Von Diensten und Silvesterraketen
Manchmal kommt mir das so vor, als würde ich pokern.
Vor ein paar Monaten hätte ich nicht gedacht, dass ich die Bäume nochmal bunt werden sehe. Dass ich nochmal all die wunderschönen Farben dieser Welt sehen darf.
Dass mein Blick nochmal vom vierten Stock der Neuro über die Landschaft streifen darf, die ich bei Tageslicht zum Großteil eben nur durch die Fensterscheiben des Gebäudes sehen kann.
Abends.
Ich treffe die Kollegin, die Spätdienst hat. „Mondkind, es reden wirklich schon alle darüber. Es hat noch nie Jemanden gegeben, der ein Jahr dabei ist und keinen 24 – Stunden – Dienst macht…“ Und dann stellt sie aber auch irgendwie fest, dass das alles nicht ganz meine Schuld ist. Seitdem die Notaufnahme interdisziplinär geworden ist, braucht man viel Erfahrung, die ich nicht habe. Selbst nach einem Jahr dort nachts alleine Dienst zu machen, ist beinahe nicht machbar. Aber für den Hausdienst braucht man Reha – Erfahrung, die ich auch nicht habe, weil ich da nie gearbeitet habe. Es hat halt einfach noch niemand den Berufseinstieg direkt in der Akut – Neuro gemacht.
Ich versuche die Gemüter zu besänftigen und mir noch ein bisschen Zeit zu generieren dadurch, dass ich jedes Wochenende Stroke – Dienste mache, die zumindest von einigen Oberärzten auch als Hausdienste gewertet werden – somit habe ich dann auch vier bis fünf Dienst pro Monat. Und eben immer eine sechs – Tage – Woche. Diese Überlegung gab es ja im Juni schonmal.
Ich frage sie nach mal der Arbeitsbelastung auf der Kurzliegerstation – der Station, von der „mein“ Oberarzt vorgeschlagen hatte, dass ich da vielleicht besser aufgehoben bin. Sie bezweifelt das eher. Es gibt mehr Struktur, aber auch mehr Ansprüche und der Patientendurchsatz ist noch höher. Ob das besser ist? Mit dem Chef habe ich noch nicht gesprochen. Weil ich auch Sorge habe, vom Regen in die Traufe zu fallen.
„Mondkind, der Dezember wird die Katastrophe. Es gehen ja noch zwei Kollegen. Wir schaffen das einfach nicht mehr mit dem ersten Dienst.“
Auch von ihr kommt der Vorschlag mit der Reha. Ich weiß es nicht. Ob die mich wirklich irgendwie schützen wollen, oder ob jetzt die Mondkind – der Wolf im Schafspelz – aufgefallen ist. Ob mal aufgefallen ist, dass ich einfach keine Ahnung habe. Oder eben viel zu wenig für den Akutbereich.
Ich bin immer noch der Meinung: Ich kann in einem Jahr nicht alles verlieren. Nicht allen privaten Halt, den ich mit dem Freund hatte. Den therapeutischen Rückhalt, der auch fehlt. Und nicht allen Halt, den ich mit dem Arbeitsumfeld hatte. Mit den Menschen, mit denen ich jetzt zusammen arbeite, habe ich in Praktika immer wieder seit 2016 zusammen gearbeitet und so einige Menschen dort haben es mir ermöglicht, beruflich und an mir selbst zu wachsen. Und natürlich würde ich auch weit weg rücken von der potentiellen Bezugsperson.
Ich merke, wie die Schlingen wieder enger werden. Ich kann die Ansprüche hier einfach nicht erfüllen. Der naheliegenste Schritt für meine Vorgesetzten – mich in die Reha zu stecken – wird mein Untergang. Ein Arbeitsumfeld hätte nie so viel tragen sollen. Ein Umfeld, in dem jeder Mensch jederzeit ersetzbar ist. Aber die Sehnsucht, irgendwo hin zu gehören, einen festen Platz zu haben, die fragt den Verstand nicht. „Mondkind, wir sind hier wie eine große Familie“, war einst einer der prägendsten Sätze, eines der wichtigsten Entscheidungskriterien für diesen Ort. Da habe ich nicht mehr hinterfragt, ob das nicht eine Situation ist, die sehr fragil ist. Weil Akzeptanz dort an Leistung geknüpft ist. Logischerweise. Weil man austauschbar ist, sobald es nicht mehr funktioniert. Weil man privat ein tragendes Umfeld haben sollte – nicht beruflich.
Auf dem Weg nach Hause kann man die Farbenpracht am Wegesrand erahnen,
die nur von den Laternen angeleuchtet von Zeit zu Zeit angedeutet wird.
Und irgendwie kommt mir in den Sinn, dass ich mich wie eine
Silvesterrakete fühle, die an der Zündschnur schon brennt. Und irgendwann wird
sie losfliegen und explodieren. Oder anders – die Tage sind gezählt. Das habe
ich nur zwischendurch erfolgreich verdrängt.
Und ganz am Ende…. – weiß ich, dass da Jemand auf mich wartet. Und, dass ich bis zum Ende alles gegeben habe. Dass ich so lange durchgehalten habe, dass man sich schon oft gefragt hat, ob es sich dafür lohnt. Dass ich so viel gehofft, geglaubt und gekämpft habe, immer wusste, dass ich irgendwann verliere, aber immer auch einen Sinn dafür hatte solange wie ich lebe, die wärmenden Augenblicke einzufangen, von denen ich gezehrt habe, die ich geschätzt habe und die immer bleiben werden.
Mondkind
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