21 Monate
Aber das was fehlt
Dass kann man nicht zähl'n
Ist mehr als nur'n paar Worte
Auf einem karierten Blatt Papier
Aber das was zählt
Wird mir auch dann noch fehl'n
Auch wenn man sonst den ganzen
Rest der Welt addiert
(Alexa Feser – Inventur)
Und all das was ich schreibe, kann nicht ausdrücken, wie viel mir fehlt und wie sehr es in der Seele und im Herzen weh tut.
Hey mein lieber Freund,
21 Monate. Was für eine Zahl. Das klingt, wie eine
halbe Unendlichkeit. Dabei fühlt es sich an, als sei es gestern gewesen.
Ein Monat Intensivzeit liegt schon hinter mir und
ich versuche weiterhin geschickt zu kaschieren, dass ich von Intensivmedizin
keine Ahnung habe, keine Idee habe, wann ich noch Bücher lesen sollte, und es
mir Angst macht, was dort so passiert.
Ich werde bald ein Auto haben – welches nun auch
immer es werden wird - und denke darüber nach, dass uns das vielleicht vor zwei
Jahren gerettet hätte. Hätte ich an jenem Freitagfrüh nicht den Zug kriegen
müssen, sondern hätte mit dem Auto noch bei Dir vorbei fahren können –
vielleicht würdest Du heute noch leben. Kannst Du Dir das vorstellen: Mondkind
am Steuer eines Fahrzeuges? Ich glaube auf dem Fahrersitz eines Autos hast Du
mich nie gesehen.
Es gibt allerdings – auch wenn die Entscheidung für
das Auto getroffen ist - noch viel zu regeln mit Versicherungen und Co. So
einfach ist es alles nicht. Ich denke aber eine meiner ersten längeren Strecken
– ich hoffe, ich bekomme im Frühling, wenn ich das Auto habe, mal zwei, drei
Tage Urlaub genehmigt - wird mich zurück an den Fluss der Studienstadt zu
führen. Einfach, um nochmal nachzuspüren. Wie sich das Leben angefühlt hat. Vor
so langer Zeit. Ich kann es nicht loslassen, das Erleben von Damals.
Aber dazu braucht es eben erstmal das Auto. Fast
alle die ich gefragt habe, raten zum Automatikauto und diejenigen, die sogar
selbst eines haben sagen, sie wollten nie wieder tauschen. Was meinst Du: Soll
ich auf „die Großen“ hören?
Ich habe es endlich, endlich, endlich – nach bestimmt
einem Jahr – geschafft die beiden Bücher fertig zu machen. Insgesamt über 500
Seiten Geschreibsel zwischen uns beiden, die Sprachnachrichten sind für die
nächsten 30 Jahre abrufbar. Und selbst, wenn die Technik irgendwann versagt;
ich habe endlich etwas zwischen meinen Händen, das bleibt. Das unseren
gemeinsamen Weg dokumentiert. Und nachdem ich mir immer und immer wieder
anhören musste, dass man diese zwischenmenschliche Beziehung zwischen uns so
sehr anzweifelt, ist es so wärmend, still und für mich etwas dagegen halten zu
können, das das Gegenteil beweist. Die Zeiten mit Dir waren das Licht in all
dem Regen und dieses Licht wird für immer zwischen den Zeilen verewigt bleiben.
Ich habe schon mal kurz quer gelesen. Und manchmal komme
ich an Szenen vorbei, an die ich mich in dem Moment erinnere, in dem ich sie
lese. Und für den Bruchteil einer Sekunde ist dieses Lebensgefühl wieder da.
Und das ist so wunderschön, weil es das ist, das ich so sehr vermisse und nachdem
ich so viel suche. Aber der Schmerz darüber, dass ich nicht weiß wann und ob es
das nochmal geben wird, folgt auf dem Fuße. Sobald das Hirn realisiert hat dass
das, was es da gerade fühlt, unwiederbringliche Vergangenheit ist.
Und weil ich kürzlich mit wem nochmal drüber
gesprochen habe: Ich würde Dich gerne fragen: „Wie viel Selbstbestimmung siehst
Du im Suizid?“ Ich konnte mich wieder erinnern, dass wir – schon lange bevor Du
mal gestorben bist – mal darüber diskutiert haben. Du hast mir damals erklärt,
dass Du es überhaupt nicht nachvollziehen kannst, dass man suizidalen Menschen
die Polizei „auf den Hals hetzt“, wie Du es ausgedrückt hast, dass solche
Menschen gegen ihren Willen in die geschlossene Psychiatrie gebracht werden und
dort so lange bleiben müssen, bis sie – mit wie viel Ehrlichkeit auch immer –
bekräftigen weiter leben zu wollen.
Ich weiß, dass ich Deine Gedanken dazu damals
zumindest nachvollziehen konnte.
Heute finde ich, dass es ein großes Dilemma ist. Ich
kann den Wunsch verstehen, das so zu sehen. Aber ich habe auch selbst gespürt
und von anderen Betroffenen erfahren, wie viel Leid das ist und wie sehr es das
Leben der Zurückbleibenden ändert.
