Drei Monate - ein Brief.


Guten Morgen mein lieber Freund,
Wie ist die Lage so bei Dir?
Spürst Du, dass Herbst geworden ist? Dass die Luft morgens manchmal beinahe schon nach Winter riecht? Siehst Du, dass die Blätter bunt werden, langsam von den Bäumen segeln? Dass jetzt die Zeit ist, in der alle auf diese goldenen Herbsttage warten, in denen die Spaziergänge so wunderschön und farbenfroh sind?

Drei Monate.
Vor drei Monaten um diese Zeit, stand die Welt schon. Und… - was ist in der Zeit passiert? Ich war den Sommer über – die meiste Zeit davon zumindest – in der Studienstadt, habe versucht ein bisschen zu heilen, geglaubt, dass man das schaffen kann in acht Wochen Psychiatrie – weil ich auch keine Ahnung vom Thema Trauer hatte ehrlich gesagt – und stehe jetzt, am Anfang des Herbstes wieder hier.
Die ersten eins, zwei Wochen gestehen einem die Menschen noch zu – dass das Leben da etwas anders, als „normal“ läuft. Zwar hat man eigentlich auch zu funktionieren, aber man darf traurig sein. Aber dass man nach drei Monaten gerade mal so die Sachlage begriffen hat, das ist niemandem klar.
Zumal das für mich irgendwie sehr schwer ist, weil da wenig ist, das Deinen Tod wirklich beweist. Deine Mutter hat es mir gesagt, ich erlebe eine quälende Stille, aber weder habe ich Dich gesehen, als das Leben Dich verlassen hatte – oder Du das Leben – noch habe ich je Dein Grab gesehen. Da ist viel Platz für Spekulationen eines Hirns, das sich gegen die Wahrheit wehrt. Und viel Platz für alle möglichen Horrorszenarien, die Deine letzten Stunden betreffen und deren Vorstellungen mir das Herz zerreißen. Sag mal… - hast Du eigentlich gehofft, dass Dich irgendwer noch rettet? Dass irgendwer auf diesem Planeten mal noch auf die Idee kommt das Telefon in die Hand zu nehmen und Dich anruft? Und die Frage, die ich mir ein Leben lang stellen werde: Hätte es etwas geändert, hätte ich Dich an dem Abend nochmal angerufen?
Und verrätst Du mir, was der Sinn des letzten Telefonates war? Hattest Du Dich da schon entschieden? Wolltest Du mir die Gelegenheit geben, nochmal alles zu sagen, was ich Dir zu sagen habe? Ich habe es in dem Moment echt nicht verstanden. Und ich hätte Dir so Vieles zu sagen gehabt.

Ich denke die meiste Zeit des Tages an Dich. Du bist präsenter in mir, als Du es zuvor jemals gewesen bist. Und das – wie ich mittlerweile beginne zu begreifen – nicht deswegen, weil ich mich zu sehr in Deinen Tod hinein steigere, um nicht an mir selbst arbeiten zu müssen, wie mir in den Wochen davor so gern unterstellt wurde, sondern, weil ich so eine starke Sehnsucht für Dich nie empfinden musste. Wenn die stärker wurde, als es für mich erträglich war, dann habe ich Dich einfach angerufen. Oder Du mich. Aber dass man gezwungen war mit Gefühlen –bezogen auf uns beide – zu leben, die kaum aushaltbar sind, das kam einfach nicht vor.
Ich war immer schon ein Sensibelchen. Immer Jemand, der an wenigen Menschen hing, aber an denen dann so richtig.

Drei Monate… - ich kann nicht sagen, wie es werden wird, aber ein bisschen fühlt es sich an, als sei das die schwerste Zeit. Weil die Diskrepanz zwischen der Gesellschaft und deren Anforderungen und dem wie es mir geht, so hoch ist. Alle erwarten Normalität, die ich nicht leben kann.
Weißt Du… - ich denke immer noch so oft daran, das Telefon in die Hand zu nehmen und Dich anzurufen. Einfach, weil ich Dich jetzt hier wirklich gebraucht hätte.
Es gab keinen Menschen in meinem Leben, zu dem ich eine innigere Beziehung hatte, als zu Dir. Du hast einen Teil meines Herzens getragen und ich habe einen Teil von Dir getragen. Es war mir immer wieder unbegreiflich, dass zwei Menschen so sehr verbunden sein können, sich so sehr dem anderen öffnen können, so sehr die eigene Existenz auf zwei Schultern tragen können. 
Ich war nirgendwo mehr ich selbst, als bei Dir.



Wie geht es mir und was mache ich? Eine Frage, die Du mir gestellt hättest.
Ich versuche, zu arbeiten. Versuche, irgendwie nach Außen hin ein bisschen Normalität zu leben in einer Welt, die in all ihren Grundüberzeugungen erschüttert ist. (Und bis November sind sie mit den Diensten auch einigermaßen human; ich glaube wenigstens das haben sie selbst begriffen. Ich würde das aktuell mit der ganzen Müdigkeit auch nicht schaffen, jedes Wochenende zu arbeiten).
Aber weißt Du… - es fällt so schwer weiter zu gehen, Dinge zu ändern. Sowohl in der Wohnung (obwohl jetzt endlich mal ein Tisch in diese Wohnung musste…), als auch in meinem Leben. Stillstand. Irgendwie. Weil ich das nicht ertragen kann, die Änderungen nicht mehr mit Dir teilen zu können. Den Weg nicht mehr zusammen zu gehen. Deine und meine Welt sollen sich doch noch überschneiden; irgendwie bist Du mehr hier, wenn das Leben sich in dem Rahmen dreht, den Du kanntest. Auch deshalb ist ein Weggang aus dem Ort in der Ferne aktuell undenkbar. Wenn Du an mich gedacht hast, warst Du gedanklich hier. Wie soll das in einer neuen Stadt sein? Wo ist da die Verbindung?

Wie es weiter gehen soll, weiß ich nicht. Dein Tod hat zwar den Blickwinkel auf Vieles geändert – und vielleicht wird das auch nachhaltig so bleiben – allerdings ändert das wenig daran, dass der Weg kaum gehbar ist. Ich versuche mir einzureden, dass jeder Tag auch ein winziges bisschen Glück in sich trägt und dass es auch keine Lösung sein kann, sich die winzigen Momente von Glück zu verwehren und andere Menschen in dieses Drama zu stürzen, in dem ich jetzt lebe. Wie siehst Du das… - so rückblickend?
Wobei man sagen muss, dass „Jedes Spüren der eigenen Lebendigkeit […] ein Bewusstwerden des Totseins der anderen Person“ ist, wie Chris Paul es so schön sagt. Und das macht wirkliches Leben im Moment kaum möglich.
Das Leben war nie so schwer wie es jetzt ist und auch das Helfernetzwerk noch nie so klein, wie es aktuell ist. Die Möglichkeiten waren noch nie so beschränkt. Ich habe noch nicht so richtig einen Ort gefunden, an dem ich mit dem Thema gut aufgehoben bin. Die Klinik ist es nicht, das wissen wir und ich denke, das wird das Problem vieler Psychologen sein, wo auch immer man die aufsucht. Ich glaube das hier, das kann man nur nachfühlen in all seinen Facetten, wenn man es selbst erlebt hat. Und noch mehr Unverständnis für meine Situation kann ich jetzt wirklich nicht mehr aushalten.
Ich lese mittlerweile Bücher zum Thema. Kann auch ein paar Sätze zitieren, die sehr gut passen und in denen ich mich verstanden fühle. (Das erinnert mich immer an Dich, wenn Du mir erzählt hast: „Mondkind, Klaus Grawe hat dazu gesagt…“).
Es gibt auch einen Verein, in dem Hinterbliebene zusammen finden – da habe ich diese Woche mit einer Dame telefoniert. Du warst ja so ein wahnsinniger Fan vom Selbsthilfebereich und vielleicht ist das wirklich ein Weg, damit umzugehen. Es war ein gutes Telefonat, ich konnte einfach mal reden und wurde verstanden. Manchmal habe ich ja doch das Gefühl, ich werde irgendwie verrückt, weil mich das alles so einnimmt, weil Du gerade das Zentrum meiner Welt bist. Da habe ich aber gespürt, dass das okay ist. Und dass es eigentlich komisch wäre, wenn es nicht so wäre. Sie meinte übrigens, ich habe das alles noch gar nicht so richtig akzeptiert, was hier passiert ist – da frage ich mich schon ein bisschen, wie meine Welt aussieht, wenn mir das klar wird. So wirklich ganz echt. Dass Du nie wieder zurückkommst. Meine größte Angst ist, wieder zu fallen. Nicht mehr arbeitsfähig zu sein. Das geht nicht mehr. Dafür gibt es kein Verständnis. Obwohl – oh je, ich werde echt nochmal wie Du… ;) – in meinem schlauen Buch steht: „Eine Selbsttötung im engeren Umfeld ist jedoch eine der verstörendsten und aufrüttelndsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann.“ Dafür schlage ich mich doch ganz gut, oder nicht?
Also mal schauen, wie es da weiter geht. Ich traue mich noch so gar nicht, mich auf so einen Verein zu stützen. Das Wichtigste war für mich immer Verlässlichkeit und das Wissen „Da ist Jemand“, was in der Ambulanz ganz gut geklappt hatte über die Jahre. Ich denke, dass es dort anders sein wird.

Übrigens stecke ich gerade in den ersten drei Tagen „für mich“, seitdem all das passiert ist. Danach war ja erstmal nur Action. Klinik, wo Du nicht sein durftest, dann im wahrsten Sinn des Wortes in einer Nacht-  und Nebelaktion hierher zurück, drei Wochen arbeiten, meist mehr als 12 Stunden täglich und dann stand die Schwester hier auf der Matte, die aus lauter Hilflosigkeit das Thema auch einfach ausklammert. Ich bin gestern echt nur durch die Stadt gerannt, habe dann noch den Tisch aufgebaut, weil ich unbedingt wollte, dass er steht und damit einen Platz für Dich generiert. Und jetzt steckt ein Bild von Dir in einem Fotorahmen und daneben steht eine kleine Kerze. Wahnsinn, dass ich dafür drei Monate gebraucht habe... (sorry…) Aber jetzt kannst Du mir immer ein bisschen zuschauen und mir auch gerade über die Schulter schauen, während ich mit einem Kaffee am Tisch sitze und schreibe. 
Ich glaube, vor drei Monaten - auch wenn ich da ein paar Stunden später innerlich völlig verstört den Therapeuten in der Leitung hatte und er einfach da war; etwas, das auch über die Monatstage weniger geworden ist - war mir nicht ansatzweise klar, wie sehr dieser Moment, dieser Tag, das Leben für immer verändern wird. 
Am brutalsten finde ich übrigens das Foto, das Deine Mutter mir vor drei Monaten geschickt hat. Ein Foto von Dir und davor die Ringe, die Du immer an der Hand getragen hast. Ein Bild hat noch nie einen Tod bewiesen, aber was zum Geier machen die Ringe in denen Deine Finger stecken sollten, auf einer Kommode Deiner Mutter? Ausgerechnet diese Ringe sind immer wieder der Gedanke, der mir die Tränen in die Augen treibt. Manchmal hätte ich auch gern einen von denen hier, aber ich glaube, sie sind besser aufgehoben, bei Deiner Mutter. Was denkst Du? Überhaupt habe ich ja diesem ganzen Selfie - Wahn nie viel Bedeutung bei gemessen und auch nicht der Tatsache, dass man sich ständig etwas schenkt, um seine Zuneigung auszudrücken. Aber heute hätte ich schon gern ein paar Dinge mehr von Dir in dieser Wohnung. Wenigstens habe ich noch die Sprachnachrichten, nachdem Du mich irgendwann überzeugt hast, dass eine whatsApp - Nachricht ja etwas anderes, als ein blöder Anrufbeantworter sei.

Und… - um das mit den Worten von Silbermond auszurücken:
„Verrätst Du mir was bleibt,
Übrig von der Lebenszeit?“

Du wirst immer ein Teil meines Herzens bleiben. Immer.
Ganz viel Liebe
Mondkind

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