Vom Aushilfsjob und Mobilität

Gestern. Eine Kollegin in der Leitung.
„Kannst Du mir einen Gefallen tun? Du bist doch heute [im anderen Gebäude]?“, frage ich. „Ja“, entgegnet sie. „Kannst Du Dir nochmal das mobile EEG von Sonntag anschauen? In dem Standard – EEG von heute hat der Oberarzt PLEDs gesehen und jetzt haben sie ihn auf Status behandelt. Ich finde das irgendwie nicht ganz eindeutig, aber ich sehe, was er meint. Jetzt ist die Frage, ob das in unserem EEG auch zu sehen war – das ist ja von der Qualität her wirklich schlecht.“
„Mondkind“, seufzt die Kollegin. Ich schweige kurz. „Neuerdings passiert in jedem Dienst irgendwelche Kacke. Entweder Jemand hat einen Schlaganfall und eine periphere Fazialisparese zusammen, wobei der Schlaganfall kein Kerngebiet war, sondern einfach ein Zufall war – wie hätte ich das riechen sollen? Und jetzt… - es weiß keiner was er hat. Die Diagnosen reichen von Schlaganfall, über PRES, über Hirnödem bei hypertensiver Entgleisung bis hin zum Status epilepticus und jeder tut so, als sei seine vorgeschlagene Diagnose vollkommen klar. Ja, das macht schon jeweils Sinn, aber es gibt auch immer wieder Dinge, die wiedersprechen. Ich komme mir langsam vor wie der größte Trottel auf dem Planeten.“ Die Kollegin versucht mich zu beruhigen, erklärt, dass es wirklich ein schwieriger Fall war und dass sich schließlich auch unsere Oberärzte streiten, was er hat. Und am Ende hat er vielleicht auch Mehreres gleichzeitig.

In Kombination mit der Intensivstation ist mein Selbstvertrauen auf jeden Fall irgendwohin knapp unter den Erdboden geschrumpft. Ich muss langsam mal wieder vernünftige Dienste hinlegen.
Sie meldet mir später zurück, im mobilen EEG keinen Status und keine PLEDs zu sehen. Und sie ist Fachärztin. Dann wird es hoffentlich okay sein.

 „Na Mondkind, hast Du viel Geld ausgegeben?“, fragt eine andere Kollegin, der ich am Morgen auf dem Weg auf die Intensivstation über den Weg laufe. „Ja, habe ich. Mein Konto wird weinen am Ende des Monats…“ „Ach Mondkind, Du hast jetzt über zwei Jahre gearbeitet und nie etwas ausgegeben. Mach Dir keinen Kopf. Wann bekommst Du das Auto jetzt?“ „In der letzten Aprilwoche. Und weil ich diesen Monat keinen Tag mehr frei habe, ist der Plan es nach einem 24 – Stunden – Dienst abzuholen. Ob das so toll wird, weiß ich nicht. Und mit der Versicherung ist es auch noch ein kompliziertes Unterfangen. Ich glaube das erst, wenn ich mit dem Auto vom Hof rolle, dass es wirklich geklappt hat.“ (Dann gibt es das Schlüsselbild…)
Allerdings muss man sagen – ich bin keine Minute zu spät. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so lange dauert, wo das Auto doch schon da ist und beim Autohändler steht. Am Wochenende war der Rat von einer Kollegin noch gewesen, das Angebot zu nehmen, wenn es einigermaßen passt. „Mondkind, das Problem an unserem Beruf ist, dass wir absolut keine Zeit haben. Du kannst jetzt nicht noch 10 Autohäuser abfahren, das packst Du nicht.“
Ich hoffe, es war die richtige Entscheidung.

Intensivstation. Ist nach wie vor ein Überleben. Früher habe ich zwar tendenziell länger gearbeitet und es gab sicher auch einige Tage, vor denen ich Angst hatte. Wie Chefarztvisiten, oder wenn ich von vornherein wusste, dass ich frühestens 20 Uhr fertig sein werde. Aber die Intensivstation und ich – wir werden nicht warm. Ich möchte schon morgens am liebsten von dieser Station fliehen.
Noch vor der Visite bekommt mein Oberarzt einen Anruf. „Mondkind, man wird Sie von der peripheren Station anrufen, die haben Personalmangel dort – Sie werden aushelfen müssen.“ Und schon 10 Minuten später klingelt mein Telefon.

Also trabe ich nach der Visite auf der Intensivstation auf die periphere Station. Innerhalb von drei Stunden soll ich drei Patienten aufnehmen – dann muss ich zurück auf die Intensivstation. Ich habe einen Patienten mit multipler Sklerose, eine junge Frau mit Verdacht auf Epilepsie und eine Verlegung von der Psychosomatik. Bis zur psychosomatischen Patientin bin ich im Zeitplan, danach… - nicht mehr. Aber ich habe nicht viel dagegen. Obwohl diese Patienten super anstrengend sind, beschäftige ich mich gern mit ihnen – allein um ihnen ein Ohr zu sein, das ich selbst so oft vermisst habe. Auch wenn ich nie so heftige körperliche Beschwerden hatte, dass die somatisch hätten abgeklärt werden müssen, aber ich kann diesen Leidensdruck nicht ernst genommen zu werden so gut nachvollziehen und ich möchte ein Licht auf deren Weg sein können.
Am Ende werde ich nach Ende des Tages auf der Intensivstation meinen „Nebenjob“ auf der peripheren Station beenden müssen.

„Na Mondkind“, kommt die Funktionsoberärztin vorbei, „ist es okay für Dich?“ „Ja Danke, ich bin viel lieber hier, als auf ITS.“ „Das wusste ich doch…“, sagt sie. Und natürlich macht man Überstunden und natürlich ist der Tag lang und wenn man Termine hat, wird das Leben auf dieser Station immer beschwerlich sein. Aber ich mag die Kollegen, ich mag es mal wieder zu wissen, was ich tue und eine selbstständige, kompetente Ärztin sein zu können, während die Intensivstation für mich mit ganz viel Angst und Ahnungslosigkeit verknüpft ist. Ich könnte sicher mehr, wenn ich es mir zutrauen würde, aber sämtliche Katheter und Drainagen zu legen ist einfach nicht meins und das wird sich – auch wenn die potentielle Bezugsperson da anderer Meinung ist – nicht ändern, weil man mich zwingt. Ich weiß schon, warum ich ein nichtinvasives Fach gewählt habe. Und davon ab haben sich die Dinge für mich nie geändert, wenn man mich gezwungen hat. Und man hat mich zu vielen Dingen gezwungen im Leben unter dem Vorwand das Beste für mich zu wollen.

Da die periphere Station absolut unterbesetzt ist, versucht man zu erreichen, dass ich dort zumindest morgen noch aushelfen darf. Das wäre super. Mal wieder atmen zwischendurch. Obwohl morgen Chefarztvisite ist… das wird dann ein sehr langer Tag.

 

Wintereinbruch... - beim wem noch?


***
Ich lieg so im Bett nachts.
Und denke nach. Wenn alles jetzt klappt, dann besitze ich bald ein Auto. Und… - ein eigentlich ganz Hübsches noch dazu.
Wahrscheinlich soll ich mich freuen. Und manchmal spüre ich auch eine gewisse Leichtigkeit. Wie schön, dass es einfacher wird. Gerade mit der Urlaubsplanung hier. Ich konnte so lange und so oft nicht in die Studienstadt, weil es einfach unmöglich ist von heute auf morgen eine Reise zu organisieren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Jetzt wird es leichter. Wenn es heißt: „Mondkind, morgen bleibst Du zu Hause“, dann schmeiße ich den Koffer ins Auto  und fahre los an den Ort, an dem einst das Leben spielte. Ehe es dann untergegangen ist, bevor es hier okay werden konnte. Dass das so ein Roulette – Spiel werden würde, war mir nie bewusst. Wir müssen nur durchhalten, aber es wird okay, hier an diesem Ort, das war so lange die Überzeugung.
Ich hoffe nur – ich hoffe wirklich – dass man mit dem Zwangsurlaub noch wartet bis nächsten Monat. Das schwebte schon im März über mir, jetzt ist April, aber die Personalsituation ist so eng, dass man sich über jeden freut, der da ist; es sind auch noch zwei Dienste unbesetzt diese Woche. Ich würde daran ein Stück weit zerbrechen, wenn ich jetzt, so kurz bevor es möglich wird, untätig in meiner Wohnung sitzen muss in dem Wissen, dass ich in wenigen Tagen kann. Pendeln zwischen den Welten, zwischen den Erinnerungen.
Und je mehr ich mich gedanklich damit beschäftige, wie einfach es werden wird, desto mehr Erinnerungen kommen hoch. Es ist kaum noch händelbar immer wieder ein paar Sekunden dieses alte Leben zu spüren. Das Lebensgefühl von Damals.

Ein Auto schafft Mobilität, Freiheit – Autoschlüssel in der Hand halten, ist ein bisschen, wie ein zweites Mal 18 werden. Es ist Bewegung nach knapp zwei Jahren Stillstand. Das war nie der Plan hier so lange auf den Radius eines Fahrrades begrenzt zu sein. Der Freund wollte sein Auto mitbringen, wenn er kommt, das war quasi in Stein gemeißelt.
Mit seinem Tod kam nur alles zum Erliegen.

Es fühlt sich immer noch so an, wie ich das mal beschrieben habe. Im ersten Moment mag da sogar etwas wie Euphorie sein. Ich hebe den Fuß und möchte nach vorne ins Leben hüpfen. Und dann zieht mich etwas am Kragen zurück. Denn jeder Schritt nach vorne ist ein unwiederbringlicher Schritt weg von unserem letzten gemeinsamen „wir“. Zurück ins Leben zu gehen, heißt immer wieder Schritte weg zu machen von dem, das das Leben so wertvoll gemacht hat.

Und dann spüre ich die Tränen in den Augen. Es ist immer noch so schwer. Ich habe mich immer nur bewegt, wenn ich musste. Auf der Arbeit hat man mich über die Stationen gereicht, mein Arbeitsleben hat sich so oft geändert, seitdem der Freund tot ist. Ich konnte nichts dagegen machen. Aber alles, was ich steuern konnte lag und liegt brach. Die Wohnung ist bis heute nicht eingerichtet. Und mit dem Auto… - auch da habe ich gewartet, bis es nicht mehr anders ging. Ich hätte natürlich sagen können, dass ich auch ohne Therapie zurechtkomme, dass ich auch monatelang (oder jahrelang) warten kann, bis ich im Kaff mal wieder einen Therapeuten finde – aber jemanden wie den Kliniktherapeuten findet man jetzt auch nicht an jeder Ecke und es passt halt einfach mit uns beiden. Wäre die Situation nicht gewesen, hätte ich jetzt auch noch kein Auto. Und klar – ich nutze auch die Seiteneffekte davon.

Ich bin müde. Es hat sich viel getan hier in den letzten Monaten. So lange habe ich die Dinge geschoben. Das Auto, die Bücher mit den Nachrichten zwischen dem Freund und mir, die endlich fertig sind. Dann sind da Gefühle, die Herr Therapeut ausgelöst hat. Es ist die Hoffnung bald nochmal suchen zu können. Am Flussufer. Nach dem was war. Und nicht mehr wird.
Und das ist alles viel.

Heute auf der Arbeit. Ich erkläre dem neuen Kollegen etwas. „Mondkind, das hast Du mir vorgestern schon erklärt“, sagt er. „Echt…?“, frage ich. „Wo bist Du mit Deinem Hirn?“
Ja, gute Frage. Eine Hirnhälfte rotiert. Die andere versucht das Sein aufrecht zu erhalten. Die Fassade. Die Tatsache, dass Sterben auf der Intensiv an der Tagesordnung ist. Und ich mich nie dran gewöhnen möchte.

Ich lache viel. Fühle kaum etwas, außer der Schwere. Selbst die Angst ist gedämpft.
Hinter der Fassade bricht mehr, als man so meint.
Ich spüre es, aber ich kann wenig tun. Der Verlust bleibt. Die Arbeitsbelastung auch. Nächstes Wochenende wird das vierte Wochenende an dem ich arbeite, in Folge.

Ich habe Angst. Dass es nicht reicht. Dass die Fragilität, die ich so sehr spüre sichtbar wird. Dass es bricht.

Mondkind

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