sagt, er kommt alle 1 – 2 Wochen zu Hausbesuchen, wo
sie seit Monaten nur noch liegt. Was soll ich denn glauben? Ich versuche es
einfach, alles irgendwie richtig zu machen, aber richtig wird wohl am Ende das
sein, das richtig gewesen wäre, wenn man den Gesamtüberblick eher gehabt hätte.
Am Ende hätte man sie immer eher in die Neurochirurgie verschiffen können, man
hätte sie immer eher operieren können und genauso hätte man auch eher nichts
tun können…“
Schwierige Patienten, schwierige Situationen und eine Mondkind mitten
drin. Personalknappheit und dadurch wenig Unterstützung. „Die haben da drüben
einen riesigen Neubau hingestellt Mondkind und einfach kein Personal. Bisweilen
ist man der Meinung, dass moderne Technik jetzt auch Personal ersetzen könne,
aber das funktioniert eben doch nicht. Sie sind nur ein kleines Rädchen in
einem riesigen System. Und Sie müssen sich überlegen, ob Sie das auf Dauer
machen wollen…“
„Was soll ich sonst machen…?“, frage ich und leite auf private Themen
über. „Ja, es gibt zig Alternativen ich weiß – aber das hatte alles einen Grund
hier…“ Wir fangen an, Stühle zu rücken. Der Seelsorger baut mich zu. Mit
Personen um mich herum, die mich aktuell eigentlich nur stressen und Gefühlen,
die das in mir auslöst und die eigentlich nicht da sein dürfen.
Von der Arbeit schwenken wir langsam über und bemerken, dass sich
gerade in gewissen Rahmen wieder das abspielt, das ich ja schon mal erlebt
habe. Verlust von etwas, das „Familienersatz“ hätte werden sollen und das
vermutlich nie funktionieren konnte. Es ist trotzdem unerwartet – für mich. Ich
kam hierher und es lief alles anders als geplant. Zu Beginn hoffte ich ja, dass
das eine Phase ist. Heute bezweifle ich, dass sich das nochmal ändern wird.
Es wird Personen geben, die man loslassen muss. Mit denen ich zwar
vielleicht immer noch gut arbeiten kann, aber die mir nicht das geben können,
was ich mir da so erhofft habe.
„Wie können Sie die Situation denn jetzt verbessern?“ fragt der
Seelsorger und setzt mich auf den Therapeuten – Stuhl. Ich rattere all das
runter, was ich diese Woche schon von den Therapeuten gehört habe.
„Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragt der Seelsorger, als wir am Ende
sind. „Naja…“, sage ich. Ganz, ganz schwierig. Sinn der Sache sollte ja sein,
dass es mir hinterher besser geht und das ist immer blöd zu kommunizieren, dass
dieser Plan nicht aufgegangen ist. Es fühlt sich an, als dürfe man das nicht
sagen, um den Wert der Arbeit des anderen nicht zu schmälern und sie haben ja
auch Recht mit allem, was sie sagen – ich bin nur nicht bereit, es umzusetzen.
Und dennoch… - wenn wir nicht irgendwie etwas auffangen, wird das schwer bis unmöglich. „Ja, ich weiß, dass ich etwas ändern muss, dass ich mich bewegen muss,
dass es jetzt an mir liegt. Und ich habe so ein schlechtes Gewissen und fühle
mich so schuldig, dass ich das im Moment nicht machen kann. Ich bin komplett am
Ende; ich kann nicht mehr und mir fehlt so viel Kraft und Willen und Hoffnung.“
Und dann erkläre ich ihm, dass sich die Tage im Moment so zählbar anfühlen.
Dass es mich so verrückt macht, weil es nicht das Ende von so vielen Jahren
kämpfen sein kann. Und sich gleichzeitig seltsam friedlich anfühlt.
„Das hört sich nicht gut an…“, erklärt er. „Es fühlt sich auch nicht
gut an…“ sage ich. „Was meinen Sie – würde es helfen, wenn ich Sie in den Arm
nehme…?“ fragt er. Ich überlege. Vielleicht. Auch, wenn es eine komische
Situation ist. Und dann stehen wir da. Eine Weile. Und ein Stück weit trägt das
tatsächlich. Nimmt ein winziges Bisschen dieser Last von den Schultern.
Er hat jetzt erstmal Urlaub. Das ist ja denn mal wieder die Nachricht
des Tages… Mitte November sehen wir uns wieder. „Machen Sie bis dahin keine
Dummheiten…“, ermahnt er. Mitte November… - das könnte ich sogar im worst case
noch schaffen. „Ich gebe mir Mühe…“, entgegne ich. Und das ist ja wenigstens
nicht gelogen – versprechen könnte ich es nicht. „Sie haben noch meine
Handynummer?“, fragt er. Ich nicke. „Bevor sie etwas machen, rufen Sie mich an.
Es fällt mir jetzt ehrlich schwer, Sie gehen zu lassen und ich möchte Sie nicht
auf der Intensivstation oder am Grab besuchen müssen…“ Seltsam schwer hallen
diese Worte nach. „Ich war auch an dem Punkt, an dem Sie jetzt sind. Es lohnt
sich zu leben. Mehr kann ich Ihnen dazu auch nicht sagen…“, erklärt er.
„Und jetzt muss ich Sie nochmal in den Arm nehmen, bevor Sie gehen“,
sagt er, als wir aufstehen.
Ich glaube, es hat gut getan, das einfach mal erzählen zu dürfen. Er
kennt mich ja auch schon eine Weile. Weiß, dass ich bisher jede Krise überlebt
habe, so schwer wie das auch zu sein schien. Und nimmt es aber trotzdem ernst,
wo ich mich schon selbst kaum noch ernst nehme und mich für diese Zustände eher
zunehmend verurteile. Es fühlt sich halt so real an, diese Bedrohung – auch wenn
man das am Ende doch wieder irgendwie schafft.
Viel zu spät komme ich nach Hause, dusche schnell, esse etwas und muss
dann auch schon wieder ins Bett. Morgen ist noch Fortbildung und es wird eine
Kunst, vor 22 Uhr zu Hause zu sein und die Wohnung gesaugt zu haben, damit ich
sie Samstagmorgen putzen kann.
Und dann werde ich so froh sein, wenn diese Wahnsinns – Woche morgen
Abend vorbei ist.
Aber erstmal muss ich morgen früher auf die Arbeit. Auf mich wartet
eine Blutabnahme bei der Patientin mit dem Nierenversagen. Die Schwestern
versuchen es schon gar nicht mehr. Und der Arzt ist die letzte Instanz. Er muss
solange stechen, bis er etwas gefunden hat. Und das kann dauern…
Mondkind
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