Und trotzdem habe ich selbst sehr oft den Gedanken,
dass es keinen Sinn mehr macht, wenn die Goldmomente, die damals die Schwere
ein bisschen aufwiegen konnten, heute fehlen. Früher habe ich mich nicht für die
Gedanken geschämt und habe nur meine eigene Verzweiflung gesehen. Aber als ich
es im Dezember dem Herrn Kliniktherapeuten das erste Mal ausgesprochen habe,
habe ich mich so sehr dafür geschämt, dass ich alleine darüber geweint habe. Es
tut mir heute so sehr leid die umliegenden Menschen damit zu stressen, weil ich
weiß wie sehr ich darunter gelitten habe und immer noch leide und trotzdem ist
es eben manchmal da.
Nachdem was passiert ist, habe ich noch keine
abschließende Meinung zu dem Thema. Aber ich hoffe einfach immer wieder, dass
wenigstens Du Deinen Frieden mit dieser Entscheidung gefunden hast. Und wenn
das so ist – vielleicht kann ich das dann auch irgendwann. Denn ich frage mich
auch immer wieder: Was wäre passiert, wenn ich schnell genug gewesen wäre und
Dir die Polizei vorbei geschickt hätte? Ich würde heute alles dafür tun, dass
Du wenigstens noch lebst und ich finde Trennungen von Menschen heute nicht mehr
so schlimm wie früher, wenn ich sicher bin, dass beide Seiten leben und atmen –
aber hätte uns diese Handlung meinerseits getrennt? Wärst Du so böse auf mich
gewesen, weil ich Deine Idee vom Sterben kannte und mich trotzdem – vielleicht aus
ganz egoistischen Gründen diesen Schmerz, wenn Du gehst, nicht ertragen zu
können und wollen – dazu entschieden hätte, das so nicht zu akzeptieren?
Ich möchte aber heute nicht zu viele Fragen stellen.
Und auch wenn ich heute hauptsächlich über Flure fege und hoffe, dass es mal
ein Dienst wird, in dem weder im Dienst selbst noch im Nachgang irgendwelche
blöden Dinge passieren, möchte ich mir zwischendurch mal vorstellen, dass wir
uns zunächst gegenüber stehen und die Hände des anderen nehmen, ehe ich mich
auf Zehenspitzen stelle und Dich in den Arm nehmen würde. Am Besten mit den
Geräuschen des Bahnhofs dahinter.Und wenn ich jetzt bald ein Auto habe und nicht mehr mit der Bahn fahren muss, dann werden die Bahnhofsmomente immer ein Stück "wir" bleiben, die sich - egal was zwischenmenschlich passiert - so nie wieder wiederholen werden.
Ich glaube, was ein bisschen trägt ist das Wissen,
wie Monatstage sein können.
Kannst Du Dich erinnern – am 18. Monatstag hatte ich
– ob das nun seitens des Therapeuten so geplant war oder nicht weiß ich nicht –
einen Termin bei ihm. Dieses Bild hat sich zwischen meine Hirnwindungen
eingebrannt. Ich auf dem Stuhl hinter der Tür in diesem winzigen Raum, er mir
gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet. Zwischen uns ein kleiner Holztisch,
unter dem die Taschentuchpackung stand. (Ich habe nie verstanden, warum sie bei
ihm immer unter dem Tisch stand…) Und das war wirklich nicht mein Plan, quasi
sofort in Tränen auszubrechen, aber auf die Frage, wie es mir geht, habe ich
geantwortet: „Es sind 18 Monate heute – da muss ich glaube ich nicht mehr viel
zu sagen, oder?“ Und dann hat er einfach gewartet, bis ich mich wieder ein
bisschen beruhigt hatte. Eine seiner größten therapeutischen Stärken ist die
Akzeptanz der Situation. Ich weiß nicht, was er sich so denkt in solchen
Momenten, was er aber ausstrahlt ist die Ruhe, auf mich zu warten.
Das hatte schon viel von den sehr vermissten
Teemomenten vor der Heizung. Und steht sehr im Kontrast zu den ersten
Monatstagen, die ich erlebt habe. Kannst Du Dich erinnern – am zweiten
Monatstag musste ich mich von der geschlossenen Psychiatrie kämpfen, ich durfte
nur ungesehen weinen (also nur im Bad, wenn überhaupt), weil sie mich sonst nicht
hätten gehen lassen. Da war dieser Moment an einem solchen Tag mal echt und
zerbrechlich sein zu dürfen, ein wenig heilend. Ein wenig Überschreiben von schlimmen Erfahrungen im Zusammenhang mit diesem schrecklichen Ereignis.
Und natürlich – wenn ich mir etwas wünschen dürfte – dann wäre es die Situation, mit diesem Hirn heute mal kurz irgendwo sicher zu sein. Aber es geht heute nicht. Obwohl ich mir ehrlich gesagt immer noch wünsche, dass die Menschen sich mal kurz erinnern würden. Und ein Kurzes „Mondkind, ich denke heute an Dich“ würde schon reichen.
Diesen Monat hast Du Geburtstag und ich habe an diesem Tag (noch) keinen Dienst - nur normal arbeiten natürlich. Schauen wir, was wir draus machen.
So, ich muss los zum Dienst.
Ich hoffe Du fühlst Dich sicher, wo immer Du auch bist.
Ganz viel Liebe
Mondkind
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