Intensiv - Drama und ein langes Therapie - Telefonat
„Wir hören auf“, sagt der Oberarzt.
Der Monitor bimmelt immer noch mit Asystolie – Alarm, bis die Pflege
ihn ausschaltet.
In den letzten Minuten hat sich dieses Zimmer in ein Schlachtfeld
verwandelt. Blut tropft bis auf den Boden, überall liegen aufgerissene
Packungen und leere Ampullen herum.
Es schaut aus wie auf dem Höhepunkt irgendeines Serientodes. Nur, dass
es da meist mehr Helden gibt. Und mit dem Unterschied, dass das hier das echte
Leben ist. Oder in dem Fall – Das Sterben.
Wir konnten ihn nicht retten, diesen Menschen vor uns. Nachdem uns die
Beatmungssituation um die Ohren geflogen ist. Nachdem es keinen Weg mehr gab,
um den überlebenswichtigen Sauerstoff in den Körper zu befördern. Er war einer
unserer guten Patienten. Vor 10 Minuten hat er uns noch gesagt, wie er heißt,
konnte eine Körperseite bewegen, wir haben uns täglich über die Fortschritte
gefreut und über Reha geredet.
Ich habe selten so ein grausames Sterben im Krankenhaus erlebt. So
viel Todesangst in Augen gesehen, während der Oberarzt noch betont entspannt
war.
Und es ist der erste Patient, den ich hier betreuen durfte. Der nicht
auf einer anderen Station in die Reha geht, sondern dessen Weg in der
Leichenhalle endet.
Ich spüre, wie ich dezent hyperventiliere, alle Muskeln unter mir
zittern, als ich zurück zum Arztzimmer laufe. „Mondkind es ist jetzt Deine
Aufgabe die Angehörigen anzurufen, das muss zeitnah passieren“, belehrt mich
eine Kollegin. „Und Du kannst gleich einen Brief anlegen lassen“, fügt sie
hinzu.
Ich höre den Oberarzt telefonierend am Arztzimmer vorbei gehen. „Wir
haben jetzt wieder ein Bett frei, wir können Einen von Euch nehmen.“
Und ich… - mache einfach gar nichts. Ich rege mich nicht auf meinem
Stuhl.
„Mondkind, das passiert nicht oft – vielleicht ein Mal jährlich - aber
es kann passieren, dass die Beatmungssituation plötzlich nicht mehr klappt. Das
ist völlig normal, Menschen sterben hier.“ Und dann geht jeder seinem
Tagesgeschäft nach. Ich finde das erschreckend befremdlich, wie normal das hier
ist. Ich glaube, ich werde mich nie ans Sterben gewöhnen können.
Ich bin mit meinen Gedanken schon lange bei meinem Freund angekommen.
Im Endeffekt weiß niemand, was in den letzten Stunden vor seinem Sterben in
dieser Wohnung wirklich passiert ist. Und alles was ich mir für ihn wünsche
ist, dass er friedlich gehen konnte. Ich würde so viel ruhiger sein, wenn ich
die Gewissheit hätte, dass er nicht so leiden musste. Dass er keine Atemnot
hatte, dass in seinen Augen nicht diese Todesangst stand.
Es gibt immer Tode, von denen man weiß, dass die bleiben werden. Das ist einer davon. Nur 10 Minuten später ruft die potentielle Bezugsperson an. „Mondkind, dieser Patient, der da gerade bei Euch gestorben ist – war das Deiner?“ „Ja“, entgegne ich leise. „Na dann verdau das jetzt erstmal“, sagt er und legt auf. Das hat aber verdammt schnell die Runde gemacht.
Schlussendlich übernimmt der Oberarzt das Telefonat mit den
Angehörigen und ich schreibe am Nachmittag den Brief.
Dass ich am Tag danach erfolgreich meinen ersten ZVK gestochen habe, geht
hinter dem Drama dieses Tages fast unter.
Am Abend versuche ich noch die potentielle Bezugsperson zu kontaktieren - vielleicht hat er ein paar Kapazitäten zum Reden. Ich finde das überhaupt bis heute erstaunlich, wie wenig Supervision es in einem solch sensiblen Arbeitsumfeld gibt – nämlich gar keine. Aber er meldet sich nicht mehr.
Wann man wohl die ersten Blätter sieht...? |
Freitagabend.
Am Morgen hatte ich noch dem neuen, hoffentlich zukünftigen,
Therapeuten geschrieben. Ich habe mich die ganze Nacht gefragt, ob ich das
jetzt echt bringen kann. Er hatte ja gesagt, ich kann mich melden, wenn etwas
ist. Aber ist das etwas? Reicht das aus? Nutze ich ihn zu sehr aus?
