Psychosomatik #10 Ein Freitagnachmittag

Freitagnachmittag.
Am Vormittag in der Gruppe gab es ein heilloses Durcheinander. Es muss wohl irgendwelche Konflikte gegeben haben, die völlig an mir vorbei gegangen sind. Ich bekomme ja auch wenig mit irgendwie. Es war nicht der richtige Zeitpunkt meine Befindlichkeiten in die Gruppe einzubringen, wie auch später Herr Therapeut sagen wird.
Am Ende machen wir noch eine kurze Runde, wie es uns allen gerade geht. „Ich kann zur Gruppendynamik leider gar nicht viel sagen“, erkläre ich, um es wenigstens aufzugreifen. „Ansonsten gibt es immer noch Krieg in meinem Kopf.“ Herr Therapeut und die Co – Therapeutin sitzen mit im Raum. „Was machen wir jetzt Frau Mondkind, kriegen wir Sie durchs Wochenende?“, fragt Herr Therapeut. „Ich glaube schon“, entgegne ich. „Ich glaube nicht“, sagt die Co – Therapeutin. „Vielleicht sollen wir sie an die Pflege anbinden oder Du redest nochmal mit ihr“, fügt sie hinzu. „Frau Mondkind, was wollen Sie?“, fragt er. „Ich würde nachher nochmal zu Ihnen kommen“, sage ich. „Frau Mondkind und Sie wissen auch, wir haben darüber gesprochen, dass wir uns sicher sein müssen, dass das hier mit Ihnen tragbar ist. Sonst müssen wir Sie in die Psychiatrie verlegen.“ Musste der Kommentar vor der Gruppe jetzt eigentlich auch noch sein?

Halb drei schleiche ich mal wieder die Treppen zu ihm hoch. „Also ich kündige es schon mal an, die leitende Psychologin kommt gleich auch noch dazu“, sagt er. „Wie fanden Sie das Gespräch zwischen uns beiden heute in der Gruppe?“, fragt er. „Naja… - es hat mir Angst gemacht“, entgegne ich. „Weil ich das Wort Psychiatrie in den Raum geschmissen habe?“, fragt er. „Ja“, antworte ich, „weil mich das ratlos macht. Soll ich einfach nichts mehr sagen? Das bringt auch nichts, wenn wir uns in jeden Gespräch auf der Grenze bewegen. Aber es ist nicht weg, weil ich nichts sage.“ „Was wäre so schlimm an Psychiatrie?“, fragt er. „Wissen Sie, was das für ein Alptraum war? Wenn man sich in diesen seelischen Abgründen von einer ganzen Station bewegt, verliert man den Restglauben daran, dass es irgendwie besser werden kann. Spätestens da kann man nicht mehr ehrlich sein, dann kommt man aus dieser Mühle nie wieder raus.“ „Was haben Sie damals getan, um entlassen zu werden?“, fragt er. „Mit einer Kollegin telefoniert, die Psychiatrieerfahrung hatte, die mir dann genau gesagt hat, was ich sagen muss. Wie, dass ich einen Plan habe, wenn ich zurück komme, dass ich in einem festen sozialen Gefüge aufgehoben bin, Menschen mit denen ich reden kann, dass ich wieder arbeiten gehe. Im Endeffekt hat nur fast nichts davon gestimmt. Ich hatte einen Job, das ja. Kein sicheres Umfeld, eine leere Wohnung, viel Alleinsein und ein Plan, der mit dem Tod des Freundes zu Staub zerfallen war. Keine alten Freunde mehr, weil das Leben in der Studienstadt unmittelbar danach zusammen gebrochen ist.“ Ich frage mich schon, ob diese Ausführungen mir jetzt gerade so viel Glaubhaftigkeit verleihen, als die leitende Psychologin anklopft.

Irgendwie spricht sie wenig und ich weiß gar nicht genau, was sie von mir will. „Was sind denn so die Ansprüche an die Zukunft?“, fragt sie. „Ich brauche irgendeinen Plan“, sage ich. „Ich möchte schon ein bisschen eine Art Unbeschwertheit und Leichtigkeit zurück haben, die ich für eine ganz kurze Zeit in der Studienstadt mal hatte. Das ist wie auf so Polaroid – Fotos, diese Szenen. Ich sehe sie noch, diese alte Mondkind und manchmal würde ich ihr gern die Hand reichen und ein Stück zu mir rüber ziehen.“ Sie schaut meinen Therapeuten an. „Das klingt doch nach Zukunft, findest Du nicht“, fragt sie ihn. „Mh… - mir fehlt da ein bisschen die Gegenwart“, sagt er nach langer Überlegung. Echt jetzt? Was für eine Erkenntnis. „Frau Mondkind“, gibt die leitende Psychologin an mich weiter. „Naja, wenn die Gegenwart so toll klappen würde, wäre ich wohl nicht hier“, sage ich. „Allerdings verstehe ich, dass ich die Gegenwart irgendwie meistern muss, wenn ich das Leben an sich behalten möchte.“ „Wir haben ja einen Vertrag mit Ihnen…“, sagt die leitende Psychologin. „Genau und wenn ich ein was kann, dann ist es, mich an Regeln zu halten“, ergänze ich. „Das glaube ich Ihnen schon. Das Problem, dass wir nur haben ist: Ich verstehe, dass das gerade sehr schwierig ist, weil das jetzt viel hoch kommt. Der Tod des Freundes, damit im Zusammenhang auch die familiäre Situation. Ich habe schon verstanden, Sie fühlen sich wieder, als wenn sie nichts mehr hätten, weil mit seinem Tod auch der Rest zusammen gebrochen ist. Da kann es passieren, dass einen das überschwemmt. Und jetzt verlieren Sie auch noch den Therapeuten zu dem – wie ich verstanden habe – auch ein gures Vertrauensverhältnis entstanden ist. Das könnte wie eine Wiederholung der Verlusterlebnisse wirken.“ „Naja, ich kann das schon einordnen“, sage ich. „Ich finde das schon sehr schlimm, weiß aber auch, dass so etwas im stationären Setting einfach passiert und da keine bösen Absichten dahinter stecken oder das jetzt universell nur mir passiert.“ „Eine Verlegung in die Psychiatrie wäre keine Strafe“, sagt die leitende Psychologin. Ich spüre diesen Schmerz in mir und ich weiß, der wird erstmal nicht aufhören. Egal, wo ich bin. „Sie sind Kollegin, Sie wissen, dass wir eine Verantwortung haben. Ich lasse Sie hier. Wir geben Sie nicht auf, wir sehen ihre Not. Aber das ist ein Vertrauensvorschuss. Wenn es nicht geht am Wochenende, melden Sie sich sofort in der Pflege.“ Ich nicke. Sie schreibt mir noch einen Termin direkt bei ihr am Montagfrüh auf und dann geht sie.

Der Herr Therapeut und ich schauen sich an. „Ist noch etwas offen?“, fragt er. „Ich glaube nicht“, sage ich und schaue eine Weile geradeaus. Sein Magen knurrt. „Ich hatte schon in der Gruppe Hunger und ich habe immer noch nichts gegessen“, sagt er. „Na denn – lasse ich Sie jetzt in Ruhe und Sie gehen etwas essen.“ „Auch der Hunger ist ein Lebenszeichen. Achten Sie mal bei sich drauf, ob Sie noch Hunger haben. Und… - mein Hunger ist gerade auch nicht so wichtig. Also jetzt, wo Sie bei mir sitzen. Ich habe nämlich das Gefühl, da drückt noch etwas.“ „Naja, so Unrecht hatten Sie ja nicht“, sage ich. „ich kann viele Wünsche für die Zukunft haben, aber wie überstehe ich die Gegenwart. Ich habe das Gefühl, ich müsste innerlich explodieren. Ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll.“ „Wir sind doch da. Ich sitze hier, am Montag ist die leitende Psychologin wieder da, die Pflege ist da, Sie haben Mitpatienten. Meinen Sie nicht, die fragen sich, was der [Herr Therapeut] da heute mit Psychiatrie erzählt hat? Die werden Sie fragen.“ „Das war also Taktik…?“, frage ich. „Schon ein bisschen“, gibt er zu.

Wir reden noch ein bisschen. Darüber, wie es früher zu Hause war, warum das Leben nach dem Ausbrechen so speziell war und dass es wieder komplett zusammen gefallen ist, mit dem Tod des Freundes. „Man fragt sich am Anfang schon, warum Sie dieses Ereignis so dermaßen aus der Bahn geschmissen hat. Wenn Sie mir allerdings von Ihren Erfahrungen bis zum 21. Lebensjahr erzählen, wird mir einiges klar.

„So, jetzt ist es schon viel später und Sie haben immer noch Hunger“, sage ich irgendwann. „Ich habe gesagt, der Hunger ist nicht so wichtig“, entgegnet er.
„Es gibt schon Sätze, bei denen bebt das Herz ein Mal kurz. Wie Ihr ich „Ich mag Sie“, von letztens. Das Gespräch hat noch nachgewirkt. So ein Leuchten. So viel gesehen werden. So viel Wertschätzung. Für was eigentlich? Es ist schon interessant, dass ich noch angenommen werden kann, mit allem was war.“ „Das freut mich, dass ich Ihnen das vermitteln kann. Sie sind immer noch ein wertvoller Mensch. Mit allem, was Sie erlebt haben.“
Und im selben Moment tut es so sehr weh. Weil das nicht das echte Leben ist. Weil das keine horizontale Beziehung ist. Weil ich mir diesen Satz von einem Menschen wünschen würde und ihn auch gehört habe, der heute nicht mehr da ist. Von einem Menschen, von dem ich meinte mir keine Sorgen machen zu müssen, ob er bleibt.
Am Ende reden wir nochmal über unser Ende. „Sie wissen ja, wo ich bin. Wenn noch etwas offen ist, können Sie sich gern bei mir melden. Also – damit da nichts auf Sie zurück fällt – sprechen Sie es vorher mit Ihrem neuen Therapeuten ab.“ „Danke Ihnen“, sage ich, bedanke mich auch nochmal für all die Zeit, die er in mich investiert hat diese Woche. „Und hinsichtlich ambulanter Therapie… - schreibe ich Ihnen dann eine Mail?“, frage ich. „Ich habe ja schon mal gesagt, ich finde das mit der Fahrzeit grenzwertig, aber das können Sie gerne machen, ja.“ „Mh, naja. Also meine Therapeutin hatte, bis ich gegangen bin, keinen Nachfolger. Und wie schon mal gesagt: Eine halbe Stunde Fahrzeit für einen guten Therapeuten, bei dem es konstruktive Gespräche gibt, finde ich völlig legitim.“ „Mh“, entgegnet er, „ich habe da ein bisschen die Sorge, dass es überhöhte Ansprüche an die Therapie gibt. So nach dem Motto: Wenn ich da so viel rein investiere, muss ich aus jedem Gespräch etwas raus ziehen. Das funktioniert nicht immer.“ „Naja, das ist schon auch die Kontinuität“, gebe ich zu bedenken. „Unser Vertrauensverhältnis ist erst durch den intensiven Kontakt entstanden, aber dazu war jedes Gespräch wichtig, wenn auch vielleicht nicht jedes Gespräch einen Impuls hatte, der eine Teillösung für ein Problem war. Und allein einen Therapeuten zu haben gibt schon sehr viel Sicherheit. Bisher hatte ich nämlich die Sorge, dass ich mit Nichts dastehe, wenn meine Therapeutin in Rente geht.“ „Wissen Sie, dass das ganz schön schwer ist, intelligente Menschen zu therapieren?“, fragt er. „Weil die fünf Mal um die Ecke denken?“, frage ich und lache. „Die haben so einen kognitiven Überbau“, sagt er. „Kognitiver Überbau“, wiederhole ich. „Das ist aber auch schlau ausgedrückt.“ Und dann lachen wir beide. Und genau in dem Augenblick fühle ich ein bisschen Leben in mir.
„Okay wissen Sie was, Sie müssen jetzt echt was essen“, sage ich und binde mir den Schal wieder um. 


 

Es ist schon irgendwie ein merkwürdiger Klinikaufenthalt dieses Mal. Ich bin so müde und erschöpft, dass ich eigentlich wirklich nichts und niemanden hören und sehen möchte. Ein Spaziergang am Wochenende oder mich mal um die Wäsche zu kümmern, ist auch schon die Grenze dessen was möglich ist. Irgendwie habe ich nicht den Funken einer Ahnung, wie ich in wenigen Wochen wieder arbeiten gehen soll.
Und ansonsten… - es ist einfach eine ganz, ganz große Stille. Es weiß kaum einer wo ich bin, es fragt kaum einer, wie es mir geht. Ich würde gern ein bisschen erzählen können, aber es geht nicht. Langsam wird mir der Scherbenhaufen bewusst, den ich hier die letzten anderthalb Jahre produziert habe. Es ist einfach nichts übrig geblieben. Alle guten Erinnerungen, die mir so in den Kopf kommen sind aus einer Welt, die heute nicht mehr existiert und die es so nie wieder geben wird.
Ein bisschen war es, als sei der neue, jetzt schon alte Therapeut ein Bindeglied. Er hatte ein ganz klein bisschen etwas von dem Herrn Kliniktherapeuten und irgendwie wohl auch eine Vorliebe für japanische Schriftzeichen. Vielleicht ist das auch die einzige Gemeinsamkeit der Beiden. Und vielleicht war dieses Bild an der Wand in seinem Büro für mich der nötige gedankliche Sprung, um ihm zu vertrauen. Einfach mal eine andere Person im Kopf haben und anfangen zu reden und zu weinen. Ein Fehler war es nicht. Vielleicht der Hauch einer Wiederholung von längst vergangenen Zeiten.
Ich habe meiner Zimmernachbarin mal die Story von dem Herrn Kliniktherapeuten und mir erzählt. „Ich finde, Du solltest ihm nochmal eine Mail schreiben. Vielleicht könnt Ihr nochmal reden. Das würde Dir sicher helfen“, hat sie gesagt. Ich habe sogar mal irgendwo eine neue Mailadresse von ihm gefunden, aber es soll nicht wirken, als würde ich ihm hinterher spionieren.

Der Sonntag wird morgen hoffentlich einigermaßen ruhig, um die Pflege werde ich – egal wie es mir geht – einen weiträumigen Bogen machen. Was ich Montag der leitenden Psychologin erzählen soll, weiß ich noch nicht. Kommt Zeit, kommt Rat. Oder so.

Mondkind

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