Psychosomatik #5 Von Therapeutenwechseln und Einzelgespräch

Montag.
Es ist immer noch schwer aufzustehen. Obwohl der Wecker heute mal viertel vor sieben klingelt – morgen ist es eine Stunde eher.
Ich rappele mich auf, ziehe mich an. Heute vor anderthalb Jahren. War der Tag, an dem das Leben, so wie ich es kannte, aufhörte.

Ich schlurfe in den Speisesaal. Hole mir einen Kaffee und setze mich an meinen zugewiesenen Platz am Tisch. Starre ein paar Löcher in die Luft. In meinem Kopf spielt sich unentwegt ab, was vor anderthalb Jahren um diese Zeit passierte. Anderthalb Jahre. 548 Tage.

Wenig später ist Gruppentherapie. Eigentlich war der Plan, dass ich heute ein bisschen was von meiner Geschichte mit meinem Freund erzähle. Allerdings wurde dieses Vorhaben dadurch gesprengt, dass unser Therapeut, der auch mein Bezugstherapeut ist, uns ankündigte, dass er seine Stunden zu Gunsten der ambulanten Therapie in der Klinik reduziert und wir somit in knapp zwei Wochen einen neuen Therapeuten bekommen.
Irgendwie stelle ich immer mehr fest – ich bin halt schon ein bisschen ein alter Hase. Ich kenne das System Krankenhaus auch mittlerweile. Ich  weiß, dass so etwas passieren kann und dass das nichts mit dem Therapeuten an sich zu tun hat, sondern einfach mit beruflichen Veränderungen und ab und an ist das dann halt ziemlich blöd für Patienten. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht auch persönlich trifft – einige andere konnten ihre Enttäuschung darüber allerdings nicht gut beherrschen, sodass das dann das Gruppenthema wurde. Damit kam ich natürlich nicht zum Zug.
Ich versuche mir zu denken, dass das nicht zwingend der Untergang für die Therapie hier werden muss – auch wenn ich mich mittlerweile an meinen Therapeuten gewöhnt habe und ihn im Einzel recht gern habe. Aber vielleicht kann ein neuer Therapeut ja nochmal einen anderen Input geben, vielleicht profitiere ich von ihm auch und um langfristige Bindungen geht es im stationären Setting ohnehin nicht. Und dennoch… - wenn er schon von ambulanter Therapie spricht, die er scheinbar macht – ich beobachte ihn noch eine Woche still und dann frage ich ihn vielleicht, ob er noch Kapazitäten hat, wenn meine Therapeutin in Rente geht. Das weiß er auch schon, ich habe es ihm schon gesagt und er hat schon betont, dass in meinem Fall eine ambulante Anbindung sehr wichtig sei. Da kann er sich gerne persönlich drum kümmern.

Im Plenum werden im Anschluss die Neuankömmlige zwischen Weihnachten und Neujahr begrüßt und diejenigen, die morgen abreisen verabschiedet und danach muss ich zu meinem Einzelgespräch rasen.
Und das… - hat es dann in sich. Zuerst schauen wir über den Therapieplan, mit dem ich aktuell soweit zufrieden bin. „Gibt es ansonsten etwas heute? Es geht Ihnen nicht so gut, oder?“ „Naja, es sind anderthalb Jahre heute… - da muss ich glaube ich nicht mehr viel sagen, oder?“ Und dann habe ich schon wieder Tränen in den Augen. Ich glaube, ich habe bei ihm noch kein Einzel ohne Tränenausbruch geschafft. „In Gedanken gehe ich heute den ganzen Tag diesen Tag vor anderthalb Jahren durch, der der wahrscheinlich größte Wendepunkt in meinem Leben war.“ „Inwiefern?“ „Naja, er teilt alles in ein Leben davor und in ein Nicht – Leben danach ein.“ Lange Pause. „Es hat bis zum Nachmittag gedauert, bis ich das was passiert war das erste Mal los werden konnte. Bei meinem alten Therapeuten; dem hatte ich am Nachmittag eine Mail geschrieben. Es muss so ungefähr um diese Uhrzeit gewesen sein, als er zurück gerufen hat. Im Hintergrund haben damals die Vögel gezwitschert, er war draußen auf dem Psychiatriegelände unterwegs. So viel Leben am Telefon. So viel Tod in mir. Es war verrückt.“ Wir reden über die ersten Tage Psychiatrie. „Naja. Der erste Kommentar des Psychologen auf der Geschlossenen war damals: „Sie müssen sich einen neuen Freund suchen.“ Und dieser Tenor ging wochenlang so weiter. Während ich gebetsmühlenartig wiederholt habe: „Ich möchte mein altes Leben zurück“, an den Satz kann ich mich erinnern. Ich konnte einfach den Menschen nicht begreiflich machen, was da passiert war. Nach sechs Wochen dachte ein vertretender Stationsarzt ich sei da wegen einer beruflichen Überforderung.“ „Können Sie sich vorstellen, dass das ganz viel Hilflosigkeit auf allen Seiten war?“, fragt er. „Ja, auf den Trichter bin ich auch schon gekommen. Ich bin den Leuten da auch nicht mehr böse. Obwohl ich in den letzten drei Wochen dort dann auch einfach nicht mehr reden konnte. Das war mir noch nie vorher im Leben passiert.“ „Naja, das kann ich nachvollziehen, ich hätte mich – wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre – mutmaßlich auch zurück gezogen, um mich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Auch wenn das natürlich für Ihren Therapieprozess nicht förderlich war.“

