Von Paradoxen und einem Montag

Wochenende.
Ich umrunde die Stadtmauer. Es ist das erste, richtig warme Wochenende dieses Jahr. Ich beobachte ein Eichhörnchen, das durch die Bäume hüpft. Und ein paar Amseln, die Material zum Nestbau zusammen sammeln.

Nebenbei denke ich ein bisschen nach. Über das Gespräch mit dem Herrn Therapeuten von Freitag. Ich lese selbst nochmal quer. Durch meinen eigenen Blog.
Und ich frag mich was: Wer war ich damals? Was war los mit mir und uns? Was haben wir uns denn gedacht?

Erinnerung.
Büro unter der Dachschräge. Wenige Tage nach dieser Katastrophe. Eine Kollegin hat mich mitgenommen in ein Büro, das sie sich mit dem Oberarzt der Station teilt, der gerade irgendwo anders ist. „Mondkind, das geht nicht – Du kannst so nicht arbeiten.“ Ich schweige eine Weile. „Mondkind, was war das denn mit Euch? Wer war dieser Mensch in Deinem Leben? Das war bisher nicht bekannt, dass es da einen Menschen in Deinem Leben gab, mit dem Du so eng warst.“
Das muss ein Alptraum sein. Es musste einfach so sein. Es konnte doch nicht so sein, dass das alles so hoch geht. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, sage ich nach langer Stille. „Wie lange kanntet Ihr Euch?“, fragt sie. „Fünf Jahre“, entgegne ich. „War das eine feste Beziehung?“, fragt sie. „Wie definiert man Beziehung?“, gebe ich die Frage zurück. Und irgendwann: „Das hatte einen Sinn, dass ich so weit weg von der Familie gezogen bin. Es gab Dinge, die gingen einfach nicht, solange ich in der Nähe meiner Familie war.“ „Du meinst, Du hättest keinen Freund haben dürfen?“, fragt sie. Ich nicke. „Vielleicht, wenn ich in jeder Klausur eine eins geschrieben hätte und dann noch locker flockig nebenbei die Doktorarbeit fertig bekommen hätte“, füge ich irgendwann hinzu. Was habe ich immer gehofft, dass wir nirgendwo gesehen werden.
Und irgendwann, nach langer Stille. „Wir hätten das nie machen dürfen.“ „Was?“, fragt die Kollegin. „Planen, dass wir zusammen ziehen und all so etwas. Die Idee war gut. Aber wenn das Übertreten von Verboten dazu führt, dass einer stirbt…“ „Mondkind“, ermahnt sie mich.
Und nachdem wir noch eine halbe Stunde weiter geredet haben. „Er war der erste Mensch, der so nah in Deinem Leben war, oder?“, fragt sie. Ich nicke. „Ich spreche jetzt mal aus Erfahrung: Es gibt so viele unterschiedliche Formen von Beziehung, aber das was Du erzählst, hört sich definitiv danach an. Es war eine Beziehung, eben nur ohne körperliche Intimität. Und wenn eine Beziehung unter diesen Umständen so endet, ist das ganz sicher traumatisch. Mondkind, eine Freundin von mir ist Hausärztin. Ich regel das für Dich;  ich rufe sie an und  dann fährst Du da morgen hin und lässt Du Dich krankschreiben.“

Vielleicht war das eines der Gespräche, das mich in den ersten Tagen am meisten sortiert hat.
Und dennoch schäme ich mich bis heute zu erzählen, was damals war und was ich nicht erzählt habe, bis er gestorben ist. Ich kann mich auch noch erinnern, wie mein Freund und ich wenige Tage nach dem Examen einer Prüferin in die Arme gelaufen sind. Mir war das damals echt unangenehm. Wie konnte ich mich jetzt mit einem männlichen Wesen blicken lassen, wo ich ihr ein paar Tage vorher doch nicht hundert prozentig erklären konnte, wie eine Hartmann – OP verläuft? Aber scheinbar sieht da nicht jeder so kausale Zusammenhänge wie meine Familie. Sie hat uns einen schönen Sommer gewünscht, nach der anstrengenden Examenszeit. War wohl eindeutig, was wir dargestellt haben.

Ich habe immer noch so viel Redebedarf über dieses Thema auf der einen Seite und schäme mich so sehr auf der anderen Seite. Weil ich über dieses „wir“ nicht reden konnte, solange wie es existierte. Ich habe mich immer gefragt, was wohl passieren würde, wenn ich irgendwann meiner Mum mal beiläufig erzählen würde, dass ich jetzt nicht mehr alleine hier wohne. Die Distanz von so vielen hundert Kilometern war weit genug, um dieses Experiment irgendwann zu wagen. Aber dazu kam es nicht mehr. (Und irgendwie ging es mir ja damals selbst so schlecht, dass auch das eher Wunschdenken war).

Und heute verstehe ich so wenig von meinem damaligen Leben. Es ist, als könnte ich mein „Ich“ von damals nicht mehr in mich integrieren. Wenn ich mein Tagebuch und die alten Blogeinträge quer lese, was ich am Wochenende aus gegebenem Anlass mal getan habe – ich verstehe das alles nicht.  Ich hasse mich dafür, dass ich so war. Und gleichzeitig darf man die räumliche Nähe zu meiner Familie, die finanziellen und emotionalen Abhängigkeiten nicht vergessen.
Aber ich habe auch so viel falsch gemacht in dieser Geschichte. Ich hätte mehr zu ihm und zu uns stehen müssen. Und manchmal bezweifle ich, dass man mir und uns irgendetwas glauben kann. Manchmal bezweifle ich, dass ich mir selbst glauben kann und denke, ich sollte aufhören darüber zu reden, sonst werde ich ganz schnell die Menschen verlieren, die da einfach nicht mitkommen. Wie kann ich von irgendwem erwarten verstanden zu werden, wenn ich mich selbst nicht verstehe?

Ich bin einfach durcheinander. Und ich weine viel. Weil so viel fehlt und das eigentlich nicht sichtbar sein kann. Weil so viel im Untergrund existierte, so ungesehen und es nicht passt, dass das was damals nicht sein durfte, heute mein Leben ist.

 


Und dann gibt es diese Tage, an denen man mit einem undefinierbaren Flattern aufwacht.
Ein solcher Tag ist heute.

Der Montag ist immer gut für Überraschungen. Eine meiner Patientinnen von letzter Woche liegt jetzt isoliert im Covid – Bereich. Ich biete an, sie trotzdem weiter zu betreuen, werde aber darüber belehrt, dass sie jetzt von dem Kollegen weiter betreut wird, dem heute die Covid – Patienten gehören. Ich finde das ja ohnehin sehr befremdlich, dass das hier völlig normal ist, teilweise jeden Tag andere Patienten mit hochkomplexen Vorgeschichten zu betreuen.

Die Frühbesprechung ist heute ein einziges Drama, der Chef hat schlechte Laune und am Wochenende gab es wohl einen größeren Streit zwischen Neurochirurgen und Neurologen. Nächstes Wochenende habe ich auch wieder Dienst – zu allem Unglück auch noch mit der potentiellen Bezugsperson. Vier Kollegen fehlen allein aufgrund von Covid. Mal schauen, was die Woche noch so bringt – vielleicht kommt der nächste Dienst auch schneller als gedacht.

Vor der Visite schaue ich noch schnell die Labore durch, als plötzlich eine Schwester hektisch ins Arztzimmer kommt. „Wem gehört der Patient auf der fünf?“, fragt sie. Ich überlege kurz. „Mir“, sage ich. „Da ist gerade ein Teil der Trachealkanüle abgebrochen, der braucht jetzt sofort eine Neue, er lässt sich ganz schlecht beatmen.“ Jetzt nicht wirklich, oder? Mein undefinierbares Flattern verwandelt sich augenblicklich in Herzrasen als ich aufspringe und zum Patienten rase, obwohl ich noch keine Ahnung habe, was genau ich jetzt vorhabe. Ein anderer Kollege kommt mir hinterher. Die Schwester holt schon mal eine neue Trachealkanüle. „Ich wechsel die bestimmt nicht“, sage ich zum Kollegen und muss mich bemühen, dass meine Stimme nicht bricht. Scheiße man. Mir waren die Kanülen immer schon höchst suspekt, aber nach letzter Woche... Der Kollege war allerdings letzte Woche im Urlaub. „Ach Mondkind, ich habe das nur mit halben Ohr gehört, war das Dein Patient?“ Ich nicke. „Ich mache das“, sagt er. „Aber ruf Du mal den Oberarzt an, dass wir die Kanüle jetzt wechseln.“ Besser ist das… Die Schwester ermahnt zur Eile, weil die Sauerstoffsättigung langsam aber stetig fällt. „Präoxygenieren können wir vergessen“, sagt sie.
Am Ende klappt es recht reibungslos, aber das Adrenalin für diesen Tag ist auch schon wieder aufgebraucht.

Später muss ich beim selben Patienten noch eine Thoraxdrainage ziehen. Nachdem mir die Kardiochirurgen mal erklärt haben, dass da nicht eine Sekunde ein Loch sein darf, weil sonst der Pneumothorax, den man tagelang mit der Drainage behandelt hat innerhalb von Sekunden wieder da ist, bin ich von dieser Aktion auch wenig begeistert. Es klappt allerdings und im Kontrollröntgen sieht man auch keinen neuerlichen Pneumothorax. Dafür ist allerdings die gegenseitige Lunge zugelaufen. „Da kannst Du morgen rein stechen, den Erguss muss man sicher entlasten“, prognostiziert eine Kollegin. Na herzlichen Glückwunsch – aber das denke ich mir nur.

Am Nachmittag höre ich noch zwei Kollegen über Dienstplanungen und Urlaub diskutieren: „Du bist gerade mal drei Monate auf dieser Station; Du hast überhaupt nichts zu melden.“ Aha, so läuft das hier also. Und da ich ja bekanntlich ständig die Stationen wechsle...

Ich versuche ja immer noch die Vorteile der Situation zu sehen, aber es fällt schwer, welche zu finden. Man kommt etwas pünktlicher heim, aber da hört es auch schon auf.

Und so manchmal frage ich mich, wie das alles klappen soll. Ab jetzt habe ich wieder jede Woche Dienste, nebenbei muss ich mich um Fahrschule und Auto kümmern, in der Wohnung müssen auch noch ein paar Dinge erledigt werden.
Am Mittwoch bekommt Ihr bestimmt einen für Euch sehr lustigen Blogeintrag über meine erste Fahrstunde seit Jahren, für die man – so ganz theoretisch – auch noch ein bisschen Konzentration bräuchte. Ich persönlich könnte drauf verzichten, aber es geht nicht anders. 


 

Mondkind

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