Zipfel

Eigentlich sollte hier ein ganz anderer Text heute erscheinen. Es ist so viel passiert in zwei Tagen Intensivstation, dass ich darüber drei Seiten schreiben könnte. Zeitgleich war ich bei der Fahrschule und laut Fahrlehrer kann ich ruhigen Gewissens wieder am Straßenverkehr teilnehmen. Jetzt geht es darum, wie ich innerhalb eines Monats an ein Auto komme, wenn ich noch dazu keine Zeit habe und ständig am Wochenende arbeiten muss. Ich habe mich schon mal im Internet umgeschaut, aber so richtig… ? Mein Radius ist auch sehr begrenzt, ich muss ja mit dem Fahrrad hinkommen. Das stresst mich echt unglaublich.

Samstag. Ich gehe die Wäsche aufhängen. Putze die Wohnung zu Ende. Überlege nebenbei, dass ich vermisse. Am Morgen war ich schon einkaufen und habe mir auf dem Weg überlegt, dass ich am Nachmittag noch eine Runde um die Burgmauer drehen mag. Aber da fehlt wer am Telefon. Schon so lange. Mein Freund und ich, wir waren immer wieder so lange getrennt, wussten nur aus Erzählungen, was der andere gerade so macht und haben gehofft, daraus ein Bild vom Leben des anderen erstellen zu können, dass sich das am Wochenende meist in stundenlangen Telefonaten niedergeschlagen hat. Ich bin in der Zeit drei Mal durchs Dorf gelaufen, war so froh meine Woche teilen zu können und umgekehrt mal etwas zu hören, das etwas anderes ist, als Medizin.
Die Wochenenden sind nicht mehr das, was sie mal waren. Sie spiegeln Woche für Woche das Fehlen. Wochenenden bleiben auch nach so langer Zeit noch schmerzhaft. Und ganz besonders die langen Wochenenden mit Feiertagen, die grundsätzlich immer für Kurztrips genutzt wurden.

Von der Ferne werfe ich einen Blick auf das Handy. Es blinkt. Wer wollte etwas? Eine mittlerweile schon bekannte Nummer. Echt jetzt? Zum Samstag?
Wenig später habe ich ihn in der Leitung. Es geht um eine Rückmeldung, die er mir noch geben wollte. Und dann passiert genau das, von dem ich mir am Morgen gedacht habe, dass es mir doch sehr fehlt. Ein kleiner Plausch über die Woche. Brainstorming zu den Themen, die gerade zu bearbeiten sind – wie dem Auto. Und am Ende ein Schwenk darüber, inwieweit persönliche Lebenserfahrung von Therapeuten einen Einfluss auf die Therapie haben. Letzteres ist ein Thema, über das ich seit bald zwei Jahren nicht mehr geredet habe. Weil es dafür einfach keinen Gegenpart mehr gab, den das in irgendeiner Weise interessiert hat. 

Spaziergang von letztens...

 

Es ist anders genug, um nicht dasselbe zu sein. Und doch ähnlich genug, um mein Herz wieder zu spüren in Bezug auf das, was da passiert. Ein bisschen ist er ein Spiegel. Es ist ein Zipfel eines Lebens, das längst verloren geglaubt war. Eine Begegnung mit dem Gestern, das es im Morgen so nie wieder geben wird. Und gleichzeitig ist das, was da passiert, Zukunft, eben weil es nicht dasselbe ist. Es ist Echtsein nach so langer Zeit, ein Einbetten der Themen in den Menschen, der ich bin. Es ist kein oberflächlicher Smalltalk, sondern der Tiefgang, den so oft brauche und für den es keinen Boden mehr gab. Von heute auf morgen.
Es ist ein schmaler Grad, auf dem wir da tanzen zwischen Vergangenheit und Zukunft und er ist vorsichtig genug um mich zu halten, um zu respektieren, dass das was passiert ist, für immer bleiben wird. Und ich strecke ganz vorsichtig die Zehenspitzen aus in ein Leben, das mich eigentlich nicht interessieren dürfte, aber von dem ich trotzdem etwas wissen mag.

Mir war nicht klar, wie sehr mir das gefehlt hat, allein auf dem Niveau, auf dem es jetzt ist. Ich wusste rational, wie viel mit meinem Freund verloren gegangen ist, aber ich habe das nie so sehr gefühlt wie jetzt, wo er mir das zeigt. Manchmal macht mich dieses Fehlen ohnmächtig und ich glaube, mir zerreißt das Herz. Manchmal lässt mich die Erinnerung lächeln zwischendurch, manchmal ist es eine Wärme und ein Ziehen in der Herzgegend. Und was das hier im Jetzt, in der Gegenwart darstellen soll, weiß ich auch nicht. Ich genieße es auf jeden Fall, diese Wärme die auch die Gegenwart in mir auslöst.
Und dann gibt es Momente zwischendurch, in denen ich wieder glauben kann, dass es vielleicht noch eine Zukunft geben kann, die okay wird. Dass es nicht nur schwer wird, sondern dass ich vielleicht irgendwann zurück schaue und sagen kann: Es war so schwer, aber es hat sich so sehr gelohnt. Es gibt Momente, in denen ich nicht nur rational weiß, sondern auch spüre: Es wäre zu früh, um aufzugeben. Für andere ist das vielleicht der Normalzustand, für mich aber nicht.

Es ist ein emotionaler Tanz, diese Pirouetten um diese beiden Menschen, um den Schmerz der Vergangenheit und der Hoffnung auf eine Zukunft. Es sind die Zipfel von Vergangenheit und Zukunft, die sich in der Mitte treffen, sich zur Gegenwart verbinden und mich zumindest für Augenblicke ein bisschen tragen. Ich spüre, dass ich nie weit entfernt davon bin, emotional darunter zu zerbrechen, weil es so neu und so anders ist.
Aber es gibt ein Lächeln dazwischen. Und das ist – nach allem – alles, was zählt.

Mondkind

Kommentare

  1. Liebe Mondkind,
    ich lese wirklich schon länger mit, verfolge Deine Geschichte und ich mag Deinen Schreibstil und hoffe auch immer, dass Dein Leben wieder eine gute Wendung bekommt. Und das hier berührt wirklich. Ich weiß nicht, ob Du selbst eine Ahnung hast, was Du da zwischen die Zeilen gebracht hast.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen