Psychsomatik #6 Das erste Mal erzählen

Mittwochmorgen.
Ich vertrete mir nochmal die Füße vor diesem Tag. Laufe schnellen Schrittes durch den angrenzenden Park der Klinik. Die Enten jagen sich über die Wiesen, die hier nach dem Dauerregen der letzten Tagen unter Wasser stehen. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie rennen oder fliegen wollen. Irgendwie mag ich Enten.

Gruppe. Die Co – Therapeutin ist heute nicht da; das hatte ich so nicht auf dem Schirm. „Hat heute jemand ein Thema für die Gruppe?“, fragt Herr Therapeut. Ich merke, dass er mich aus dem Augenwinkel anschaut. Niemand sagt etwas. „Nochmal – hat jemand ein Thema?“ Ich hebe zaghaft die Hand. „Ich habe ein Thema“, sage ich. „Und was für eins?“, fragt Herr Therapeut. „Es geht um Trauer. In Verbindung mit Akzeptanz. Und vielleicht ist es nicht ganz uneigennützig, vielleicht kann es mir beim Realisieren ein bisschen helfen“, erkläre ich. Am Ende finden sich noch zwei andere Leute, die gern etwas sagen würden. „Wir lassen heute die Mondkind reden, weil sie bisher nicht mal erzählen konnte, wieso sie hier ist“, einigt sich die Gruppe.

Alle Aufmerksamkeit auf mir. „Ich habe mir so viel zurecht gelegt, was ich jetzt sagen könnte, aber jetzt fällt mir natürlich nichts ein“, beginne ich. Gönne mir nochmal eine kleine Pause. Ehe ich loslege. „Ich glaube, wir brauchen einen kurzen autobiographischen Schwenk“, leite ich ein. Berichte kurz über mein Elternhaus. Aus dem Ausbruch von dort. Wie ich dann in der Studienstadt gelandet bin ohne eine Ahnung, wie das Leben eigentlich funktioniert. Und wie der Freund in mein Leben kam. „Es gibt heutzutage so viele Plattformen, weil die Menschen nicht den Mut haben auf einen anderen zuzugehen und zu sagen: „Hey ich glaube, ich möchte Dich kennen lernen.“ Und bei ihm war das so. Ich werde das nie vergessen, wie ich da saß und er auf mich zukam.“ Ich berichte kurz über unsere gemeinsamen Jahre. „An seiner Hand bin ich groß geworden. Er hat mir das Leben gezeigt.“ Erzähle über unseren ersten Café – Sommer. Über zwei Seelen, die beide ihre Vergangenheit hatten und sich gegenseitig getragen haben. Ich komme bei 2020 an. „Der Plan war, dass er Ende des Sommers zu mir kommt. Nachdem ich den ersten „ersten Dienst“ geschafft haben würde und es klar sein würde, dass ich den Job behalten kann.“ Den Teil, dass ich nicht wusste, ob ich das überleben werde, lasse ich raus. „Und dann ist er gestorben“, sage ich.
Stille. „Wollen Sie vielleicht sagen, wie er gestorben ist“, greift Herr Therapeut mir unter die Arme. „Naja. Wie das wirklich war, das weiß bis heute Keiner. Über die Zeit habe ich die Geschichte immer näher an die Wahrheit gerückt, aber alle Details kennt bis heute niemand. Was ich aber sagen kann ist, dass er sich selbst entschieden hat, zu gehen.“
Und nach einer Pause: „Es stellt halt so Vieles in Frage. Es stellt uns beide auf zwei verschiedene Standpunkte, die nicht mehr zusammen finden. Was sagt das über unsere Beziehung aus? Was sagt das über mich als Mensch aus, meine Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden? Wie kann ich meine Zukunft gestalten, wenn heute so viel fehlt?
Und – als ich nach 15 Monaten das erste Mal wieder in der Stadt war seit dem Vorfall, habe ich ihn immer noch dort gesucht. Ich habe nicht mal begriffen bis jetzt, dass er gestorben ist. Dass die Akzeptanz seines Todes ein Therapieziel sein soll, ist absolut absurd und hat mich letzte Woche zutiefst erschüttert. Ich weiß nicht, wie man so etwas macht.“

Am Ende meines Vortrages sitzen tatsächlich noch alle auf ihren Stühlen. Ich hatte schon gedacht, der ein oder andere würde vielleicht den Raum verlassen. Bis hierher habe ich mich ganz gut geschlagen, aber dann spüre ich doch die Tränen in den Augenwinkeln und wenig später bebt der Körper. Herr Therapeut beschließt, dass wir eine Lüftungspause einlegen (das müssen wir ohnehin wegen Covid). Einige vertreten sich die Füße, er zieht sich einen Stuhl heran, setzt sich neben mich und wartet, bis ich mich ein bisschen beruhigt habe.

Natürlich kann die Gruppe das nicht großartig kommentieren. Niemand kann hier aus Erfahrungen schöpfen. „Du bist nicht Schuld daran“, höre ich und auch, dass ich meinen Wert als Mensch dadurch nicht verliere.

Nachmittag. Ich liege völlig erledigt auf meinem Bett. Meine Zimmernachbarin ist davon überfordert und fängt erstmal an zu weinen. Wie ich das hasse mit der Zimmersituation.
Irgendwann muss ich zur Körperdynamik, wo ich maximal ein Viertel anwesend bin. Ich habe keine Ahnung, was wir da gemacht haben. 

Park und Enten...

Es geht nicht. Ich kann nicht mehr. In der Pflege sitzt heute schon wieder die Frau, mit der ich nicht kann. Die ist gefühlt immer da. Ich fasse mein Hasenherz zusammen, verlasse das Zimmer, schleiche durchs Treppenhaus nebenan und dann durch den Flur, der zum Zimmer des Herrn Therapeuten führt. Der knarrende Boden verrät mich schon. Zaghaft klopfe ich an die Tür. Ich höre wieder das Knarren des Bodens. Die Tür öffnet sich. „Frau Mondkind…?“, fragt er. „Was ist los?“ „Wegen heute früh“, sage ich. „Es ist jetzt gerade sehr ungünstig“, erklärt er. „Okay“, gebe ich zurück. Er schaut auf die Uhr. „Schaffen Sie es noch eine Stunde?“, fragt er. „Ja…“, entgegne ich. „Dann kommen Sie in einer Stunde, okay?“ „Ja, Danke Ihnen“, entgegne ich.

Eine Stunde später lässt er mich in den Raum schlüpfen und ich lasse mich auf den Stuhl in seinem Büro fallen. Er schaltet den PC aus und setzt sich von dem Bürostuhl auf den Stuhl mir gegenüber. Zwischen uns beiden steht noch ein kleiner Holztisch. Er faltet die Hände in seinem Schoß und schaut mich an.

„Ich schäme mich ein bisschen. Ein bisschen sehr“, beginne ich. „Wofür?“, fragt er. „Für das, was ich heute Morgen erzählt habe“, entgegne ich. „Irgendwie ist mir da ein Kommentar wieder eingefallen.“ „Was denn für ein Kommentar?“, fragt er. „Es wurde mal gesagt, ich soll den Tod des Freundes nicht ausschlachten und mich darüber in der psychiatrischen Hängematte ausruhen und irgendwie habe ich gerade das Gefühl, genau das zu tun.“ Er seufzt. „Was Sie sich alles dazu schon anhören mussten; das macht mich richtig wütend.“ „Und dann habe ich irgendwie die Angst, dass mein Gehirn da irgendetwas verdreht hat und ich mir das vielleicht wirklich ausdenke, aber eigentlich ist es ja auch passiert und irgendwie…“ „Und jetzt versucht Ihr Gehirn den nächsten Weg zu finden, warum Sie das nicht akzeptieren müssen. Sie haben sich das nicht ausgedacht und Sie sind kein schlechter Mensch.“
Ich rede über Sicherheiten. „Ein Therapeut in der letzten Klinik hat mir mal gesagt, dass ich dem Team schon einen Vertrauensvorschuss geben muss. Und dann habe ich das gemacht und habe mich voll auf die Nase gelegt damit. Und irgendwie glaube ich gerade, habe ich noch nie mehr Vertrauensvorschuss gegeben als hier und jetzt und irgendwie kann ich aber nicht vertrauen, dass der Boden hier mich auch wirklich trägt. Ich fühle mich im Moment wie eine Nacktschnecke - so angreifbar und verletzbar und ich weiß nicht, ob ich mich irgendwo anlehnen kann.“ „Sie zittern auch richtig“, merkt Herr Therapeut an. „Weil ich so viel Angst habe“, sage ich. Und dann tue ich das, was ich immer tue hier – weinen. Die Taschentuchpackung und ich bei Herrn Therapeuten sind schon best friends.
„Sie haben ja auch ganz kurz über Ihre Familie erzählt heute morgen – und auch, wenn ich verstehe, dass Sie das schon während anderer Klinikaufenthalte bearbeitet haben und das nicht der Hauptgrund ist, warum Sie hier sind – aber wenn Sie wollen, können wir da auch nochmal hinschauen. Und eigentlich hätte Ihnen alles, was Sie in Ihrer Familie schon erlebt haben wahrscheinlich schon gereicht und dann kam das mit Ihrem Freund noch oben drauf. Ich denke, dass das gerade auch vor dem Hintergrund nochmal eine ganz andere Sache ist.“ „Es ist so krass hier zu sitzen und statt eines Post – Therapie – Café – Dates mit dem Freund im Anschluss der Stunde, mit Ihnen darüber zu reden, dass er nicht mehr da ist. Da stimmt etwas nicht.“ Und vor allen Dingen ist es so schön zu spüren: Da gibt es Leute, die fangen an zu verstehen. Die können Beides sehen. Einerseits unabhängig und andererseits im Zusammenhang mit dem, was es ist.

Und dann kommen wir nochmal auf den Freund zurück. Und auf das  schwierige Thema Zukunft. „Ich will gerade gar nichts von Zukunft hören. Ich kann nicht in die Zukunft gehen, es geht einfach nicht.“ Er fragt mich nach einem Bild. „Naja für mich fühlt sich das immer so an, als sei ich da an jenem Tag im Juli mit Vollgas vor die Wand gefahren und sei in ganz viele Scherben zerfallen. Und ein minikleiner Teil ist vielleicht ganz geblieben und steht bis heute ungläubig davor und fragt sich, was zur Hölle da passiert ist. Und gleichzeitig dreht sich die Zeit weiter und dieser Teil steht aber immer noch da und die Lücke wird immer größer und unerträglicher und jedes Mal, wenn ich versuche einen Fuß in Richtung der Zeit zu setzen, habe ich das Gefühl, ich falle ins Nichts. Ich kann meinen Blick nicht von dieser Wand lösen, vor der ein Teil von mir zerbrochen liegt.“ „Ich höre da Zukunft“, sagt Herr Therapeut. „Die da wäre?“, frage ich. „Sie haben Recht, ein großer Teil von Ihnen mag vielleicht kaputt gegangen sein an dem, was Sie erlebt haben. Aber ich höre auch einen kleinen Teil, der noch da ist und er hier gerade spricht. Und für mich würde es erstmal reichen, wenn Sie diesen kleinen Teil und den ganzen Schmerz der damit verbunden ist, annehmen. Und nicht davor weglaufen, weil es zu sehr weh tut – was Sie ja jetzt auch lange gemacht haben. Und über die Annahme führt irgenwann der Weg in die Zukunft. Das müssen Sie jetzt noch nicht sehen. Jetzt sind Sie hier in der Klinik, müssen nichts und niemandem gerecht werden und können und sollen erstmal nachspüren, was Ihnen da passiert ist. Machen Sie das alles langsam, es hetzt Sie niemand. Mir scheint, Sie muten sich ein bisschen viel zu, eine Therapie funktioniert nicht auf der Überholspur.“ „Aber ich muss irgendwann wieder arbeiten. Und so wie ich jetzt bin, kann ich nicht arbeiten. Ich bin normalerweise nicht so. Ich weine sonst nicht so viel und beschäftige Therapeuten spät abends.“ „Jetzt müssen Sie aber nicht arbeiten und wann Sie wieder arbeiten gehen, müssen Sie jetzt auch nicht wissen. Für Sie ist das jetzt hier vielleicht Stillstand oder Rückschritt, ich glaube, dass Sie gerade in dieser Verarbeitung nach vorne springen.“

„Darf ich etwas sagen?“, frage ich. „Ja“, entgegnet Herr Therapeut. „Wir haben ja vorhin über Sicherheiten geredet. Das hier ist für mich Sicherheit. Ich weiß, ich soll das nicht überstrapazieren, wenn Sie mir anbieten mich zu melden. Aber wenn ich dann all meinen Mut zusammen nehme, das mache und Sie mir dann signalisieren, dass es okay ist, dann habe ich doch das Gefühl, dass ich mich gerade ein bisschen auf dieses Kliniksetting verlassen kann. Ich fühle mich schon ein kleines bisschen ruhiger. Danke Ihnen, wirklich, das meine ich sehr ernst.“ „Schön, wenn es Ihnen hilft“, sagt er.

„Darf ich noch was fragen. Also ich hoffe, die Frage ist nicht zu blöd“, beginne ich. „Fragen Sie“, sagt er. „Also Sie haben ja gesagt, dass Sie unsere Gruppe abgeben, weil Sie jetzt mehr ambulant machen. Und meine Therapeutin geht ja im Frühjahr in Rente. Und da habe ich mir gedacht, vielleicht frage ich Sie, ob Sie sich vorstellen könnten, mit mir weiter zu machen. Weil wir kennen uns ja jetzt und Sie kennen schon ein bisschen meine Geschichte und ich finde Sie eigentlich gut als Therapeuten.“
Ich habe schon ernsthaft erwartet, dass er mir jetzt einen Vortrag hält, dass es so nicht geht und das offiziell über die Ambulanz laufen muss. Aber er meinte, dass es grundsätzlich wohl ginge. Er erklärte, er würde immer darauf achten, dass seine Patienten nicht zu weit fahren müssten und hat mich dann gefragt, wie weit mein Heimatort von hier weg ist. „Naja, so ne halbe Stunde mit dem Auto denke ich“, erkläre ich (naja, das ist dezent zu sportlich…) und verschweige mal, dass ich nicht mal eins besitze. „Das wäre gerade so die Grenze“, sagt er. „Naja, ich habe bei mir ja auch alles durchtelefoniert gehabt und hätte mein Oberarzt nicht ein paar freundliche Anrufe getätigt, hätte ich bis heute keinen Therapeuten, denke ich. Also so einfach ist es nicht und mir wäre es das schon wert“, sage ich.
Er meinte, ich soll es mit meiner aktuellen Therapeutin besprechen, die nicht mal genau weiß, wann sie wirklich in Rente geht kann mich dann entweder über die Zentrale, direkt über seine Durchwahl oder per Mail bei ihm melden. Dann müsste man natürlich auch noch einiges mit der Krankenkasse regeln, weil da ja jetzt Therapiestunden genehmigt sind, die aber immer personengebunden sind. Aber dass ich die nicht mehr mit der alten Therapeutin fertig bekomme, ist ja dann wohl offensichtlich. Also ob das dann funktioniert, ist mal noch eine zweite Frage, aber es ist zumindest schon mal eine Option. Und ich mag ihn echt als Therapeuten. Er sagt zwar wenig und ist auch manchmal echt streng, aber ich konnte bisher aus fast jedem Gespräch etwas mitnehmen.
Und scheinbar habe ich ihn noch nicht so doll genervt, dass er die Zusammenarbeit mit mir grundsätzlich ablehnt. Obwohl ich ihn heute eine Stunde beschäftigt habe, die mir eigentlich gar nicht zusteht. Und theoretisch haben wir ja nur 20 Minuten Einzel in der Woche, da war das eigentlich das Kontingent für drei Wochen.

Als ich diesen Raum verlasse, fühle ich mich so getragen. Es ist so wunderschön zu spüren: Auch wenn das Vertrauen in Menschen nach dem Tod des Freundes und auch in das Psychotherapiesystem so erschüttert wurde, aber da gibt es etwas in mir, das den Glauben nicht verloren hat. An das Gute in den Menschen. Und dann gibt es da die Menschen, die dieses zarte Grün in mir sehen, es vorsichtig mit zwei Händen tragen und aufpassen, dass die kleinen Triebe nicht umknicken.
Es ist etwas Besonderes, mit dieser Geschichte wahrgenommen und gesehen und werden – und nicht nur das – auch ein bisschen beschützt zu werden. Es ist erstmals die Erfahrung: Ich bin anders geworden durch das, was ich erlebt habe und ich merke auch, dass die anderen im Umgang mit mir etwas unsicher sind. Und gleichzeitig ist es zum ersten Mal kein Ausschließen.
Ich spüre, dass ich in diesem Raum gerade etwas wahrgenommen habe, das ich ganz lange nicht mehr hatte: Ein bisschen, wie früher in der Ambulanz, als ich zu Frau Therapeutin rein geschlüpft war. Die Gewissheit, dass mir für den Moment in dem ich dort sitze, nichts passieren kann. Weil ich nicht alleine bin. Weil da jemand mitträgt.

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen