Vom neuen Alltag und langen Nächten

Ich wäre so gerne unsichtbar.
Auf dieser Station, auf der ich jetzt arbeiten muss.
Selbst wenn keine medizinischen Katastrophen passieren – zwischenmenschlich ist diese Station eine Dauerkatastrophe.
Irgendwie erinnert mich einer dieser Oberärzte dort an mein halbes Leben. Egal was man so macht – es ist grundsätzlich immer falsch und die Assistenten können – allein aufgrund des Assistentenstatus – keine Ahnung haben. Ich war dabei, als er einem Assistenten gesagt hat, dass der Brief ja schon ganz gut gewesen sei, es da aber noch einen Punkt gäbe, den er verbessern solle. Um am nächsten Tag, als der assistenzärztliche Kollege nicht da war im Arztzimmer zu erklären, dass der Brief ja unter aller Kanone gewesen sei.
Ich hasse es mit Menschen zu arbeiten, die ich grundsätzlich nicht einschätzen kann. Und bei denen es so zu sein scheint, dass man alles tun kann was einem so einfällt und es trotzdem nicht reicht. Und natürlich habe ich auf dieser Station einfach auch wenig Ahnung.

Die sonst in diesem Haus eher flachen Hierarchien betreffen zumindest die Intensivstation und die Frühreha nicht und da sind solche Choleriker am Start, dass man nie weiß, wann es das nächste Mal explodiert.

Ich merke, wie ich still werde. In den Visiten still hoffe, dass es bei meinen Patienten keine Katastrophen gibt, dass niemand Dinge von mir möchte, die ich nicht kann oder mir alleine noch nicht zutraue. (Ein „Mondkind wechsel mal den Shaldon“ löst schon mittelschwere Panik aus, weil ich das alleine einfach noch nicht machen kann).

Die Zeiten, in denen ich kompetent über die Flure gefegt bin, sind vorerst vorbei. Was ungünstig ist, wenn man gelernt hat seinen Selbstwert hauptsächlich aus dem beruflichen Tun zu ziehen – insbesondere, weil ich privat ja auch kaum mehr versagen konnte. Intensivstation oder Notaufnahme – das ist mein Leben bis mindestens Ende des Jahres. Und danach hat man vor, mich mein Psychiatrie – Jahr machen zu lassen. Mal sehen, das kann tatsächlich auch eine Chance sein.

„Mondkind, Du steckst das doch ganz gut weg“, meinte letztens wer. Naja, was soll ich jetzt machen? Mich hat niemand gefragt – es hieß, dass ich nach der Psychosomatik und dem langen Ausfall gut wieder ins Team aufgenommen werde. Am Ende wurde ich in dieses Team gar nicht mehr aufgenommen (naja, für zwei Wochen noch…) und dann in den Keller des Gebäudes auf die Intensiv verschoben. Natürlich muss ich die Intensiv machen, aber nach der Klinik in die nächste Überforderungssituation – hätte mich jemand gefragt, hätte ich versucht das abzubiegen, aber gegen die Chefetage ist man chancenlos. Die wollen halt, dass ich den Facharzt in fünf Jahren mache; mir würde es erstmal reichen sicher zu überleben und wenn möglich auch mal irgendwann ein bisschen Lebensqualität zu haben, aber die Zielsetzungen sind hier eben ein bisschen unterschiedlich…

Also hofft man einfach, dass die berufliche Karriere das überlebt. Die Tage ändern sich. Man kommt pünktlicher raus; wenn man irgendwann diese zwischenmenschliche Katastrophe akzeptiert hat – vielleicht kann man daraus auch Lebensqualität ziehen. Aber so wie früher – dass ich mich auf der Station und unter den Kollegen wohl gefühlt habe und teilweise lieber auf der Arbeit, als zu Hause war – das wird es nicht mehr geben.

Nach dem Arbeitstag gestern muss ich noch kurz meine Sachen in den Neubau bringen für den Dienst heute. Auf dem Weg vorbei an der Stroke Unit laufe ich der potentiellen Bezugsperson in die Arme. Er nimmt mich kurz mit in sein Büro. Wir reden kurz über die Intensiv (ich kann bei ihm nicht zu sehr schlecht darüber reden, weil er es für eine der besten Ideen seines Lebens hält, mich dahin gesteckt zu haben), ehe ich auf meinen Freund zu sprechen komme. Mein Hirn explodiert mit diesem Thema in diesen ersten Frühlingstagen. „Mondkind sag mir – was willst Du eigentlich machen, wenn es dann zwei Jahre sind. Willst Du dann immer noch zählen?“ Verdammte Hacke, ja. Er wird auch im Juli noch fehlen und er ist auch dann immer noch tot. Trauer hat kein Ablaufdatum, das versteht nur kaum Einer. Es hat keinen Sinn mehr, mit ihm darüber zu reden. Das macht es nur noch schlimmer.

Er hat aber die Idee, dass wir den Sonntag nutzen, um mal die Autohäuser in der Gegend abzufahren und mal zu schauen. Dass er auf den Trichter kommt hätte ich ehrlich gesagt nicht gedacht, weil er danach zwei Wochen nicht da ist. Ich bin von der Idee auch maximal nicht begeistert, weil ich nach Arbeiten bis tief in die Nacht heute, dann noch Zeitumstellung und schon am Dienstag den nächsten Dienst, den Sonntag gern zum Ausruhen genutzt hätte. Aber es muss auch vorwärts gehen, deshalb ist es wahrscheinlich sinnvoll das zu tun.

Am Abend gehe ich noch kurz einkaufen, putze die Wohnung grob und mache die Wäsche.
Ehe es eine unruhige Nacht wird. Ich hasse diese Schübe von Frühling. Die so viele Erinnerungen mit sich bringen. So viel Hoffnungslosigkeit auslösen, während die Welt aufsteht. Und so sehr ich auch versuche die guten Momente aufzunehmen, sie in meinem Herzen zu speichern und dort abrufbar zu halten, gibt es diese Zeiten in denen ich nicht glaube, dass ein Überleben dieser Situation langfristig möglich ist. Dass dieser Schmerz irgendwann so händelbar wird, dass ich keine Angst haben muss, dass er mich immer und immer wieder überfällt und es keine Ventile mehr gibt, weil nichts mehr funktioniert. In denen es tagelang – teilweise schon wochenlang – gedauert hat, bis es wieder ruhiger wird. 

Noch ist es kahl an der Burgmauer

Vor zwei Jahren. Wir wussten nicht, dass es nicht mehr besser wird. Dass wir am Ende unserer gemeinsamen Reise, unseres „wir“ waren. Dass all die Pläne, die wir geschmiedet haben – sei das nun das Zusammenziehen oder die Urlaubspläne für den Sommer (die in einer beginnenden Pandemie auch sehr fraglich erschienen) – nicht mehr Realität werden würden. Wir wussten nicht, dass wir am Besten jedes Wort des anderen im Herzen speichern. Wir wussten nicht, dass bereits Wochen zuvor das letzte Café – Date stattgefunden hatte, wir uns ein letztes Mal in den Armen gelegen haben, wir nie wieder gemeinsam Hand in Hand durch die Studienstadt gehen würden und die Schatten schon drohend an den Wänden geklebt haben, ohne dass wir sie sehen konnten.

Es nimmt mir die Luft zum Atmen, das alles. Und trotzdem muss es weiter funktionieren.

Und obwohl ich so viel schreibe und auf die einsetzende Ruhe hoffe, nachdem die Dinge ausgespuckt sind, gibt es manchmal keine Worte. Selbst das Vermissen zwischen den Zeilen ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist ein Schmerz, der mich am Liebsten zu wem anders sagen lassen würde: „Bitte halt mich, damit ich nicht zerfalle“, aber es gibt Niemanden. Der Mensch, mit dem ich mich wechselseitig tragen konnte, lebt nicht mehr. Alternativen waren immer vertikale Beziehungen. In allen schlimmsten Szenarien, die vor seinem Tod in meinem Kopf passieren konnten, war sein Tod nie dabei. Weil ich vermutlich auch nie geglaubt hätte, dass ich das so lange überleben kann.

Manchmal spüre ich ihn diesen Nächten mein Herz, das so kräftig schlägt als wolle es mir zeigen, dass es leben will. Und ich wünsche mir manchmal, es würde einfach aufhören, dieses Herz. Und mit dem letzten Schlag und meinem letzten Atemzug diesen Schmerz mitnehmen. Wie soll ich bitte diesen Frühling und Sommer überleben? Bis alle Jahrestage durch sind, ist der Sommer fast vorüber.

Ich ziehe los zum Dienst. Ich hoffe, es gibt keine Katastrophen heute. Dafür habe ich einfach keine Kapazitäten mehr.

Mondkind

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