Wochenstart und Lösungsansätze
Wochenstart.
Auf der Station steppt der Bär. Gestern und heute waren vier Aufnahmen
zu machen und die bereits vorhandenen Patienten müssen auch noch betreut
werden. Viele schwierige Patienten. Viele anstrengende Patienten. Denen ich
irgendwie versuche, gerecht zu werden. Obwohl es so gut wie unmöglich sein
wird, den Herrn mit den chronifizierten und durch Medikamentenübergebrauch
verstärkten Kopfschmerz, schmerzfrei zu entlassen. Und ich die Dame mit der
strukturellen Epilepsie wohl auch nicht anfallsfrei bekommen werde, wenn ihr
nach einem Schädel – Hirn – Trauma das halbe Gehirn fehlt. Verbessern ja. Die
Symptomatik und damit hoffentlich die Lebensqualität. Gesund entlassen, nein.
Dazwischen ploppen „Altlasten“ auf. Patienten, die schon lange
entlassen sind und noch Rückfragen haben. Und manchmal Patienten, für die man
einfach einen Oberarzt braucht. Der in den ersten Tagen der Woche immer
schwierig bis überhaupt nicht aufzutreiben ist.
Gestern und heute sind wir so sehr dekompensiert dort, dass einer
unserer Oberärzte ein paar Patienten für morgen abbestellt hat. Wir schaffen es
einfach nicht mehr mit der personell sehr schlechten Situation.
Überhaupt ist die zwischenmenschliche Situation angespannt. Mit
eventuellen Kündigungen, die in der Luft liegen, Schwangeren, die vielleicht in
ein paar Tagen nicht mal mehr vom Schreibtisch aus helfen können und was machen
wir dann – wir lauter Anfänger auf dieser Station, wenn uns unsere Fachärzte
abhanden kommen?
Ach ja und der Vortrag. Entweder in der letzten Oktober- oder ersten
Novemberwoche. Also… - kann ich nächstes Wochenende nochmal versuchen
Kapazitäten zu finden.
Und mittendrin… - ein paar Impressionen vom Wochenendspaziergang, vom Herbst, der gerade sehr verregnet ist.
Und auch mittendrin: Ein paar zwischenmenschliche… - Highlights… ?
Montag.
Ich rase über die Station. Gerade im Patientengespräch. Das Telefon
klingelt. „Mein“ Oberarzt. Was will er denn jetzt? „Mondkind, der Chef muss
gleich mit dem Chef aus der Psychosomatik etwas klären und da hat er gerade an
Dich gedacht und mich gefragt, ob da schon etwas geklärt ist und ob Du
möchtest, dass er ihn mal fragt, ob die Psychosomatik Dir helfen kann…“ Okay,
das überfällt mich jetzt gerade. Denn irgendwo muss ich ja mein Psychiatrie –
Jahr noch machen. Und drei Minuten mit dem Fahrrad zur Psychosomatik im Ort
gegen 45 Minuten mit dem Auto in die nächste Psychiatrie… ? Er redet schon
weiter: „Mondkind, meine Meinung dazu ist…“ Okay, so hat er noch nie einen Satz
angefangen. „Ich merke gerade, dass es wieder sehr schwierig bei Dir wird und
ich denke Du brauchst jetzt einfach schnell Unterstützung, sonst schaffst Du
das bis zum Psychiatrie – Jahr gar nicht mehr. Ich denke, wir sollten das
machen…“ „Okay…“, sage ich ganz leise. Während das Gedankenkarussel schon
wieder los geht: „Mondkind, kauf Dir nicht noch mehr Probleme ein. Der Job geht
immer vor, das weißt Du, da darfst Du Dir nichts verbauen und vielleicht bist
Du nicht so krank und vielleicht hast Du das nicht verdient…“
Nachmittag. Das Telefon klingelt. Der Chef. „Mondkind, ich habe mit
[dem Chef der Psychosomatik] geredet; Du sollst über seine Sekretärin einen
Termin vereinbaren und dann setzt er sich mit Dir hin, ihr besprecht das mal
und dann kann er vorschlagen und entscheiden, was Du jetzt brauchst…“ Ich
bedanke mich.
Dienstag morgen habe ich dann den Termin vereinbart. Nächsten
Mittwoch. Spät nachmittags. Da muss ich ein bisschen früher von der Arbeit. Das
muss ich jetzt mal mit meinen Oberärzten besprechen.
Am Abend im Bett kreisen die Gedanken. Ich kann nicht schlafen.
Verbaue ich mir gerade etwas? Sollte ich gerade dankbar sein? Wird es schon
gut? Am Ende haben sich bisher immer Lösungen gefunden.
Und dann… - alter Trick: „Mondkind… - die Mondkind von heute ist
glücklich. Weil sie gerade in ihrem eigenen Bett schlafen kann und weil sie
jetzt eine Perspektive hat, dass ihr geholfen werden kann. Ob es ein gutes
Gespräch wird weiß man nicht, ob es am Ende etwas bewegt auch nicht – aber der
Termin steht und es ist überhaupt mal etwas. Und wie es der Mondkind von morgen
geht, das weiß die Mondkind von heute noch nicht und damit muss sich die
Mondkind von heute auch noch nicht auseinander setzen.“
Dienstag. 18 Uhr. Müde. Wahnsinnig müde. Das Telefon klingelt. „Mein“
Oberarzt. „Mondkind, magst Du noch vorbei kommen…?“
Ich habe schon im Vorfeld vernommen, dass er ungemütlich wird. Wenn
ich mir oder ihm was vormache, an Oberflächlichen hafte, auf der Metaebene
kreise oder im Selbstmitleid zerfließe. Ob das ein gutes Gespräch wird? Mit so
vielen Ausschlüssen?
Vorsichtig vortasten. Über Traurigkeit lässt er mit sich reden.
Darüber, dass ich das Gefühl habe, dass ich nichts in meinem Leben verändern kann,
weil es mich zu weit entfernt von dem letzten gemeinsamen Stand den wir hatten,
nicht. „Mondkind, das ist jetzt zu viel Spinnerei…“ Mag sein. Ist aber mein
Gefühl.
Gefühle und Gedanken, die sich drehen. Die mich nicht weiter bringen;
da hat er Recht, aber die eben einfach da sind, gehört und gesehen und
wahrgenommen werden wollen. Wir reden über die Dreimonatsgrenze. Dass ich
gerade realisiere, was passiert ist, mich ganz zwischenzeitlich mal mit der
Frage beschäftige, wohin die Menschen gehen, wenn sie gegangen sind. Beinahe
zusammen breche, wenn mir bewusst wird, dass er tot ist, dass ich ihm nichts
mehr sagen kann, ihn nicht mehr hören, spüren und fühlen werde.
Wir sprechen darüber, dass seine Lebendigkeit mein Beweis war
zwischenmenschlich nicht völlig inkompetent gewesen zu sein, wie es mir so gern
unterstellt wurde und sein Tod beweist, dass ich es doch nicht bin. Was er
anders sieht.
Er empfiehlt mir das Grab mal zu besuchen. Was ich auch gern würde,
wenn es nicht 280 Kilometer weit weg wäre. Seine Mutter zu fragen, wie er
gestorben ist, damit mein Hirn nicht mehr so viele Schleifen rennen muss, die
sich damit beschäftigen, wie er seine letzten Stunden verbracht hat.
„Seelenverwandter“, nennt er ihn irgendwann. Vielleicht ist das ein
gutes Wort. „Ich glaube“, sage ich, „ich habe einfach nicht bedacht, dass
zwischenmenschliche Beziehungen immer nur auf Zeit sind. Dass man die Zeit
wertschätzen und nutzen sollte (und das haben wir teilweise nicht), aber mir
war nie klar, dass das so plötzlich vorbei sein kann. Dass mir und uns das
passieren kann.“ Die Erkenntnis findet er gut – ich weiß nicht, was ich davon
halten soll. „Mondkind, Dir ist das einfach viel zu früh im Leben passiert“,
erklärte eine Kollegin letztens.
Ich merke, dass mir die Tränen schon wieder in den Augenwinkeln stehen
und wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann würde ich wollen, dass er mich in
den Arm nimmt und einfach nur ein bisschen festhält. Aber ich halte die Tränen
zurück. Er ist gerade der einzige Ansprechpartner der da ist, aber die Mails,
die es mal gab von ihm verschwinden dadurch nicht im geistigen Nirwana. „Mondkind
– das ist meine Meinung dazu. Und ich habe Dir sie einfach mal mitgeteilt, als
Du in einem geschützten Rahmen warst und darüber dann auch reden konntest und
aufgefangen wurdest. Ich weiß schon, dass das teilweise hart war und dachte,
dass das dann mal der richtige Zeitpunkt wäre…“ Ich traue mich nicht, dazu
irgendetwas zu sagen. Aber irgendwie hoffe ich, dass er seine Sicht so
übertrieben dargestellt hat, dass davon bei mir zumindest 10 % ankommen. Wenn
er jedes Wort so meint wie er es geschrieben hat, weiß ich nicht, warum wir da
noch sitzen.
Auf dem Heimweg - viel zu spät - merke ich aber auch, dass die Gespräche kaum noch
Entlastung bringen. In den letzten vier Wochen hat sich so viel angestaut, dass
ich gefühlt fast explodiere. Jeder Gedanke kann nur kurz gestreift werden, sonst
würde ich fünf Stunden einen Monolog halten.
Da wartet noch viel Arbeit auf mich. Und viel Geduld, all diese
Gedanken und Worte so lange zu tragen, bis sie ein sicheres Gegenüber, ein offenes
Ohr finden, einen Menschen, der diesen Schmerz mitträgt. Für eine gewisse Zeit
das Außen hält, wenn das Innen zerfällt.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen