Von ganz viel Wut und der Verzweiflung dahinter

Früh.

Die Sekretärin des Chefs ruft an. Was will sie denn? Gesundheitsabfrage?
Ich gehe ans Telefon. Der Chef will mich sprechen, sagt sie. Na super. Noch ehe ich fragen kann worum es geht, verbindet sie mich. „Mondkind da hat gestern der Patient [xy] vor meinem Büro gestanden und wollte, dass ich ihm seine Ultraschall – Befunde erkläre. Ich wusste überhaupt nicht, worum es da geht; was ist denn da los?“ In meinem Kopf rattert es. „Er hat gesagt, da wäre irgendetwas mit irgendeinem Gefäß und der ist irgendwie sehr beunruhigt und hat das auch alles sehr in Frage gestellt, was Sie ihm da erzählt haben…“ Er hat eine Vertebralisstenose. Und das habe ich ihm eine halbe Stunde erklärt. Und auch, dass es nichts Schlimmes ist. So sage ich das auch dem Chef. „Na Mondkind, wir müssen da jetzt irgendetwas machen – schick ihn nochmal rüber in den Neubau, da sollen die nochmal nachdopplern und ihn beruhigen.“

Erstmal gehe ich zum Patienten. Rege mich ein bisschen auf. Was ich sonst nie tue. Erkläre, dass es zwischen Assistenzarzt und Chefarzt mal noch einen Oberarzt gibt und es ja wohl am Naheliegenden gewesen wäre, erstmal nochmal mit mir das Gespräch zu suchen – immerhin bin ich noch nie nicht gekommen, wenn etwas war. Er sagt, dass es ja in dieser Klinik sicher kompetentere Leute als mich gäbe, die sich das eben nochmal anschauen sollten. Und dass er ja auf dem Bildschirm gesehen habe, dass auf dem Gefäß kein Fluss sei. Ist klar – neuerdings spielen die Patienten superschlau und interpretieren irgendetwas in irgendwelche Bilder, obwohl sie vom Doppler und ob da Fluss drauf ist oder nicht und wie viel davon, überhaupt keine Ahnung haben. „Ich diskutiere darüber jetzt mit Ihnen überhaupt nicht mehr. Sie gehen genau jetzt rüber in den Neubau ins Doppler und dann sehen wir weiter“, sage ich. „Dann können wir das ja gleich mit dem MRT verbinden, dann muss ich da nicht zwei Mal rüber“, erklärt er. „Nein, der MRT – Termin ist erst am Nachmittag und wir können das jetzt leider nicht hin und her schieben – die Termine vergibt nämlich die Radiologie und nicht ich“, gebe ich zurück. Sind wir hier im Wellness – Hotel oder was?

Ich hätte ihm am Abend hinsichtlich des MRTs noch Entwarnung geben können. Aber warum sollte ich wegen diesem Menschen eine Minute länger auf der Arbeit investieren? Kriegt er dann eben morgen mit.

Nächster Patient. Mit Rücken- und Beinschmerzen. „Also wissen Sie, das Magnesium…“ Die Diskussion führen wir seit Tagen. Deshalb habe ich es jetzt einfach mal laborchemisch bestimmt. „Das Magnesium ist im Normbereich; daran kann es nicht liegen“, erwidere ich. „Ja… - aber mir hat mal ein Arzt gesagt, dass das eigentlich fast immer falsch bestimmt wird. Man darf das nicht im Serum bestimmen…“ Mir geht fast die Hutschnur. Ganz passend liegt auf seinem Nachtschrank ein dicker Wälzer mit dem Titel „Magnesium“.
Ich kann nicht mehr. Echt nicht. Mit dem Patienten jeden Tag eine halbe Stunde über die Schuld oder Unschuld des Magnesiums an seinem Zustand zu diskutieren und mir dann schon wieder Inkompetenz unterstellen zu lassen.

Danach. Privatstation. Ein Patient mit Migräne und einer Migräneattacke in einer Form, in der er sie noch nie hatte. Deswegen ist er da. Das MRT hat nichts Neues gebracht, die Schmerzmittel greifen. „Also ich hatte da ja vor ein paar Wochen einen Verkehrsunfall mit 80 km/h…“ Na danke für die Info. Nach drei Tagen. „Soll ich da mal noch ein Röntgen der Halswirbelsäule machen…?“, frage ich de Oberarzt. Dem wiederum fast die Hutschnur reißt. Wie das denn sein könne, dass das bisher nicht bekannt ist. Naja… - Patienten müssen schon reden. (Aber nicht über Magnesium…)

Ich komme nach Hause. Schalte das Handy ein. WhatsApp von meiner Oberärztin. Ob ich mich denn um das EKG einer Patientin gekümmert hätte. Halleluja, ich weiß schon, warum ich meine Nummer auf der Arbeit nur weiter gebe, wenn ich gezwungen werde. Ich habe mich gekümmert, aber nicht den Hausarzt angerufen, weil die Internistin das für keinen katastrophalen Befund hielt. Sieht meine Oberärztin anders. Und ich weiß schon, was die erste Frage sein wird. Morgen früh. „Mondkind, warum hast Du nicht…?“ Eventuell… - weil drei Oberärzte an dem Fall dran waren und jeder etwas anderes gesagt hat… 

 

***
Später am Abend kommt die Psychotherapeutin, die die Schmerzpatienten betreut auf unsere Station. Von der Körpergröße her stimmen sie und meine ehemalige ambulante Therapeutin einigermaßen überein (beide sind sehr klein, sonst würde ich das wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen…), deshalb erinnert ihre Erscheinung mich immer an sie.

„Immer dieselben Abends hier…“, kommentiert sie und leitet damit ihre kurze Bitte an mich ein. „Ich habe ja kaum etwas mitbekommen und ich habe auch nicht genau nachgefragt, weil ich das auch immer nicht so angebracht finde… - aber Sie waren ja schon lange weg…“, sagt sie. „Mh…“, murmle ich. „Wie geht es Ihnen denn jetzt?“, fragt sie. Ich überlege, was ich sage. „Es geht so…“, entgegne ich. Daraus kann sie machen, was sie will. „Die Arbeitsbelastung hier ist aber auch hoch“, sagt sie. „Es war nicht nur die Arbeit...“, entgegne ich. „Also… - in der Situation eigentlich gar nicht…“ Wir schauen uns an und ich sehe die Fragezeichen in ihren Augen. Und es könnte auch sein… - dass meine Verzweiflung entsprechend groß ist. „Mein bester Freund ist gestorben…“, sage ich. Was für ein krasser Satz das immer noch ist. Sie legt den Stapel Papier in ihrer Hand auf Seite und setzt sich. „Das wusste ich ja gar nicht; mein Beileid…“, sagt sie. „Das ging ja dann wahrscheinlich sehr schnell; wie ist das denn passiert…?“, fragt sie. „Naja…“, leite ich ein und schweige lange. „Er hat sich das Leben genommen. Ein paar Stunden nach unserem – im Nachhinein – letzten Telefonat…“

Es kommt das Statement, das in letzter Zeit häufiger kam. Das ich so viel eher gebraucht hätte. „Das ist ja wirklich beachtenswert, dass Sie schon wieder arbeiten und dann auch noch hier – Sie kommen ja überhaupt nicht dazu, sich damit mal emotional einen Nachmittag auseinander zu setzen…“ Ich nicke stumm. „Und wenn Sie nochmal ausfallen – machen Sie sich da mal keine Gedanken. Das ist in Ihrem Fall völlig gerechtfertigt. Sie sind jetzt wahrscheinlich auch einfach total überlastet. Wenn ich mit Ihnen den BDI – Bogen durchgehen würde, käme da sicher eine recht hohe Zahl raus…“ Das vermute ich auch.
„Ich glaube am allerschlimmsten ist das, wogegen ich mich nicht wehren kann. Nächste Woche werden es vier Monate. Und diese verdammte Zeit heilt einfach nichts. Eher nimmt sie mir immer mehr die Berechtigung weg, noch damit beschäftigt sein zu dürfen. Und entfernt mich immer weiter von unserem letzten gemeinsamen Punkt, den wir hatten. Ich ertrage das einfach nicht.“ Sie sagt, dass es noch Zeit brauchen darf, aber das spüre ich im Alltag einfach nicht.
„In mir ist alles so voll von Ambivalenzen. Irgendwie. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich überhaupt arbeite. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren und auf die Patienten einlassen. Und auf der anderen Seite brauche ich das auch – jetzt wo die stabilste Säule des Privatlebens in sich zusammen gefallen ist. Alle anderen Menschen, die jetzt noch da sind und mir wichtig sind, habe ich nicht auf einer privaten Ebene kennen gelernt. Das sind alles keine horizontalen Beziehungen.
Und dann… - auf der einen Seite weiß ich, dass es alleine nicht geht, auf der anderen Seite kann ich gerade auch ein professionelles Helfersystem auch nicht mehr akzeptieren. Und dann brauche ich ganz viel zwischenmenschliche Nähe, Menschen die gerade mittragen und zeitgleich ist da so viel Wut auf alle Menschen um mich herum, auf alles, was sich bewegt und glücklich ist. Wobei das... - glaube ich - nur pure Verzweiflung ist. Aber ich war selten so wütend. “
Sie meint auch, dass professionelle Hilfe wichtig ist. Dass ich versuchen soll, wen zu finden. Und dann schlüpft sie in ihren Psychotherapeuten – Modus. Sagt, dass es ja sein kann, dass in Bezug auf dieses Thema gar nicht viele Sitzungen nötig sind. Aber dass ich einfach offene Ohren und Halt brauche, die Bestätigung über meinen Umgang mit dem Trauerprozess und dass alles was passiert ist, okay ist. Ein bisschen Stärkung der Selbstwirksamkeit.
„Sind Sie da offen mit Ihren Vorgesetzten. Es ist eine Ausnahmesituation“, erklärt sie. Ehe sich unsere Wege in den Feierabend trennen.

 


***
Tatsächlich ist die vom Chef der Psychsomatik ausgehändigte Liste beinahe durchtelefoniert. Ein Kontakt fehlt noch, weil die Therapeutin (oder wer auch immer das ist; auf dem Zettel steht „psychologisch tätige Ärztin“, ob das eine Psychiaterin oder eine Hausärztin mit Zusatzbezeichnung sein soll, weiß ich nicht…) im Urlaub ist.

Es sieht mau aus. Irgendwie.

Und naja… - es ist nicht so, als hätte ich das zum Ende der Psychiatriezeit nicht gewusst. Dass es so enden wird. Dass wir um jeden Tag kämpfen. Uns von Feierabend zu Feierabend hangeln, vermutlich völlig erschöpft sind, das Thema mit dem Freund zeitnah auf keinen Fall irgendwie zur Ruhe kommen wird. Und es im Prinzip nur um das Überleben geht. Um das verzweifelte Hoffen auf bessere Zeiten.

 

Lockdown 2.0.
Kurzzeitig hat es mich beunruhigt, wieder nicht mehr in die Studienstadt fahren zu können. Wo ich doch früher in jedem Urlaub gefahren bin. Um Herrn oder Frau Therapeutin zu besuchen. Oder am Besten beide – genug Themen hatte ich immer im Gepäck. Um den Freund zu besuchen, um die alten Cafe – Dates wieder aufleben zu lassen. Um die Freundin zu besuchen, mit der ich ein paar Monate intensiv befreundet war.
Von all dem ist nichts mehr übrig. Es spielt keine Rolle mehr, ob ich fahren kann oder nicht. All die zwischenmenschliche Wärme der Studienstadt von früher hat sich aufgelöst, ohne, dass es etwas Neues gäbe, das trägt. (Wobei Frau Therapeutin einen persönlichen Besuch vielleicht dulden würde…)

***
Erstmal muss ich jetzt morgen früh schnellstmöglich an Anweisungen der Oberärztin umsetzen. Und einfach hoffen, dass mir nicht die Ohren lang gezogen werden; dass es der Patientin gut geht. Und nicht wieder jemand in den Raum wirft, ob ich nicht besser auf der Reha aufgehoben wäre. Was die potentielle Bezugsperson ganz weit von mir entfernen würde. Der letzte Mensch, den ich dieses Jahr noch verlieren könnte.

 

Mondkind 

 

Bildquelle: Pixabay


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