Ich rede darüber, dass ich es glaube ich immer noch nicht realisiert habe – um auf das Thema von letzter Woche zurück zu kommen. „Weiß die Gruppe eigentlich mittlerweile, warum Sie da sind?“, fragt er. „Ich habe denen erklärt, ich bin wegen einem Trauerfall hier“, entgegne ich. „Aber die wissen nicht, dass das Ihr Freund war und dass er sich das Leben genommen hat?“, fragt er. „Nein“, entgegne ich. „Ich glaube das wäre wirklich wichtig, dass Sie das mal sagen“, schlägt er vor. „Wollte ich heute, aber dann war der Rahmen irgendwie nicht mehr so geeignet.“ „Das verstehe ich – vielleicht schaffen Sie es Mittwoch; schauen Sie mal wie es Ihnen geht.“ „Ich habe schon Angst vor Kommentaren“, erkläre ich. „Vor was genau? Dass die Menschen sagen, dass es schon anderthalb Jahre sind und das keine Relevanz mehr hat?“, fragt er. „Zum Beispiel“, entgegne ich, „oder irgendetwas anderes. Ich habe viel gehört und hatte immer das dringende Bedürfnis den Leuten mit einer Bratpfanne auf den Kopf zu hauen. Aber keine Sorge, ich habe es nie gemacht.“ „Mh… - fünf Jahre sind in Ihrem Alter eine halbe Ewigkeit. Ich bin auch da. Wenn etwas passiert, greife ich ein, obwohl ich Ihnen zutraue, sich selbst zu verteidigen."

Spaziergang von letztens

Nach einer längeren Pause. „Ich wollte noch etwas ansprechen“, sage ich. „Etwas von Freitag…“ „Von Freitag?“, fragt er. „Wir haben geredet, erinnern Sie sich?“, frage ich. „Ja…“ „Also eigentlich habe ich nicht alles erzählt“, leite ich ein. „Was wäre da noch?“, fragt er. „Naja, das ging eigentlich schon Mittwoch los, deshalb bin ich dann ja irgendwie so ins Rotieren gekommen. Es gibt glaube ich in meinem Leben zwei Situationen, die immer zu einem relativ ungünstigen Verlauf führen. Eine Sache sind Prüfungssituationen – deshalb hatten wir im Studium auch ständig ein Problem. Und dann passiert es glaube ich auch immer dann, wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich nicht mehr bewegen kann. Und das war und ist ja so. Ich kann nicht rückwärts – das geht mittlerweile kaum noch, aber nach vorne ins Leben kann ich auch nicht – obwohl ich so gern würde, aber ich habe Ihnen ja schon gesagt – das ist, als würde mich jemand an der Kapuze zurück ziehen, sobald ich nur den Fuß hebe.“ „Mh, und das macht dann ganz viel Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit“, ergänzt er. „Vielleicht, ja“, sage ich. „Und dann… - kann ich meinen Freund manchmal so gut nachvollziehen.“ Und dann weine ich schon wieder. „Und dann schämen Sie sich dafür?“, fragt er. „Schon ja. Weil ich jetzt in der Situation bin, dass ich einen Menschen auf die Art verloren habe und doch weiß, wie schlimm das ist und ich niemanden wünsche in meiner Situation zu sein. Und auch wenn ich nicht weiß, ob es Menschen gibt, mit denen ich noch so eng bin – vielleicht ist es nicht so oder ich kann es gerade nicht sehen – wenn die potentielle Möglichkeit besteht, dass jemand so leidet, wie ich jetzt, dann geht es nicht. Außerdem habe ich meinem Freund ja versprochen, alles für ihn mitzuerleben. Und als ich das in der Psychiatrie gesagt habe, hat das auch wieder niemand verstanden, weil es hieß, dass ich das ja nicht empfinden könnte in meiner Position eben weil ich weiß, wie schlimm das für die Angehörigen ist.“
Er schaut mich an. Und was dann kommt, sind ganz bewegende Worte. „Ich habe das in Ihnen gesehen am Freitag. Aber ich habe Sie nicht darauf angesprochen. Ich dachte, Sie kommen schon von alleine zu mir, wenn Sie darüber reden wollen. Ich verstehe Sie absolut. Nachdem was Sie erlebt haben, ist das in Ihrer Situation völlig verständlich und nachvollziehbar. Ich verurteile Sie da nicht; das ist wichtig.
Und dennoch – Sie wissen was jetzt kommt. Natürlich ist das auch eine Möglichkeit mit der Situation umzugehen und ein möglicher Ausgang von Therapie. Und dennoch ist es nicht der Ausgang von Therapie, den wir für Sie wollen und das ist auch kein Weg, den wir mit Ihnen gehen möchten. Weil wir glauben, dass wir Sie da immer noch auf einen Weg ins Leben bringen können, auch wenn Sie das aktuell nicht sehen. Deshalb brauche ich von Ihnen das Versprechen, dass Sie sich wenn es akut wird mit den Suizidgedanken direkt bei mir – Sie wissen wo ich bin – melden, oder – wenn ich für Sie nicht erreichbar bin – über die Pflege. Und dann schauen wir, was Sie brauchen.“
Ich nicke. „Und wie Sie am Ende der Therapie hier gehen, das wissen wir alle noch nicht. Wir hoffen, dass wir Ihnen das bis dahin ein bisschen nehmen können.“

Ich bin diesem Menschen so unendlich dankbar. Das könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Ich hatte so Angst, hier wieder auf taube Ohren zu stoßen und erlebe so viel Unterstützung von meinem jetzigen Therapeuten.  

Mondkind 

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