Intensiverlebnisse
Manchmal ist es erschreckend, wie fragil das Leben
ist.
Unsere Intensivstation hat sich in eine halbe
Palliativstation verwandelt.
Vier unserer Patienten werden in den nächsten Tagen
voraussichtlich versterben.
Ich stehe neben einem Patientenbett. Anfang 50 ist
dieser Mensch, der da vor mir liegt. Gerade erst hatte er eine Krebserkrankung
überstanden. Gerade diese Krebserkrankung geht in so vielen Fällen auch
schlecht aus. Aber er war ganz gut raus gekommen. Danach war er zur Reha und
von der Reha kam er zu uns. Vor einer Woche sah es zwar ernst aus, aber nicht
so ernst, dass er daran wenige Tage später versterben könnte.
Das CT vom Kopf von heute zeigt, dass da trotz aller
Bemühungen nichts mehr zu retten ist. „Er hat kein Gehirn mehr“, fasst die
Radiologin zusammen.
Am Nachmittag kommen die Kinder. Anfang 20 sind die
beiden.
Der Oberarzt spricht mit ihnen.
Ich kann in dieses Zimmer einfach nicht mehr rein
gehen.
„Die verstehen das noch gar nicht“, sagt der
Oberarzt, als er wieder kommt. „Das sind doch fast noch Kinder.“
Aber sie werden es verstehen. Und manchmal wünschte
ich, die Medizin könnte ein bisschen mehr tun. Aber wenn das Gehirn, die
Zentrale, versagt, dann ist nichts mehr zu machen. Selbst, wenn man seinen
Körper am Leben erhielte – aber er ist nicht mehr hier.
Ein anderer Patient ist einer, den ich vor zwei Wochen nach einem Treppensturz aufgenommen habe. Er wurde noch operiert, die Neurochirurgen haben getan was sie konnten, aber die Schäden waren zu groß. Auch seine Familie besucht ihn täglich, sitzt Stunden neben dem Bett, nimmt Abschied.
Und ehrlich gesagt – obwohl ich mir gewünscht hätte
meinen Freund nochmal zu sehen, bevor sein Körper endgültig zerfällt – aber ich
weiß nicht, ob ich das geschafft hätte. Ich habe so eine Hochachtung vor den
Menschen, die – so sehr wie sie auch schluchzen mögen – den Mut haben auf eine
Intensivstation zu gehen und sich diesen Bildern zu stellen.
Manchmal stellen die Angehörigen Fotos neben das
Bett, auf dem sie mit dem Patienten zu sehen sind. Und es ist so erstaunlich zu
sehen, wie schnell sich das Aussehen der Menschen nach ein paar Tagen auf der
Intensivstation ändert. Dieser verkabelte, sedierte Mensch in dem Bett vor uns
hat wenig zu tun mit dem Menschen, den ich auf den Fotos sehe.
„Ich möchte einfach nur nach Hause“, habe ich heute
irgendwann gesagt.
Es ist so schwer das auszuhalten. Dieses Leid. Es
ist mir leichter gefallen, als ich noch nicht wusste was es bedeutet einen
Menschen zu verlieren, für den man sein eigenes Leben geben würde. Wie sehr das
prägt. Das Leben verändert. Wie lange das dauert eine minimale Stabilität zu
generieren.
Ich weiß nicht, wie die Kollegen damit umgehen. Man spricht nicht darüber. Irgendwie.
Und manchmal wünsche ich mir für diese Menschen auf
meiner Station so sehr, die Weichen wären irgendwie anders gestellt worden.
Vielleicht hätte der junge Mensch ein bisschen mehr Glück haben können, nachdem
er es doch kurz davor schonmal hatte. Vielleicht hätte der andere Patient 10
Minuten später die Treppen hinab gehen können und wäre nicht gestürzt.
Es sind manchmal Sekunden, die das Leben der
Patienten und deren Angehörigen verändern.
Ich glaube, manchmal vergessen wir, wie fragil wir
sind. Und dass eigentlich nichts selbstverständlich ist. Und dass es keine
besonders tolle Idee ist, die Dinge so oft auf morgen zu verschieben. Das habe
ich jetzt eigentlich schon gelernt. Aber ich vergesse es so oft.
Aber am Ende leben wir heute. Und ob wir morgen noch
leben, wissen wir genau genommen nicht.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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