Parallelität des Heute

Gestern. Abend. Ich auf meinem Sofa. Er. Weiß ich nicht, wo.
„Ich dachte, Hamster und Meerschweinchen seien dasselbe.“
„Nein – die sehen unterschiedlich aus.“
„Ein Meerschwein wird bis 130 cm lang.“
„Ganz sicher nicht.“
„Das steht bei Wikipedia, ich lese gerade.“
„Warten Sie, ich schaue nach…“ und wenig später. „Tatsache, steht da.“
„Vielleicht ist das ein Schreibfehler.“
„Wahrscheinlich. Wobei… - klicken Sie mal auf diese Gattung; „Capybara“, die sehen aber auch nicht mehr aus wie ein Hausmeerschwein…“
Naja, ein bisschen ernster wird es dann schon noch zwischen uns beiden. Irgendwann fällt mein Blick auf die Uhr. Nach 22 Uhr. Jeden anderen hätte ich längst aus der Leitung geschmissen.
Ich kann es ihm heute irgendwie nicht klar machen. Diese emotionale Zerrissenheit in mir. Diese Angst, dass alles Bemühen nicht reicht. Dass es irgendwie langsam zu viel wird, was zu bewältigen ist und dass selbst die Idee stur einen Fuß vor den anderen zu setzen ohne das große Ganze im Blick zu haben, zu schwierig wird.
Am Ende zieht er doch mal Grenzen. „Vielleicht reden wir in zwei Wochen wieder miteinander.“ Okay – wenn er das so festlegt, dann ist es so. Ich notiere den Termin und hänge ihn an meinen Kühlschrank.

Heute. Visite.
„Der Patient hat ein zerebrales Salzverlustsyndrom; unter Fludocortison bessert es sich langsam, vielleicht können wird es reduzieren.“ „Mondkind, wir hatten schon wieder keine Zeit diese Woche, aber da war doch mal der Vortrag, den Sie halten sollen. Also wir möchten etwas hören über das zerebrale Salzverlustsyndrom, SiADH, Diabetes insipidus und die Natriumregulation. So hypertone Hyperhydratation und hypotone Hyperhydratation. Und am Ende eine Tabelle, in der das zusammen gefasst ist.“ Und während ich aufkeimenden Ärger spüre, versuche ich das geschickt zu überspielen. „Der Vortrag ist schon fertig und es gibt keine Tabelle am Ende, aber ich kann ihn am Montag gern halten, es wäre nur schön, wenn das dann auch mal klappen würde.“ Also… - Wochenende und ausruhen ist schon mal dahin. Was weiß ich, was eine hypertone Hyperhydratation ist. Nicht, dass die mich nicht schon drei Wochen mit diesem Vortrag stressen. Die Intensiv und ich… - das war eine ganz schlechte Idee.

Heute. Mail. Vom dienstplanverantwortlichen Oberarzt.
„Die [Kollegin] ist immer noch krank. Macht Ihr Euch bitte bis morgen Gedanken, wer den Dienst am Sonntag übernimmt. Wenn sich niemand findet, losen wir es aus.“ Ich halte mal die Füße still, aber ich ahne Böses.

Heute. Mail vom Versicherungsmakler
Ja, man kann sich um die Autoversicherung kümmern. Man kann das in einem persönlichen Onlinetermin tun – aber nur zwischen 9 und 17 Uhr, was für mich den ganzen April nicht mehr möglich sein wird – ich habe nämlich exakt Null Tage Urlaub und die Dienste sind immer so ungünstig gelegen, dass entweder Wochenende ist oder der nächste Tag ein Wochenende oder Feiertag ist. Alternativ fülle ich einen achtseitigen Antrag aus, der in meinem Gehirn mehr Fragezeichen verursacht als alles andere ( - was ist eine HSN- und TSN – Nummer? - es geht gleich mit den ersten beiden Fragen los) und schicke ihm den.

Heute. WhatsApp einer Kollegin.
„Mondkind, mein Freund kann am Samstag mit Dir ins Autohaus fahren, dann könnt Ihr vielleicht auch Probe fahren und dann kannst Du Dich entscheiden.“ Ich bedanke mich. Aber die Vorstellung mit einem fremden Menschen im Auto zu sitzen und sehr unsicher am Steuer zu sein – trotz Fahrschule – beruhigt mich jetzt nicht so.

Heute. Als ich nach Hause komme.
Ein Päckchen auf der Treppe.
Teil I der beiden Bücher.
Die Widmung. 


 

Und danach über 400 Seiten Text. Zwischen meinem Freund und mir. Emotionen, die zwischen den Zeilen geblieben sind. Von Plänen, Erlebnissen, Unterstützung und Zuneigung. Eine der wenigen Erinnerungen, die ich wirklich in den Händen halten kann.

Quer lesen. 2017.
Er: „Schlaf schön und träum was Süßes. Vielleicht träum ich von Dir.“
Ich: „Wer weiß das schon; schlaf gut. Und komm doch morgen vorbei, dann musst Du nicht träumen, sondern kannst erleben.“
Er: „Hab Dich ganz doll lieb. Und vermiss Dich jeden Tag, den ich Dich nicht sehe. Kann nichts dagegen machen.“
Ich: „Okay, festgelegt: Wir sehen uns morgen. Ich vermiss Dich auch.“

Und irgendwann ein paar Seiten später. Er: „Meiner Mutter geht’s gerade gesundheitlich auch sehr schlecht. Ich glaube, da kommt bald einiges auf mich zu. Du bist so fleißig [Mondkind]. Du glaubst gar nicht, wie ich Dich bewundere und mit Dir mitfiebere.“
Am Ende kam ganz viel auf seine Mutter und mich zu.

War das mein Leben? Wahnsinn. Ich kann es kaum ertragen, das alles zu lesen. Und ich wünsche mir so sehr mein altes Leben zurück. Mein altes Ich. Unser altes Wir. Ich möchte weg von hier, von dem was übrig geblieben ist, weg von dem Scherbenhaufen vor mir. Ich bin so müde davon alleine zu sein, unsichtbar zu sein, jede verdammte Kacke immer alleine regeln zu müssen. Ich möchte die Arme eines anderen Menschen auf meinem Rücken spüren, ein Herz schlagen spüren für das ich mein Leben geben würde. Ich möchte mal wieder hören, wertvoll zu sein, wichtig zu sein, einfach nur, weil ich bin. (Okay, ich muss ehrlich sein; gestern kam die Wiederholung eines „Ich habe ja schon mal gesagt, dass ich Sie mag“, aber verdammt noch mal, das ist eine vertikale Beziehung und zählt deshalb nicht weniger, aber anders. Er kann halt gehen, wenn er will und ich kann ihn nicht mal fragen, ob er bleibt).

Heute. Auf den Sofa.
Es überfordert mich. Alles. Es passiert so viel und ich komme nicht hinterher.
Ich glaube, ich kann nicht mehr.
Schlafen ist eher so ein Roulette – Spiel. Manchmal komme ich erst um drei Uhr nachts ein bisschen zur Ruhe; hören die Schleifen auf, mich wach zu halten, obwohl ich doch im Stehen schlafen könnte. Vernünftig gegessen habe ich seit Freitag nicht mehr.
Mein Energiehaushalt läuft aus dem Ruder. Die Intensivstation ist noch unvorhersehbar. Die Dienste sind hart aufgrund der Covid – Situation und es sind viele Dienste spontan zu übernehmen wegen Krankheitsausfällen. Die Geschichte mit meinem Freund überfordert mich. Eine Hirnhälfte spult ständig. Heute vor zwei Jahren, hätten wir die Geschichte anders zu Ende schreiben können. In der Vorstellung von damals hätten wir heute glücklich sein sollen. „Ich hoffe es wird irgendwann besser“, habe ich gestern gesagt. Und zu hören bekommen, dass es paradoxerweise mutmaßlich besser wird, wenn ich aufhöre das zu hoffen, darauf zu warten, sondern stattdessen lerne zu akzeptieren, dass es so ist, wie es ist. Mit allem Schmerz, allem Abspulen dieser Zeit, allen Wünschen, dass ich die Dinge anders gemacht hätte. In der Stille der Nacht wird er so laut in mir.
Und dazwischen kleine leuchtende Momente, die an eine Zeit erinnern, von der ich geglaubt habe, dass sie sich nicht mehr wiederholen würde. Nur hätte das nicht mit diesem Menschen passieren sollen. Wie soll ich mit ihm über das Verschieben der Trauer hin zum Fehlen reden, wenn er mir mit seiner Präsenz zeigt, was fehlt? Und diese Lücke des Fehlens wird man erstmal nicht stopfen können. Mein Freund ist tot, der Mensch hier im Leben ist eine vertikale Beziehung. Und die Erinnerung, dass dieses wechselseitige Tragen mal in einer horizontalen Beziehung stattgefunden hat, bricht mir das Herz. So sehr, dass ich keine Worte mehr dafür finde. Es fühlt sich an, als würde die Seele vor Schmerz schreien. Aber es ist ein unsichtbares Schreien.

Wir werden sehen, wie es weiter geht. Ich lache viel und versuche die Menschen nicht spüren zu lassen, dass die 30 % Akku der Klinik schon längst wieder verbraucht sind. Dass ich mich in den langen Nächten frage, wofür ich das eigentlich mache. 
Ich versuche, durchzuhalten. Ich versuch’s einfach. Ich weiß, dass es wichtig ist. Begegnung heute auf dem Flur. „Dir hängt der Mai im Rücken, oder? Das stresst Dich so…“ „Ja…“, flüstere ich und fast wäre die Fassade gefallen. Aber nur fast.
Manchmal habe ich Angst. Dass das zu groß ist, für eine zerbrechliche Mondkind. Manchmal habe ich einfach Angst, diesen Schmerz nicht zu überleben.

Ich halte Euch auf dem Laufenden. Es passiert so viel. Gleichzeitig. Es ändert sich alles so schnell. Und die Zeit rennt unaufhörlich vorwärts.

 

Mondkind

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