Über das Nebeneinander von Momenten

Ich habe selten so ein geduldiges Ohr erlebt.
Samstag. Ich liege seit Stunden eingekuschelt unter meiner Wolldecke auf dem Sofa. Nachdem ich den halben Tag völlig erschöpft dort gelegen habe, reicht es mittlerweile zumindest zum Telefonieren.
Und manchmal würde ich gerne nicht die Mondkind von ganz früher, sondern die Mondkind vom Sommer 2020 in den Arm nehmen und ihr sagen: Halt Durch. Bitte halt einfach durch und zweifle nicht so viel. Es wird nicht leicht. Aber ein bisschen leichter. Irgendwann. Es wird Menschen geben, die Dich nicht verurteilen. Die sich die Geschichte fünf Mal oder noch öfter anhören, wenn es sein muss. Die mit Dir schweigen können, weil die Worte fehlen und trotzdem da bleiben. Die deutlich sagen können, dass sie es nicht schlimm finden, es immer und immer wieder zu hören. Die nicht unterbrechen – vielleicht dann und wann eine Zwischenfrage als Zeichen des Zuhörens stellen – während ich mich gedanklich in den letzten Tagen vor und den ersten Tagen nach dieser Tragödie bewege, für die es schon viel Konzentration braucht, die noch einigermaßen chronologisch zusammen zu bekommen. Weil das sowieso immer da ist. Und weil es so gut tut, mal ein bisschen was davon teilen zu können, ohne sofort ein blödes und wenig hilfreiches Kommentar zu bekommen, was ich von der potentiellen Bezugsperson immer wieder stillschweigend hingenommen und nicht verstanden habe, wieso er damit so gar nicht umgehen konnte, wenn der Druck in mir so hoch war, dass ich irgendwo reden musste.
Und dann möchte ich manchmal weinen vor Dankbarkeit. Knapp zwei Jahre hat es gedauert bis ich für mich einen Umgang mit der Situation gefunden habe, in dem ich mich aufgehoben fühle und von dem ich glaube, dass das die Seele irgendwann ein bisschen heilen kann.
Es wird immer schrecklich bleiben. Aber wenn das nicht nur leere Worte sind, sondern es wirklich spürbar bleibt mit diesem Thema nicht alleine zu sein – dann kann es vielleicht irgendwann wieder ein gewisses Grundvertrauen in mich, in die Zukunft und das Leben geben. Und neben der Trauerarbeit ist es genau das, was so sehr gefehlt hat. Einfach irgendwo sicher zu sein mit dieser Spule, die Tag und Nacht läuft.

Und irgendwie wird mir – während ich unter meiner Decke auf dem Sofa liege aus dem Gespräch etwas bewusst. Es ist nirgendwo perfekt. Kein Leben ist perfekt. So sehr, wie es auch nach außen hin strahlen mag. Manchmal sind es vielleicht einfach nur die buntesten Gartenzäune, über die wir nicht drüber schauen können.
Jeder hat – mal ganz wertfrei betrachtet – seine eigenen hundert Prozent, die er ein Leben lang an Leid mit sich herum schleppen muss. Und das ist auch berechtigt – das darf da sein.
Und dennoch sollte es man nicht versäumen, das Leuchten dazwischen zu spüren. Es innerlich zu notieren, wenn ein Lachen wirklich echt ist. Wenn Dankbarkeit und Verbundenheit das Herz fluten.

Und vielleicht wird es schon ein bisschen leichter, wenn man spüren lernt, dass Licht und Schatten nebeneinander existieren können. Auch, wenn das vielleicht zeitweilig noch schwerer zu ertragen ist – das habe ich die letzten Wochen auch gespürt. Denn so manches Mal macht das Licht die Schatten erst sichtbar. Den Verlust, der es ist. Vor allen Dingen das emotionale Sterben seitdem. Allerdings ist es in der ewigen Dunkelheit eben auch nicht besser.
Und am Ende ist es nicht so weit. Zwischen dem Teilen von dem Drama, von der Angst vor den nächsten Wochen und Monaten und einem Lächeln und tiefer Dankbarkeit.

Und dennoch ist es manchmal alles so schwer auszuhalten, dass ich nicht glauben kann, dass das noch lange klappt. Und dann höre ich mich über meine eigene Lebensversicherung reden. „Auf der Geschlossenen musste ich mir irgendetwas einfallen lassen. Reden war da nicht so angesagt; die Meisten die dort waren, waren kaum dazu in der Lage sinnvolle Gespräche zu führen. Ich war mit einer älteren Dame auf dem Zimmer, die ihren Suizidversuch überlebt hatte. Sie hat mir dann – nachdem sie mit dem Abbau der Medikamente wieder klarer im Kopf war – ihre Geschichte erzählt. Sie hat den Tod ihres Mannes nicht verkraften können. Und irgendwie habe ich damals gedacht, dass ich eines Tages auch an ihrer Stelle sein werde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich diesen Tod würde irgendwie in mein Leben integrieren können. Und so generell und überhaupt waren Suizidversuche auf  dieser Station ja fast an der Tagesordnung. Und irgendwann habe ich mir gedacht, dass es so viele Erinnerungen gibt, die nur zwischen dem Freund und mir existieren. Und irgendwer muss die weiter tragen. Irgendwer muss uns und ihn hier im Leben behalten und da er es selbst nicht mehr kann, muss ich es tun. Und das glaube ich bis heute. Wenn ich auch noch gehe, erst dann stirbt das, was wir hatten. Und das versuche ich zu vermeiden.“

Und irgendwann, nach einer Pause. „Ich kann nicht sagen, dass ich von nichts gewusst hätte. Ganz am Ende konnte man es zumindest erahnen, dass es so kommt. Ich dachte, ich kann damit leben. Irgendwann. Wenn es für ihn richtig ist. Aber seitdem er tot ist, gab es nichts mehr. Keine Café – Dates, keine Heizungsmomente, kein Getrennt – Gemeinsames Kochen, keine Treffen auf Bahnhöfen, keine Umarmungen mehr, nachdem wir uns wochenlang nicht gesehen hatten. Einfach nichts. Nur der Job. Der ist geblieben. Natürlich. Manchmal kommt es mir vor, als sei alles was hier passiert, eine Verlängerung des Leidens“
„Das kann ich verstehen“, sagt das Gegenüber. Auch, wenn er es nicht gut heißen kann, natürlich nicht. Und doch bewegt es mich. Das muss man erstmal aushalten können, ohne sofort dagegen zu reden. Ich weiß bis heute nicht, ob ich das am Ende überlebe. Aber ich bemühe mich. Jeden Tag.

Und trotzdem bleibt eine Restunsicherheit. Was ist, wenn dieser Mensch nicht bleibt? Ich versuche manchmal zu überlegen, was er denn davon hat und ich weiß es nicht so richtig, ehrlich gesagt.

 

Neue, zartgrüne Blätter, die über die Mauer wachsen

***
Die Nacht wird unruhig. Ich mache mir viele Gedanken. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, vor den nächsten Tagen keine Angst zu haben. Zwei Dienste nächste Woche, dazwischen will das Auto abgeholt werden, das unfallfrei hierher kommen muss und ich bin bisher in meinem Leben vielleicht zusammengerechnet zwei Stunden Automatik gefahren. Die Versicherung muss endlich mal unterschrieben werden, wobei das weniger an mir hängt und ich muss zurück auf die Intensiv, was die Energie exponentiell aus mir heraus ziehen wird.
Daneben haben der neue Herr Therapeut und ich schon mal über Termine gequatscht. Mein Plan war eigentlich den ersten Termin gegen Ende der ersten Maiwoche zu machen. Da ich am ersten Mai Dienst habe, werde ich halt nicht dazu kommen, mich mit dem Auto zu beschäftigen und ich wollte die Strecke eigentlich ein Mal abfahren vorher, damit ich mich nicht verfahre und zu spät komme. Und mit dem Auto den Weg zur Arbeit üben, wäre auch mal eine Idee. Weil es hier im Dorf zwei Baustellen mit Vollsperrung gibt, muss man komplett außen herum um das Dorf über den Autobahnzubringer fahren. Und erst mit dem Fahrrad heim und dann von hier aus los gurken, das dauert zu lange. Ich frage mich ja auch, ob die vom Internet ausgespuckten 27 Minuten Fahrzeit richtig sind.
Jetzt wird es aber Ende der Woche bei ihm zeitlich knapp, oder wir könnten den Termin erst spät am Abend machen und ich muss ja Freitag wieder arbeiten. Aber gut, es ist eben Freitag, da wird es schon okay sein, ein bisschen müde zu sein. Denn ein Termin jetzt direkt am Wochenanfang, zumal ich sowieso erst das Schlafdefizit von Sonntagnacht ausgleichen muss und darüber hinaus schon wieder Monatstag ist… - weiß ich nicht. Ob das nicht eher zu Stress nach der sowieso schon stressigen nächsten Woche führen wird…
Ich muss sowieso erstmal auf den Intensiv – Dienstplan schauen, ob mich wieder jemand ungefragt in Spätdienste eingetragen hat, dann erledigt sich die Überlegung vielleicht von selbst. (Und auch der Spätdienst geht bis 21 Uhr und am nächsten Tag hat man um kurz nach sieben auf der Arbeit zu sein, also ist mein ambitionierter Plan keine Schlafdefizite aufkommen zu lassen, ohnehin ein bisschen für die Mülltonne). Und mir ist eingefallen – wenn es nicht dabei ist, muss ich mich vor den ersten „weiteren“ Fahrten unbedingt noch um Verbandszeug und Warndreieck kümmern, wenn es nicht im Auto drin liegt, da habe ich nicht nachgeschaut.
Ich werde mich so freuen, wenn dieser Stress vorbei ist und es eine „neue“ Routine gibt, das glaubt Ihr echt nicht. Wahrscheinlich werden sich auch noch mindestens fünf weitere Probleme auftun, an die ich jetzt noch gar nicht gedacht habe.

Heute wollte ich eigentlich Intensivmedizin lesen, aber ich war weiterhin so erschossen, dass das mit der Konzentration mal nichts war und ich den halben Tag auf dem Bett gelegen und Musik gehört habe… und jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen wegen Unproduktivität. (Coolste Frage am Rand übrigens gestern: Nehmen die Kollegen eigentlich irgendwelche Drogen um das auszuhalten?“ Manchmal wüsste ich das auch gerne… ).

So... - morgen komme ich um die Intensiv dann leider nicht mehr herum. Drückt mir die Daumen, dass das keine ganz große Katastrophe wird.

Mondkind

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