Zwischen Rennen und Stehen

Ich renne über die Flure.
Heute renne ich wirklich.
Irgendwann merke ich, dass ich seit Stunden keinen Schluck getrunken habe und kurz davor bin, den Überblick zu verlieren.

***
Frühbesprechung.
Katastrophe.
Alle umliegenden Neurologien sind abgemeldet. Was zur Folge hat, dass wir bis zum letzten Bett belegt sind und außerdem noch 10 Patienten auf allen möglichen Stationen als Außenlieger im ganzen Haus verteilt sind.

Während die Oberärzte immer noch etwas weiter diskutieren, gehen wir Assistenten schon schnell los arbeiten. Wenig später kommt der Oberarzt ins Arztzimmer. „Briefe Mondkind, ich brauche die Briefe. Wir entlassen Acht und wir übernehmen sechs der Außenlieger auf unsere Station.“

Zwischendurch versuche ich noch darauf zu achten, was für Untersuchungen gerade bei welchen Patienten laufen, damit ich zeitnah die Ergebnisse sehe. Zwischendurch noch Notfälle auf der Station behandeln, mit Angehörigen telefonieren, mit dem Sozialdienst in regen Kontakt stehen, damit unser Abfluss in die Reha sich irgendwie beschleunigt – was noch mehr Briefe für mich bedeutet.

Zwischendurch bekomme ich eine Mail von meinem Oberarzt: „Sehr gute Briefe Mondkind.“
Na wenigstens etwas.

Am frühen Nachmittag machen wir nochmal eine Visite. Damit wir sicher sind, jeden gesehen zu haben. Und wenn der Oberarzt gerade selbst mal kurz etwas nachschaut, lese ich schnell über die Patienten, die noch während der Visite auf ein Bett gelegt werden, das bis vor der Visite noch mit wem anders belegt war. Damit ich zumindest irgendetwas dazu sagen kann.

Aber im Gegensatz zur Intensiv ist es okay. Lieber so, als Intensiv. Wirklich. Kaum zu glauben, aber ich kann es nicht aushalten auf der Intensiv.

Abend.
Es ist schon dunkel, als ich einen Fuß vor die Tür setze.
Und den Frühling in der Luft rieche. Die Luft ist lau.
Und immer – immer schmeißt mich das in jene Nächte, die ich auf dem Bahnhof in der nächsten großen Stadt von hier gesessen habe. Immer auf der gleichen Bordsteinkante. Immer mit dem Freund in der Leitung. Das war ein Ritual. Er war so lange in der Leitung, bis ich im Bus auf dem Weg zu ihm war. 

Foto aus dem "alten Leben". Auf der Rückfahrt, deshalb war es hell. Ich erinnere mich. Auf dem Bordstein. Der so viele Worte zwischen uns gehört hat.

 

Und fast zerreißt es mir das Herz.
Als ich einen Fuß vor den anderen draußen in der Fast – Dunkelheit setze, die Vögel zwitschern höre.
Frühling. Darauf haben wir immer gewartet. Wenn das Reisen zwischen den Welten leichter geworden ist.  

Ich vermisse es so, so sehr. Diese Stimme in der Leitung. Die Arme, die mich am nächsten Morgen ganz früh, als es noch dunkel in der Studienstadt war, in Empfang genommen haben. Der erste Kaffee, das erste echte Lachen, das dem anderen wieder in der Realität galt. Ein bisschen Unbeschwertheit, fast Übermut mit der ein oder anderen frechen Bemerkung.
Das Leuchten dazwischen.

Auf dem Weg heim denke ich über den Dienst nach. Es ist heftig im Moment. 10 Aufnahmen allein in der Nacht sind keine Seltenheit. Und der Dienst besteht ja nicht nur aus Nacht.
Ich habe Angst. Vor meinem Dienst morgen. Die Woche war anstrengend. Ich bin schon jetzt Wochenendreif. 24 Stunden ohne eine Minute Ruhe sind schon hart an der Grenze.

Und irgendwie denke ich mir: Eigentlich bin ich das erste Mal seit so langer Zeit gar nicht so weit davon entfernt, dass ich irgendwann mal morgens nach Hause komme und da jemand ist. Nachdem wir doch so kurz davor waren. Jemand, der einen mal kurz in den Arm nimmt, ehe man sich völlig erschöpft ins Bett legt.
Wenn wir die Hürden aus dem Weg räumen. Wenn wir mutig sind. Wenn ich glauben kann, dass es mich nicht völlig zerreißt das anders zu erleben, als es gedacht war. Vorausgesetzt, dass wir beide nach einer Anfangszeit merken, dass es geht.

Aber wir müssen nachdenken.
Ob wir das wollen.

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen