Wie... ? - Von Entscheidungen ohne Dich

Heute frage ich mich, wo du gr'ade bist,

Was du gr'ade machst und wer bei dir ist
Und warum Zeit so ein Arschloch ist.

(Wincent Weiß – Herzlos)

Hey mein lieber Freund,
na, wie ist die Lage… ?
Weißt Du, es ist Herbst geworden. So richtig, richtig Herbst. Manchmal riecht die Luft fast schon nach Winter.
Und die Bäume. Die sind richtig bunt. Es gibt so ein paar Plätze hier im Dorf, die besonders schön sind. Die Bäume gegenüber des Hauses, in dem ich im PJ gewohnt habe, ein Teil des Kurparks, ein Teil der Straße, die ich jeden Morgen zur Arbeit entlang gehe und eine Strecke an der Stadtmauer.
Letztes Jahr habe ich viele Fotos gemacht und Du fandest all das hier so wunderhübsch. Dieses Jahr hättest Du es selbst sehen sollen. Ein Plan, der nie Realität wurde.

Und ich… - ich habe irgendwie auch keine Zeit. Wenn es draußen hell ist, habe ich beinahe nie Gelegenheit zu Spazieren gehen.

Womit wir beim Thema wären. Weißt Du, wie sehr ich jetzt mal Deinen Rat bräuchte? Ein offenes, unbeteiligtes Ohr, einen Zuhörer. Ein guter Rat ohne Verurteilung wäre beinahe Gold wert.
Genauso wie ein „Guten Morgen, wie geht es Dir?“ in der Früh. Es ist schon lange her, dass ich morgens mit einem Guten – Morgen – Gruß auf dem Handy aufgewacht bin. Beinahe ist es schon normal, das nicht mehr zu tun. Erschreckend normal. Kaum vorstellbar, dass es je anders war. Wieder ein Zeichen dafür, dass die Zeit weiter voran schreitet und ich nichts gegen die neuen Gewohnheiten tun kann, auch wenn ich auf so vielen Ebenen versuche, das Gestern mit ins Heute zu nehmen.

Mittlerweile arbeite ich wieder genauso viel wie vor der Katastrophe mit Dir. Oder sogar noch mehr. Die letzten beiden Wochenenden habe ich gearbeitet und bis Ende November habe ich nach dem Stand jetzt noch zwei freie Wochenenden. Aber das kann sich auch noch schnell ändern.
Ich versuche mir immer noch zu sagen, dass es ein Privileg ist Ärztin sein zu dürfen, Menschen hoffentlich helfen zu können, aber ihnen zumindest in der Ausnahmesituation im Krankenhaus zur Seite stehen zu können. Und dennoch leidet die Motivation, die ich so sehr versuche aufzubringen, weil ich sonst gerade auch nichts anderes machen kann, wirklich sehr.

Eigentlich müsste ich mir jetzt wohl einen Therapeuten suchen. Nachdem die Psychosomatik nicht helfen konnte, keine zeitnahe und unkomplizierte Lösung bieten konnte. Aber das heißt: Zu den Sprechzeiten der Therapeuten dort anzurufen, und die belaufen sich auf täglich 10 oder 15 Minuten – wenn überhaupt – und somit seinen Zeitplan auf der Arbeit der eigenen Telefonliste anzupassen – beinahe unmöglich auf der Station, auf der ich arbeite. Das heißt Termine für Erstgespräche zu vereinbaren, Zeitfenster schaffen, wo keine sind, irgendwie begründen, wieso ich eher von der Arbeit weg muss, den Unmut der Kollegen auf mich ziehen, hinterher – nach dem Termin -  wieder kommen, nacharbeiten, noch länger bleiben, noch mehr Erschöpfung. Das bedeutet Erstgespräche vorbereiten, schlaflose Nächte aus Angst, diesen Menschen so viel erzählen zu müssen, weil sie sich „Psychologe“ schimpfen. Das heißt, sich verletzbar und angreifbar zu machen einem Menschen gegenüber, den ich nicht kenne, dem ich nur vertrauen kann, von dem ich nur hoffen kann, dass er sieht, dass weitere Verletzungen, weiteres Übersehen, weiteres Nicht – ernst – nehmen Deines Ablebens, das System zum Dekompensieren bringen.

Ich weiß einfach gerade nicht, ob ich das schaffe. Ob das nicht nur Zusatzbelastung ist, obwohl es entlasten sollte.

Ich weiß, Du hättest für mich zumindest die Therapeuten durchtelefoniert. Damit ich Hasenfuß nicht telefonieren muss und wenigstens vor mich hin arbeiten kann im Krankenhaus und nicht den halben Tag damit verbringe mir zu überlegen, was ich am Telefon sage.
Denn so dekompensiert es ja auch langfristig. Habe ich mal logisch überlegt überhaupt eine Wahl? 

 



Und dann… - wo arbeite ich denn weiter? Der Neuro – Oberarzt hat mir angeboten, dass ich den Chef fragen darf, ob er mich zurück auf die Stroke Unit holt. Aber das heißt: wöchentliche Chefarztvisiten, Spätdienste, Notaufnahme, mehr Druck die richtigen Entscheidungen zu treffen. Aber auch: mehr Struktur, einen immer ansprechbaren Oberarzt und eben – die potentielle Bezugsperson in meiner unmittelbaren Nähe. Das hat er sogar selbst so begründet: „Dann kann ich natürlich auch besser für Dich da sein Mondkind.“ Aber was meint er damit? Wie will er für mich da sein? In welchem Ausmaß? Und was gedenkt er zu tun? Hoffentlich nicht bei der nächsten Gelegenheit mir wieder seine Meinung zu geigen.
Und andererseits werde ich jetzt auf der peripheren Station mit ins Epilepsieprojekt einbezogen, obwohl noch keiner weiß, wohin das wirklich läuft. Aber heute gab es einen Anruf vom „neuen“ Epilepsie – Oberarzt, bei dem einige Eckpunkte erläutert wurden und bei Mails diesbezüglich werde ich schon in cc gesetzt. Ich könnte mir da wirklich ein bisschen was bauen. Wenn ich der Belastung der peripheren Station standhalte.

Und jetzt… - naja, was mache ich denn jetzt? In erster Linie habe ich Angst, an der Erschöpfung zu scheitern. Und dann… - hätte ich sehr, sehr gern Jemanden, der mitträgt, der an meiner Seite ist, der mir durch diese schwierige Zeit hindurch hilft. Und wenn das die potentielle Bezugsperson sein soll, die gerade der einzige Mensch ist, der in Frage kommt, dann bedeutet das wieder auf die Stroke zu wechseln und eine interessante Tätigkeit im Job aufzugeben. Ich mag Epilepsie – ich muss nur noch eine Menge darüber lernen.
Und was ist jetzt wichtiger? Job, oder tragfähige (wobei eben mit vielen Fragezeichen) Begleitung?

Und was mache ich mit dieser Therapeutengeschichte? Oder versuche ich mich einfach so durchzuschlagen? Irgendwie?

Ich frage mich, was Du sagen würdest zu all dem. Und weißt Du… - irgendwie fühle ich Deine Antworten ein bisschen. Und was rational richtig ist und sich gerade eben für mich machbar anfühlt, das sind wohl wieder zwei verschiedene paar Schuhe, nicht wahr… ?

Ich hoffe es geht Dir gut.
Wo immer Du auch bist.
Du fehlst immer noch genauso, wie am ersten Tag.

Mondkind

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