Ich bin völlig erschöpft nach Hause gekommen, gerade noch kurz unter
die Dusche gehüpft, lüfte die Wohnung durch, bevor ich vorhabe mich mit meinen
zwei Wärmflaschen unter meine Wolldecken zu verkrümeln. Die Tage lag ich
eigentlich jeden Abend mit Schüttelfrost auf dem Sofa – und nein, ich werde
nicht krank, das ist einfach das Resultat bei massiver Erschöpfung.
Das Handy klingelt in der Küche. Sein Name auf dem Display. Ich frage
mich kurzzeitig, ob meine geistigen Kapazitäten jetzt noch für ein Telefonat
ausreichen, gehe dann aber doch dran.
Und damit beginnt ein langes Gespräch. Ich berichte über den Vorfall
auf der Arbeit und schlage den Bogen zu meinem Freund. Berichte, dass
eigentlich niemand eine Ahnung hat, was genau in dieser Wohnung passiert ist,
niemand genau weiß, wie dieser Tod ablief, es ist nicht mal genau klar, wann
das alles passiert ist. Und wenn wir schon mal dabei sind, dann fasse ich mein
Hasenherz zusammen und erzähle mit einigen Pausen zwischendurch, wie es mit den
Zeiten war. Dass sich das so lange hingezogen hat, bis aus einer Ahnung
Gewissheit wurde. Dass ich nicht mehr weiß, wie ich die Zeit dazwischen
überlebt habe, dass ich ihn unzählige Male versucht habe zu kontaktieren, aber
der Kopf nicht mehr klar genug war, um wirklich Lösungen zu finden, als die
bekannten Kommunikationswege versagten. Wir kommen dann auch auf meinen Besuch
bei seiner Mutter im letzten November zu sprechen. Er stellt Fragen, die weh
tun. Wieso das so lange gedauert hat, bis ich wusste, dass er tot ist. Wieso
ich es in den zwei Tagen, in denen ich bei seiner Mutter war, nicht auf den
Friedhof geschafft habe. Aber ich schaffe es, mich und meine Wahrnehmung in
diesen Zeiten zu erklären. Und er nimmt die Erklärungen dazu an. Was er sich
dazu denkt, weiß ich nicht. Aber es fühlt sich gut an, mal nicht sofort
verurteilt zu werden für alles, was ich in dieser Geschichte getan oder auch
nicht getan habe.
Es geht um das Leben jetzt und dass ich in Gesellschaft über andere
Dinge reden muss als über die, die mich wirklich bewegen. Ein Leben in „Parallelrealitäten“,
nennt er das. Und merkt an, dass die Verarbeitung dieses Ereignisses auch sehr
schwierig ist, wenn es keinen Rahmen dafür gibt und die Offenheit dafür fehlt. Und
irgendwann landen wir bei der Gesellschaft. Wie geht die Gesellschaft mit dem
Thema Tod und Sterben und Suizidalität um und könnte man nicht die
Lebensqualität so vieler Menschen verbessern – vielleicht sogar Suizide
verhindern – wenn es einen anderen Umgang damit gäbe?
Und über diese Parallelrealitäten geht auch viel Energie flöten. Ich
habe – seitdem mein Freund gestorben ist – kaum noch in ein Fachbuch geschaut
und langsam wird das ein Problem. Man kann im dritten Ausbildungsjahr in
bestimmten Situationen einfach nicht mehr sagen: „Weiß ich nicht.“ Aber wir
werden eben auch älter, merkt Herr Therapeut an, erleben Dinge, die uns
belasten und verändern. Und darüber klappen manche Dinge nicht mehr wie früher.
Ich wäre gern wieder diese Streberin, die ein wandelndes Lexikon ist. Wenn man
früher eine Frage hatte, kam man zur Mondkind. Dass das so lange noch halbwegs
zu kompensieren war liegt wohl daran, dass es doch etwas gebracht hat im
Studium so gewissenhaft zu lernen. Aber es geht gerade eben nicht wie früher
und das ist okay, sagt Herr Therapeut. Und schließt aber nicht aus, dass es
wieder möglich sein wird, was ich mir sehr wünsche.
Und er beruhigt mich auch wieder dahingehend, dass es okay ist, dass
ich immer noch das Bedürfnis habe, mich mit meinem Freund zu beschäftigen. Man
könne das Thema nicht abschließen, weil man das gerade will. Es brauche die
Zeit, die es eben brauche. Und allein dieses Zugestehen wenigstens eines
Menschen, dass es da sein darf, ist so unendlich wertvoll. Ich werde ihm nie
die Frage beantworten müssen, ob ich endlich seine Kerze weg gestellt habe.
Irgendwann kommen wir auch beim Thema Beziehungen raus und wie schwer
das wohl wird, nochmal jemanden zu finden, mit dem man sich nicht nur eine
Beziehung vorstellen kann, sondern der auch diese Geschichte, die ich da mit
mir trage, akzeptiert und in einem gewissen Rahmen auch bereit ist,
mitzutragen. Und darüber kommen wir wieder auf diese unglaubliche Angst zu
sprechen, dass Menschen plötzlich sterben können. Und auf mein Bemühen, Dinge
nicht mehr ungeklärt in den Raum zu stellen, was er mal grundsätzlich gut
findet.
Und nachdem wir schon unendlich lange telefonieren, geht es
schließlich um horizontale und vertikale Beziehungen und wie sehr man die
Vertikale in professionellen Beziehungen aufweichen darf. Ob ich das schon
gemacht habe. Wie es mir damit ging. Wie ich dazu stehe. Es ist
merkwürdig mit einem Menschen zu sprechen, der die Vertikale gerade auch
ziemlich aufweichen lässt. Und nebenbei fällt mir ein – ich glaube seitdem mein
Freund tot ist, habe ich mit niemandem mehr über horizontale und vertikale
Beziehungen im professionellen Setting gesprochen. Es sind irgendwie diese
Themen, die wir früher hoch und runter diskutiert haben und für die es so lange
keinen Boden mehr gab. Mit ihm zu reden klappt mit einer Offenheit, wie ich sie
seit bald zwei Jahren nicht mehr erlebt habe. Auch über den gesellschaftlichen
Umgang mit psychischen Erkrankungen habe ich ewig mit niemandem mehr
gesprochen.
Und so schnell sind dann – nachdem zwischendurch sein Handy aufgegeben
und er von einem anderen zurück gerufen hat – drei Stunden zum Freitagabend
vorbei. Nachdem wir noch einen kleinen privaten Plausch über Kameras, Technik
und Autos gehalten haben, kommen wir endlich zu einem Ende. Ganz woanders als
dort, wo wir angefangen haben, aber mit so unendlich viel Dankbarkeit im
Herzen, dass ich sie nicht in Worte fassen kann. Ehrlich gesagt – ich habe
überhaupt keine Ahnung, was er von solchen Aktionen hat. Wieso er das macht.
Ich habe gestern irgendwie auch die Zeit aus den Augen verloren, das letzte Mal
habe ich drauf geachtet. Aber es ist so unglaublich schön. Hätte mir jemand im Dezember vor der Klinikzeit erzählt, dass nicht nur die Klinik mir gut helfen wird, sondern auch noch so etwas dabei raus kommt... - ich habe Angst vor dem Frühling, aber nicht mehr so viel Angst, seitdem ich weiß, dass ich nicht alleine bin. Es kommen viele Jahrestage, viele letzte Male, viel Schwere allein wegen der Jahreszeit, aber ich bin nicht alleine. Diesmal nicht.
Und wenn man dann mit Tränen vor Dankbarkeit in den Augen im Bett
liegt, dann läuft gerade irgendetwas richtig. Ich habe auch lange nicht mehr in so
positiver Weise mein Herz gespürt, wie gegenüber diesem Menschen.
Fast habe ich die Ermahner – Stimme meines Freundes in den Ohren: „Du
Mondkind, bist Du sicher, dass Du weißt, was da läuft?“ Nein, bin ich nicht.
Und das macht mir Angst. Und gleichzeitig hat das zwischen all der Schwere des
Alltags so lange so sehr gefehlt. Und während ich mich meinem Freund, dem Therapeuten und mir gegenüber ein bisschen schuldig fühle überlege ich, dass es doch schon okay sein wird. Es ist doch in Ordnung, mal Glück zu haben und zu fühlen, nach allem was war und ist.
So, dieses Wochenende gibt es noch zu tun. Nächste Woche muss ich
einen Vortrag über Natrium halten und ich würde auch gut daran tun, mir nochmal
anzuschauen wie man PEGs legt, ich glaube das muss ich Dienstag tun. Auch ein bisschen was darüber, wie man Säure –
Base – Störungen behandelt, wäre eine Idee. Aber wenigstens kann ich ja jetzt
ZVK und chirurgische Knoten von meiner Liste streichen. Dafür muss ich jetzt nächste Woche im Team Pizza ausgeben. Dann kostet mich der erste ZVK 100 Euro...
Habt ein schönes Wochenende!
Mondkind
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