Psychosomatik #16 Sehnsucht

Ich laufe durch den Kurpark.
Der Wind ist kalt, mein Kopf ist ein einziges Chaos. Die Stimmung wechselt ungefähr stündlich zwischen „irgendwie kriegen wir das hin, wenn es gehen muss“ und „ich habe doch immer noch nichts im Griff, wie soll das gehen?“
Ich erinnere mich, dass ich meinem Freund versprochen habe, jeden guten Moment für ihn mitzuerleben. Dass ich ein Stoppschild in diesem Leid sein möchte. Dass ich es nicht weiter auf andere Schultern verteilen möchte. Dass ich es trage. Dass ich ihn trage. Dadurch, dass er mich geprägt hat, ist er hier, solange ich lebe. Ich erinnere mich, dass die Antwort auf dieses Leid die Liebe ist, wie der alte Therapeut sagte. Nicht unbedingt im partnerschaftlichen Sinn, auch für uns selbst, die Mitmenschen und das Leben.

Es ist eine Sehnsucht, die kaum in Worte zu fassen ist. Die das Herz einmal in der Mitte zu zerreißen scheint. Wenn ich die Augen schließe, dann kann ich mir fast vorstellen, dass er neben mir her läuft. Ich habe das so lange nicht mehr gemacht. Diese Nummer gesucht. Die früher fast täglich gewählt wurde. Auf den grünen Hörer gedrückt. Das Tuten in der Leitung gehört. Es geht niemand dran. Nach ein paar Sekunden der Anrufbeantworter. „Hallo, ich bin gerade unterwegs“, so geht es los.

Und irgendwie würde ich gerade am liebsten auf der Stelle im Park zusammen sacken. Und gehalten werden. 

 


Es gibt so viel zu durchdenken. Wie mache ich es mit dem Job? Ich habe einen Stufenplan erstellt; die erste Stufe sieht eine Arbeitszeitreduktion vor. Dann bin ich vielleicht nicht mehr so dünnhäutig, wenn ich mehr Zeit für mich in der Woche habe. Und im Umkehrschluss kann ich besser die Arbeit und die Dienste schaffen. Denn wenn ich mich hinterfrage, mache ich es grundsätzlich gerne. Nur die Belastung war am Ende zu hoch. Und nach dem Facharzt kann ich mir immer noch überlegen: Möchte ich einen zweiten Facharzt im Bereich Psychosomatik / Psychiatrie, möchte ich eine Psychotherapeutenausbildung hinten dran hängen? Es ist alles möglich.
Und erst wenn es mit der Arbeitszeitreduktion nicht gelingt, würde ich sofort einen Fachwechsel anstreben. Aber für die Psychotherapeutenausbildung braucht man einen Facharzt, das heißt den Neurologen fertig zu machen, wäre schon sinnig. Und ich möchte ja auch keine psychosomatische Ärztin werden; wenn dann möchte ich ja schon eher in den Bereich Psychotherapie einsteigen, also würde mich ein Fachrichtungswechsel zunächst etwas zurück werfen, es wäre aber besser, als sich ganz aus der Medizin zurück ziehen zu müssen. Und wenn das alles nicht klappt dann kann ich – sollte mir das früh genug einfallen – immer noch die Doktorarbeit fertig machen (ich werde sicher noch so manches Mal mit mir hadern, dass dieses Projekt so verloren ist…), oder sonst eben nochmal studieren und raus aus der Medizin.

Ich hatte gestern mit einer Kollegin Kontakt, die dann erstmal sagte, dass sie hoffe, dass man es mit mir besprochen habe, aber ich würde ab März auf die Intensivstation rotieren. Natürlich hat niemand irgendetwas mit mir besprochen – im letzten Gespräch mit dem Chef war von Sommer diesen Jahres die Rede. Ich finde es auch extrem unglücklich so kurz nach der Klinik wieder alles zu ändern – neue Station, neue Kollegen, komplett neues Arbeitsfeld – von Intensivmedizin und Innere habe ich keine Ahnung, da muss ich viele Kapazitäten zum Lesen aufbringen – und ein neues Dienstmodell. Dann werden demnächst Intensivdienste auf mich zukommen. Und – wenn ich dort dann nach wenigen Wochen eingeflochten werde – ein Arbeiten in Früh- und Spätschichten. Und ich muss wieder nachhorchen, ob es überhaupt möglich ist, Mittwochmittags zur Therapie zu gehen.

Es gibt Momente, in denen ich denke, dass ich das schon rocken werde. Die Batterien sind wieder etwas aufgeladener, hoffentlich habe ich mehr Kapazitäten. Und es gibt die Momente, in denen ich so sehr an mir zweifle und mich frage, ob es möglich sein wird.
Ich kann meine Entscheidungen, wie ich die Dinge angehen möchte, alleine treffen. Und es auch alleine durchziehen. Und dennoch war es früher so oft so, dass der eine sich am anderen anlehnen konnte. Sich nochmal rückversichern konnte. Ob man alles bedacht hat, ob man irgendetwas vergessen hat?
Es ist nicht mehr möglich und das tut weh. Ich habe gestern so lange überlegt, wen ich diesbezüglich anrufen könnte und mir ist niemand eingefallen.

In Gedanken bin ich schon bei dem Brief für die 19 Monate, der ein Versöhnungsversuch werden soll. Ganz gezielt und ganz bewusst.

Ehrlich gesagt, ich bin okay damit in anderthalb Wochen hier zu gehen. Das heißt nicht, dass ich keine Angst habe, aber grundsätzlich ist es okay. Da war ich mir glaube ich bei noch keinem Klinikaufenthalt so sicher. Heute in der Gruppe hat sich auch eine Mitpatientin etwas irritiert über die Ansichten unseres Therapeuten gezeigt. Aber – wir werden diesen Menschen nicht ändern und weil er in der vertikalen Beziehung über uns steht, haben wir keine Chance zu argumentieren.
Ich bin dankbar für den ersten Therapeuten hier. Den sehe ich ab und an auf dem Flur, wir nicken uns zu und ich spüre einen seltsamen Stich im Herz. Mir liegt immer ein „Können wir uns nochmal zusammen setzen?“, auf der Zunge, aber ich weiß, dass das so nicht möglich ist und lasse es daher. Mein Plan ist, dass ich ihm noch eine Karte schreibe und mich ganz vielleicht am Freitag in seine Sprechstunde mogele.

 

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen