Von ganz viel Mut auf der ITS und in der Fahrschule

Hey mein lieber Freund,
Du sag, wie geht es Dir eigentlich? Werden die Tage auch auf der anderen Seite des Seins länger? Wird es Frühling bei Dir? Kannst Du es genießen?

Kann ich heute mal bitte den Mut – Orden bekommen? Ich muss etwas erzählen.

Intensivstation. Das ist jetzt mein Leben. Jeden Tag kritisch kranke Patienten, bimmelnde Monitore von früh bis spät und dazwischen die Dialyse – Maschinen, die mit einem ganz tiefen Ton auf sich aufmerksam machen.

Ich habe heute meinen ersten Shaldon – Katheter gelegt. Und da das ein echt dicker Katheter ist, muss man gut aufpassen, kein Blutbad zu veranstalten. Mein Plan war eigentlich, den in den Hals zu legen, die Kollegin wollte aber lieber die Leiste. Eine schnelle Ultraschalluntersuchung hat gezeigt, dass die Arterie und die Vene genau übereinander liegen und die Arterie oben ist. Und deshalb: Shaldon – Anlage unter erschwerten Bedingungen. Es ist nicht so einfach an einer pulsierenden Arterie vorbei zu stechen, um in einer darunter liegenden kollabierenden Vene zu landen. Zwei Mal habe ich die Arterie angestochen – da war erstmal fünf Minuten komprimieren angesagt – bis ich endlich in dieser Vene gelandet bin. Als dann schon eigentlich alles geritzt war, konnte ich diesen Katheter aber nicht vorschieben. Im Endeffekt ging es, man brauchte nur etwas mehr Kraft…
Ich dachte schon, das wäre der Höhepunkt meines Tages gewesen, aber in der Zeit, in der ich bei der Shaldon – Anlage war, haben die Physiotherapeuten einem anderen Patienten von mir den ZVK aus Versehen heraus gerupft. Den, den ich letzten Freitag gelegt habe; meinen ersten. Also blieb nichts anderes übrig, als einen Neuen zu legen. Den durfte ich zwar am Hals legen, aber auch hier hatte ich das Problem einer kollabierenden Vene. Jedes Mal wenn ich drin war, kam kein Blut zurück, aber ich habe auch gezittert wie Espenlaub und wahrscheinlich hat das schon ausgereicht, um die Nadel wieder aus der kollabierten Vene zu ziehen. Es war nämlich… - ZVK unter Spezialbedingungen. Zum Einen war ich sowieso schon etwas erschöpft nach den Shaldon, zum Anderen trägt der Pfleger mit den ich das gemacht habe, denselben Namen wie Du. Und irgendwie habe ich damit bis heute ganz große Schwierigkeiten, weil vor meinem geistigen Auge Du dort stehst. Mitten drin klingelte dann noch das Telefon in der Tasche des Kasacks und es ist normal, dass dann wer anders schnell das Telefon aus der Tasche zieht, wenn man selbst nicht dran kann, weil man steril ist. Aber heute habe ich echt gedacht, mein Herz bringt mich um, so sehr hat es gestochen, als er das bimmelnde Telefon heraus gefischt hat. Nachdem ich also drei Mal in die Vene gestochen habe und wieder raus gerutscht bin, das vierte Mal die Arterie erwischt habe, hat es beim fünften Mal endlich geklappt. Zweiter selbst gelegter ZVK meines Lebens. Das Röntgen bewies im Anschluss die richtige Lage. Sehr schön.
In drei Monaten werde ich darüber lachen, dass ich das mal so gefeiert habe. 

Nur noch halb dick eingepackt...

Heute Abend war ich noch bei der Fahrschule. Der Fahrlehrer hat kurz vorher noch angerufen und meinte, dass der Schaltwagen gerade zur Reparatur ist und wir nur Automatik fahren können, er das mit mir aber sowieso im Verlauf vorhatte. Wir einigen uns also, das vorzuziehen.
Eine halbe Stunde später sitze ich also das erste Mal seit so vielen Jahren wieder auf der Fahrerseite eines Autos. Habe ein bisschen Herzrasen, als wir vom Hof auf die Straße rollen. Und erstmal langsam durch die Gassen der Heimatstadt fahren. Ich saß hier noch nie selbst am Steuer. Es ist wirklich entspannt, dass Du ein Automatik – Auto nicht abwürgen kannst. Wenn Du also auf einer leicht bergauf führenden Straße an einem Stoppschild stehst, schon voll und ganz mit dem Verkehr beschäftigt bist und dann los fahren willst, kann es nicht passieren, dass Dich dieses Multitasking so überfordert, dass das Auto auf der Mitte der Kreuzung stehen bleibt.
Die Landstraßen gingen schon recht gut und irgendwann wurde auch der Herzschlag langsamer. Zwischendurch waren wir auch auf der Autobahn und haben sogar überholt. Hallelujah, da hatte ich auch ein bisschen Angst mit 160 km/h einfach links vorbei zu zischen. Die Stadt war schon etwas komplizierter. So viele Schilder, rechts vor links und dann auch noch so Kreuzungen, wo Du erstmal den Gegenverkehr durchlassen musst. Und irgendwie sind Fahrlehrer immer echt in Erzähllaune. Und natürlich dauert es nicht lange – wenn das Gegenüber heraus gefunden hat, dass da gerade eine Ärztin ist – bis sämtliche Krankheitsgeschichten der Familie ausgepackt sind und man in all der Überforderung des Straßenverkehrs noch ein fachliches Ohr haben soll.

Freitag haben wir die nächste Fahrstunde – dann aber mit Schaltwagen. Ich bin gespannt.

Was allerdings wesentlich komplizierter sein wird, wird es sich ein Auto anzuschaffen. „Das ist eine sehr ungünstige Zeit aktuell zum Autokauf“, erklärt der Fahrlehrer und dass er da so seine Bedenken hat, ob sich das bis Mai ausgeht. Ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Es ist schon mal allein die Frage: Schaltwagen oder Automatik, E – Auto oder doch eher konventionell? Und wenn E – Auto ist die Frage, wo man das lädt. „Das müssen Sie dann mit Ihrem Vermieter besprechen“, meinte er. Ich kann das doch nicht an die Steckdose im Flur hängen. (Nicht lachen!) Was meint er denn damit?
Und was wird wohl passieren, wenn eine Mondkind – die von Autos Null Ahnung hat – im Autohaus aufschlägt und erklärt, dass sie jetzt mal ein Auto bräuchte…? Ich würde Dich echt gern mitnehmen. Du könntest wenigstens schlaue Fragen stellen.
Und was macht man danach? Dann braucht man ja noch etwas wie Versicherungen… - Du siehst, ich bin voll planlos. Und all die Menschen, die mal sagten, dass ich sie fragen könnte, haben sich schon etwas rar gemacht, weil niemand geglaubt hat, dass ich das ernst meinen und mal aus dem Tee kommen könnte.
Nach der nächsten Fahrstunde soll ich mich erstmal schlau machen, meinte der Fahrlehrer.

Meine Güte, hättest Du mal noch Dein kleines blaues Auto für uns mitgebracht, dann hätte ich jetzt echt so einige Sorgen weniger. Deine Mum meinte zu mir, sie hat es im Endeffekt verschenkt. Hätte sie gewusst, dass ich eins brauche, hätte sie es mir gegeben, sagte sie (und keine Angst, ich hätte ihr das schon bezahlt), aber als wir uns kennen gelernt hatten, ging es nicht unbedingt um das Thema Auto. Kannst Du Dich noch erinnern, als Du es noch hattest? Es war nur eine kurze Zeit, ehe Du es zu Deiner Mum, damals noch in den Norden, gebracht hast. Da waren wir manchmal zu Zweit unterwegs. War schon cool damals von seinem Freund durch die Gegend gefahren zu werden.

Ansonsten… - die Woche wird noch anstrengend. Morgen ist Chefarztvisite und ich konnte heute wegen des Termins nichts mehr vorbereiten. Freitag gleich nochmal Fahrschule und da machen wir viel Stadt mit dem Schaltwagen; das wird schwierig sagte er. Und am Sonntag Dienst mit der potentiellen Bezugsperson. Ich habe so Angst davor, das glaubst Du gar nicht. Ihn nachts aus dem Bett klingeln zu müssen, ist der absolute Mondkind’sche Alptraum. Insbesondere, wenn er das dann unnötig findet.

Und weißt Du, was endlich gekommen ist… ? Dein Buch. Das erste, kürzere, von Zweien, in dem all die whatsApp – Nachrichten verewigt sind. Das hat ein Vermögen gekostet, aber es ist jeden Cent wert. Das Zweite wollte ich halt schon noch ein bisschen bearbeiten, aber das werden 700 Seiten oder so… Es hat mich ein bisschen umgehauen, all dieses Hin und Her Geschreibe zwischen uns beiden schwarz auf weiß in den Händen zu halten. Unsere Geschichte, die nie zu Ende erzählt war. Die irgendwo einfach aufhört. „Hey, meld Dich mal, wenn Du das liest. Ich mache mir Sorgen.“
Es ist bis heute so surreal. Warum?

Aus der Widmung vom Buch

Weißt Du was - ich habe Angst. Manchmal habe ich das Gefühl, auf dieser Intensivstation, das ist eine Frage von Tagen oder Wochen, bis das bricht. Das ist so viel Anspannung, so viel Verantwortung – das täglich auszuhalten, ist hart an der Grenze. Und dann denke ich an Dich und wie stolz Du auf Deine „Lieblingsärztin“ warst, auch wenn uns mein Medizinerdasein so viel Zeit genommen hat, die wir in uns beide hätten investieren können und müssen. Und dann versuche ich stärker zu sein, als ich glaube sein zu können.
Und dann habe ich Angst, dass das hier gerade zu groß ist. Anfang auf der Intensivstation, viele Dienste wieder in nächster Zeit, Fahrschule, Auto – und das, wo ich doch gerade schon weit entfernt davon bin, ein Energiebündel zu sein. Und das ist meine Verantwortung hier. Ich muss das hinkriegen bis Mai; es hängt an mir.
Ich versuche es. Ein Fuß vor den anderen. Jeden Tag. Nicht aufhören zu atmen. Die Angst beiseite schieben. Weiter. Einfach nur weiter. Nicht stehen bleiben.

Du… - was machen wir eigentlich an Deinem Geburtstag? Ideen? Den schönsten Sonnenaufgang? Oder Sonnenuntergang? Überleg Dir mal etwas bis zum nächsten Monatstag.

Und nachdem ich letzten Freitag anderthalb Stunden erklärt habe, was zwischen März und Juli 2020 passiert ist, fühlt es sich manchmal an, als wäre es gestern gewesen. Und manchmal ist da immer noch die leise Hoffnung, dass wir noch eine Chance kriegen. Dass wir uns irgendwann im Diesseits gegenüber stehen können, dass irgendein Wunder passiert, dass wir uns sagen können, dass es uns leid tut, was passiert ist und uns in den Arm nehmen. Und dann würde ich Dir versprechen, Deine Hand bis zum Ende meines Lebens nicht mehr loszulassen. Und Du müsstest versprechen, dass Du nicht nochmal vor mir gehst.

Frau Therapeutin ist immer noch krank. Und ich - ich vermisse es schon sehr, diese Gespräche unter der Dachschräge in der Klinik, in denen ich all die Schwere mal kurz teilen konnte. Eine Zeit, in der Du mal da sein durftest, in der ich dem, über das ich gerade geredet habe noch nachhängen durfte und nicht sofort wieder funktionieren musste.

Du fehlst hier neben mir. Ich liebe Dich.
Mondkind

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