Von Alltag und Wundern
Und dann ist es mitten in der Nacht.
Und das Hirn dreht sich.
Kommt nicht mehr zur Ruhe.
Obwohl ich den Schlaf so dringend bräuchte.
Habe ich nicht in der Klinik mal irgendwann gesagt, dass alles was
passieren wird ist, wieder am Rand der Erschöpfung zu arbeiten? Willkommen in
Mondkinds Leben.
Intensivstation. Das ist, als würde man auf einem Pulverfass sitzen.
Von dem man täglich inständig hofft, dass es nicht explodiert. Jeden Morgen
spüre ich das Flattern in mir, wenn ich den Berg hoch zum Krankenhaus laufe.
Und wenn auf der Morgenvisite alle Patienten halbwegs stabil sind oder ich
zumindest einen hilfsbereiten Kollegen finde, wenn es klemmt, bin ich schon mal
erleichtert.
Heute Morgen saß ich bis 10 Uhr alleine auf der Intensiv. Das kann gut
gehen. Muss es aber nicht.
Nach der ersten Visite fallen mir meistens schon fast die Augen zu,
weil die Anspannung des Morgens so viel Energie gefressen hat. Bei einem
Patienten stand für morgen eine Tracheotomie auf dem Plan und er hat so einen
kurzen, dicken Hals, dass ich schon Herzrasen vor Angst bekommen habe, wenn ich
nur dran gedacht habe. Nach unserem Drama von Letzens brauche ich keine
Wiederholung. Das sollen jetzt die Chirurgen machen. Gute Idee.
Und es gibt noch so viel zu lernen. In wenigen Wochen muss ich
intubieren können, Intensivtransporte begleiten können, mitten in der Nacht aus
dem Bett springen und reanimieren können, Thoraxdrainagen legen können.
Die Dienstbelastung in der nächsten Woche ist auch hoch. Da alle umliegenden Neurologien dazu noch abgemeldet sind, explodiert unsere Notaufnahme; „ruhige Dienste“ gibt es also aktuell auch nicht. (Wobei auch ruhige Dienste Stress genug sind…)
Der zweite große Energiefresser ist das Thema Auto. Die Fahrschule
habe ich jetzt schon mal hinter mir – das hat viel besser und schneller
geklappt, als erwartet. Aber neben der monatlichen Wohnungsmiete ist das die
größte Investition meines bisherigen Lebens und ich bin da sehr unsicher. Der
Radius, den ich habe ist nicht sonderlich groß, weil es mit dem Fahrrad
erreichbar sein muss. Zum Glück haben wir hier im Ort ein paar Autohäuser.
Allerdings sind die Angebote von Gebrauchtwagen etwas… - schmal. Ich habe jetzt
mal zwei Autos gefunden, die ich ganz gut finde, allerdings mit den ganzen
Diensten… - bleibt kaum Zeit. Dieses Wochenende muss am Samstag ich arbeiten;
das Einzige das möglich sein könnte, wäre am nächsten Mittwochmittag nach dem 24 –
Stunden – Dienst. Allerdings werde ich da auch eher ein Geist auf Beinen sein. Ich
weiß auch nicht, wie schnell ich jetzt sein muss. Schneller als Mitte nächster
Woche kann ich mir die Autos eben nicht anschauen; ich hoffe schwer, das
reicht. Ich weiß aber auch umgekehrt nicht, ob man nicht noch ein bisschen
warten sollte, bis vielleicht noch ein Angebot kommt, das besser ist. Die Autos
sind schon extrem teuer aktuell.
Normalerweise würde ein solches Projekt bei meinem aktuellen
Energielevel hochkant von der To – Do – Liste fliegen, aber das geht jetzt nun
mal nicht. Die Kollegen sagen, dass Auto kaufen doch eine feine Sache ist, die
Spaß macht – das kann ich jetzt überhaupt nicht teilen. Es frisst Energie, die
ich nicht habe, ich kann daran nichts gut finden.
Der Winter dreht sich und macht dem nächsten Frühling Platz. Mittlerweile
ist es hell, wenn ich mich morgens auf die Socken zur Arbeit mache. Es ist
schon paradox die ersten Blüten und Knospen zu sehen, den Vögeln zuzuhören und zuzuschauen,
die schon Nestmaterial suchen. Die Welt beim Aufstehen beobachten, während ich
selbst über weite Strecken noch nicht das Gefühl habe, das irgendetwas in mir
aufsteht.
Und auch die emotionale Überforderung war in den letzten Tagen ein
großes Thema. Es war ungefähr vor zwei Jahren, als mein Freund und ich die
letzten Tage Normalität gelebt haben. Obwohl in den Anfangszeiten von Corona
natürlich auch nichts mehr normal war. Aber es würde nicht mehr besser werden.
Wir würden uns nicht mehr sehen. Das wussten wir damals allerdings nicht. Wir
wussten nicht, dass wir uns bei der letzten Verabschiedung mal lieber etwas
fester in den Arm genommen und uns eine Sekunde länger in die Augen geschaut
hätten. Wir wussten nicht, dass wir im Anschluss mal lieber die Augen
geschlossen hätten und das Gefühl in den Armen des anderen zu liegen für den
Rest unseres Lebens zwischen den Hirnwindungen gespeichert hätten.
Der letzte Samstag hat mich doch ziemlich beschäftigt. Natürlich war
die Situation nicht dieselbe – aber ich glaube ich habe seitdem nichts mehr
erlebt, das mehr Ähnlichkeiten hatte zu dem, was mir so sehr fehlt. Es war –
auch hinterher – kurz nochmal Anfang 2020. Ich hatte sogar irgendwie das
Gefühl, dass ich den Dienst doch gar nicht machen kann am Sonntag, weil ich
doch gar nicht genug Erfahrung in der Notaufnahme habe. Und dann musste ich mir
immer wieder klar machen, dass die Zeit sich zwei Jahre weiter gedreht hat. Dass
ich die Notaufnahme schon so oft alleine gerockt habe seitdem.
Und fast konnte ich fühlen, wie ich langsam wieder ins Jetzt gereist
bin. Wie aus einem als selbstverständlich hingenommen Grundvertrauen eine tiefe
Erschütterung wurde. Und die Erkenntnis: Das mit uns war ein Wunder. Wie
wahrscheinlich ist das, dass man einen Menschen trifft, dem man das Innere
seiner Seele ohne einen Zweifel anvertrauen kann und der einem das erwidert?
Was für ein Wunder ist das, wenn das eine horizontale Beziehung ist. Wenn man
sich einfach gleichberechtigt aneinander anlehnen kann, sich Hand in Hand
durchs Leben begleiten kann.
Das Fehlen ist so groß geworden darüber, dass ich die letzten kalten
Nächte nutze. Zu dünn bekleidet mit Kopfhörern und Musik, so laut wie es geht, mitten
in der Nacht auf dem Wintergarten liege. In der Hoffnung, dass die Kälte, die
den Körper zittern lässt, den Schmerz ein bisschen übertüncht. Weil es manchmal
nicht mehr auszuhalten ist. Weil ich so viel geben würde für eine letzte
Umarmung. So viel, um ihm ein letztes Mal klar zu machen, wie sehr er mein
Leben in eine positive Richtung verändert hat.
Und ich weiß, wenn er jetzt noch da wäre, wenn die Zeit sich seit dem
Damals nicht gedreht hätte, dann würde ich nach der Arbeit, wenn die Sonne
schon unter geht, noch einmal um die Burgmauer laufen, mich auf irgendeine Bank
setzen und wir würden unsere Welten, die so viele hundert Kilometer auseinander
lagen versuchen zu teilen und von unserem Tag erzählen. Vor zwei Jahren um
diese Zeit haben wir Pläne gemacht, überlegt, wie und wann wir den Umzug über
die Bühne bekommen. Es lag Aufbruchsstimmung in der Luft, ein bisschen getrübt
durch die Anfänge der Pandemie, aber wir haben geglaubt, dass wir ab Ende des
Sommers die Tage hier gemeinsam verbringen.
Was geblieben ist, ist die Einsamkeit. Die Erinnerung, die – so sehr,
wie sie mich manchmal auch lächeln lässt – wie ein Dolch im Herz sein kann. Was
geblieben ist, ist eine tiefe Sehnsucht. Die Frage, ob es das jemals nochmal
geben kann. Und was auch geblieben ist, ist ein Gefühl von Verrat, das auf dem
Fuße folgt, wenn man nur im Ansatz nochmal eine tiefe Verbundenheit einem
anderen Menschen gegenüber empfindet. Obwohl es das ist, das mir heute mit am
Meisten fehlt. Und auch wenn ich weiß, dass die Situation aktuell eigentlich
gänzlich „ungefährlich“ sein müsste weiß ich, dass mein Freund das anders sehen
würde. Und am Ende sind wir ja auch alle nur Menschen. Und was ist, wenn ich
mir das nie wieder erlauben kann ohne das Gefühl, dass ich die Verbundenheit
zwischen meinem Freund und mir aufgebe? Wobei alles was – zumindest aktuell
läuft – ja ohnehin nur haltlose Hirngespinste sind. Ein, „es wäre so schön,
wenn…“ Wenn wir mal kurz vergessen dürften. Die Grenzen, die da sind und die wir
nur bis zu einem bestimmten Punkt ausreizen können und die Tatsache, dass ich
eine Vergangenheit habe, von der ich nicht weiß, ob es damit geht. Man müsste
sie auf jeden Fall vorsichtig mittragen. Mit beiden Händen. Und das wird kaum
jemand akzeptieren.
Aber manchmal hoffe ich auf ein zweites Wunder in meinem Leben. Das bleiben kann. Das ich akzeptieren kann.
Mondkind
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