Momente


Einatmen. Ausatmen. Weitergehen.
Jeden Tag.
Schritt für Schritt.
Ein Fuß vor den anderen.
Wie der Straßenkehrer Beppo in der unendlichen Geschichte.
Und irgendwann stellt man fest, wie weit man gekommen ist, wenn man nicht das große, Ganze sieht. 



Was macht man, wenn man in der Früh nicht mehr schlafen kann? Schreiben.
Dem Chaos im Kopf ein bisschen Raum geben, ehe er wieder von der Realität des Alltags eingeholt wird.
Platz für neues Chaos schaffen.

Ich war gestern Abend noch kurz beim Seelsorger. Das ist immer eine heiße Kiste mit ihm, wenn es einem wirklich schlecht geht, weil er das meistens nicht einschätzen kann. Nun ist er ja auch kein Therapeut und eine andere Möglichkeit gibt es aktuell nun mal nicht. Also hilft nur, es zu versuchen.
Allerdings ist genau das passiert, von dem ich gehofft hatte, dass es nicht passiert. Dass die Freundin den Termin besorgt hat, fand er natürlich überhaupt nicht komisch. Aktiv hat er mir nicht den Kopf dafür abgerissen, verbal allerdings irgendwie schon.
Viel schlimmer war allerdings, dass ich mal wieder das Gefühl hatte, anderen Menschen unerlaubt die Zeit zu stehlen. „Jetzt sitzen Sie hier wieder vor mir, lächeln und erzählen mir, dass das alles so schlimm war, letzte  Woche. Was war denn da jetzt genau das Problem?“
Ich weiß nicht, ob es einer ist, aber bei mir kommt das wie ein Vorwurf an.Es schlägt genau in die Kerbe, vor der ich ohnehin immer Angst habe. Warum muss er da jetzt sitzen? Kann ich ihm genug Rechtfertigung geben, damit er das als sinnvoll ansieht? Was denkt er jetzt eigentlich von mir? Wäre es nicht doch besser gewesen, einfach den Mund zu halten?
Die meisten Menschen scheinen nicht zu verstehen, dass es vollkommen unmöglich gewesen wäre, in diesem Job zu überleben, wenn ich die ganze Situation vor mir hertragen würde. Ja, es tut unglaublich weh, aber das hat auf der Arbeit keinen Platz. Weder würde ich mir damit helfen, noch meinen Patienten. Die müssen das Gefühl haben, in der Ärztin eine Schulter zum Anlehnen zu haben.
Immerhin hatte ich mehr als zehn Jahre Zeit, dieses Versteckspiel zu perfektionieren. Ich frage mich immer ein wenig, ob es anderen Menschen genauso geht. Oder, ob die einfach schon viel früher daran zerbrochen sind.
Die Frage ist natürlich auch immer, was in solchen Situationen überhaupt helfen kann. Reden bringt mich in den meisten Fällen nicht weg von der Suizidalität. Ich kann ja gut mein eigener Therapeut sein. Ich weiß ja, was sinnvoll wäre. Das hat Der Seelsorger auch mittlerweile verstanden und lässt mich von außen auf die mit Stühlen zurecht gestellte Situation schauen. Das das bringt mir nichts, wenn ich es nicht umsetzen kann.
Vermutlich braucht es Menschen, die einfach mittragen. Tee an der Heizung wäre eine Maßnahme. Für einen Moment nicht alleine sein mit dem Schmerz und den Gedanken. Aber das Bild kennt er glaube ich gar nicht. 

Der Tag heute auf der Station wird mit Sicherheit überhaupt nicht lustig. „Morgen machen wir dann Chefarztvisite mit minus Vier“, verkündete der Chefarzt gestern. Die Besetzung ist heute mal wieder katastrophal. Der andere neue Kollege und ich versuchen heute mal wieder die Station zu retten – und das, nachdem gestern mal wieder eine große Entlasswelle war und die Station neu belegt wurde. Ich habe jetzt einen Fall frisch von den Intensivstation bei mir und so generell ist nur noch eine von meinen Patienten übrig geblieben.
Der neue Kollege ist auch menschlich etwas schwierig und diskutiert gern mal mit dem Chef. Danach ist die Stimmung meist noch mehr im Keller. 
Das wird vermutlich eine Katastrophe heute. Aber es ist immerhin Freitag. Und irgendwie wird der Tag vorbei gehen.

Ich bin mal gespannt, wie es mit der Urlaubsplanung so klappen wird. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass der so genehmigt wird, wie ich das gern hätte. Noch lieber als über Weihnachten (meine Mum meinte schon, dass ich ja eigentlich nicht eingeplant sei), hätte ich gern zwischen den Jahren frei. Das ist seit Jahren immer eine Krisensituation - das weiß ich schon vorher. Da würde ich hier ungern allein sitzen...

Um den Beitrag mit etwas Positiven abzuschließen: Über eine Patientin freue ich mich sehr. Die, über die ich schon mal kurz berichtet hatte. Als die zu mir kam, lag sie im Bett und konnte sich nicht bewegen und nicht sprechen. Gestern saß sie mit ihrem Mann an der Bettkante und hat Kreuzworträtsel gelöst. Rührendes Bild.
Ich musste mit ihr noch eine Aufklärung machen und wir haben noch ein bisschen gesprochen. Sie ärgert sich immer, dass es mit der Sprache noch nicht so klappt. „Sie gehen in die Reha und da üben die noch ganz viel mit Ihnen und ich bin mir sehr sicher, dass sich da noch ganz viel verbessert“, erkläre ich. „Sie haben sich wirklich gut gemacht hier. Ich bin stolz auf Sie“, füge ich hinzu. „Das sagen Sie nur so“, wirft sie mir vor. „Nein, das sage ich nicht nur so. Das meine ich ganz ernst“, erkläre ich und dann merke ich, wie da ein paar Tränen in meine Augen steigen. Sie kennt ja meine Mortalitäts – Statistik nicht. Der Mann legt mir nur den Arm auf die Schulter. „Solche Ärzte wie Sie – die auch noch die grüne Schleife tragen – brauchen wir eben.“
Danke. Wirklich. 

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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