Von Instabilität und platten Fahrradreifen

Atmen.
Einfach weiter atmen.

„Ich glaube, hinter der Fassade bricht mehr, als man so meint.“
Meine Worte von vor zwei Tagen. Ich spüre es halt meist schon.

Man merkt immer, dass irgendetwas nicht stimmt, wenn der Blog explodiert, oder – wenn es ganz still wird. Im Moment passiert noch so viel, dass der Blog eben explodiert.

Die ersten Tränen fließen am Morgen schon, bevor ich überhaupt die Wohnung verlassen habe. Ich kann einfach nicht mehr. Diese ganzen Parallelbelastungen gepaart mit der Erschöpfung.

Intensivstation.
Beim Betreten der Station treffe ich auf den Dienstarzt, der mit Angehörigen telefoniert. „Es tut mir leid, Ihnen keine besseren Nachrichten geben zu können. Wenn Sie wollen können Sie gerne noch kommen und sich verabschieden.“
Schon wieder jemand gestorben. Und ich spüre schon, dass mich das heute sehr berührt, obwohl ich den Patienten nicht gut kannte. Aber das Nervenkostüm ist dünn heute.

Ich sitze kaum, da kommt die Pflege. „Mondkind kannst Du mal bitte nach dem Patienten schauen, der hat gestern seine Trachealkanüle bekommen und er blutet. Wir haben schon Suprareninkompressen drum herum gelegt, der Dienstarzt hat schon genäht, aber es hört nicht auf.“ Ich springe auf und laufe zum Patienten. Es blutet wirklich. „Wir schalten mal als erstes den Heparinperfusor aus“, sage ich. Zum Glück kommt mir auf dem Rückweg ins Arztzimmer der Oberarzt entgegen. Ich berichte ihm gleich was passiert ist und bitte ihn drauf zu schauen. Er hat da aber voll die Ruhe weg und kommt erst fünf Minuten später. „Das hört schon wieder auf, wenn wir den Heparinperfusor ausdrehen“, sagt er. Als ich nochmal in Ruhe hingehe stelle ich fest, dass der Urin auch blutig ist. Was zum Geier ist da passiert? Ein Blick auf den Hb verrät, dass der noch stabil ist.
Beim selben Patienten sind die sowieso schon sehr schlechten Nierenwerte noch weiter angestiegen was bedeutet, dass wir ihn heute wirklich dialysieren müssen. Also muss ich einen Shaldon – Katheter legen.
Die Sorge um diesen Patienten überfordert mich schon in der Früh derart, dass ich das erste Mal auf der Intensivstation Tränen in den Augen habe. Ich beruhige mich auf der Toilette ein bisschen, dann bereite ich die Chefarztvisite vor.

Dafür, dass ich bis zur Chefarztvisite fast nur mit meinem Sorgenpatienten zu Gange war, läuft es erstaunlich reibungslos. Als wir bei dem blutenden Patienten vorbei kommen, macht sich in der BGA auch ein beginnender Hb – Abfall bemerkbar. „Sollen wir ein CT Thorax / Abdomen fahren zur Suche der Blutungsquelle?“, frage ich. Noch nicht, beschließen die drei Chefs. Abwarten, ob der Hb sich stabilisiert.
Allerdings wird er auch mit der Herzfrequenz immer langsamer.

Nach der Visite. Ich möchte ihm keinen Shaldon legen müssen. Ich habe so Angst, dass er einfach beim Legen des Katheters reanimationspflichtig wird. Alle Oberärzte sind echt noch gechillt, aber mir macht das Angst. Ich will nicht schon wieder daneben stehen müssen und nichts tun können.
Eine Kollegin erklärt sich bereit, den Shaldon zu legen, ich baue daneben die Dialyse auf.

Später muss noch eine Tracheotomie gemacht werden. Unsere Handchirurgin möchte das unbedingt machen. Da bin ich raus. Aber ich schaue zu, weil es auch auf mich zukommt. „Die Frau Mondkind macht die nächste Tracheotomie“, sagt der Oberarzt. Die wird Anfang nächster Woche kommen.
Zwischenzeitlich gibt es auch bei einer Tracheotomie eine Situation, in der die Patientin faktisch nicht beatmet ist. Wenn da etwas schief geht, ist das schlecht. Ich spüre, wie ich instinktiv die Arme um meinen Oberkörper schlinge und am liebsten fliehen würde.

Später geht es im Arztzimmer um die Urlaubsplanung.
„Sie wissen schon, dass Sie den Urlaub nicht im allgemeinen Urlaubsplan, sondern im Dienstplan eintragen müssen“, sagt der Herr Oberarzt. Nein, das weiß ich natürlich nicht. Und ein Blick in den Mai – Dienstplan verrät, dass der Mai hinsichtlich Urlaub dicht ist. Ich muss also arbeiten in den Tagen, in denen der Freund gestorben ist. Ich spüre schon wieder die Tränen in den Augenwinkeln.
Wieso kann an dieser verdammten Klinik nicht mal irgendetwas funktionieren? Wofür gibt es denn einen Urlaubsplan, wenn der für die Intensiv mal wieder nicht gilt. Und natürlich habe ich als Neuling da gar nichts mehr zu melden.

Mein Sorgenkind vom Nachmittag schmiert am Nachmittag dann doch mit dem Hb ab. Der Spätdienst und der Dienstarzt sind jetzt dran und ich hoffe, dass ich ihn morgen Nachmittag sehe.

Nach dem Arbeitstag.
Frau Therapeutin ist wieder da. Als ich bei meinem Fahrrad ankomme stelle ich fest, dass der Reifen platt ist. Aber so richtig platt. Als wäre er geplatzt. Es geht nicht anders. Ich weiß, man soll nicht mit einem platten Reifen herum fahren, aber ich muss einmal quer durchs Dorf zu ihr düsen. Zwar rutscht der hintere Reifen immer wieder weg und ich muss langsam fahren, aber ich komme an. Wann um alles in der Welt soll ich mich denn jetzt noch um ein Fahrrad kümmern?

Ich habe selten geweint bei ihr. Aber heute kann ich mich nicht gut beherrschen. Es ist zwar nicht ganz so schlimm wie das bei Herrn Kliniktherapeuten war, aber ich habe durchgehend die Tränen in den Augenwinkeln stehen, so sehr wie ich mich auch zusammen reiße.
Ich rede über die Arbeitsbelastung. Dass ich es einfach nicht mehr packe. Dass ich mich nicht konzentrieren kann, dass die ersten Fehler passieren, dass ich auf der Intensiv durchgehend Panik habe. Und ich versuche es nicht so an mich heran zu lassen, akzeptiere alles was so passiert und versuche mir zu denken: Irgendwie geht das schon. Und wenn ich morgen nicht weiter weiß, rufe ich eben durchgehend den Dienstarzt an. Dann muss man halt eine vernünftige Einführung auf die Intensiv machen, wenn man das verhindern will. Aber es ist zu viel und irgendwann bricht das eben durch.
Und dann rede ich über den Freund. Über das Unverständnis. Ein Kumpel hat erst gestern geschrieben: „Bald ist das zweite Jahr bereits voll.“ Ja  Danke, weiß ich selbst. Und dann rede ich über unser whatsApp – Buch, das ich das quer lese und gefunden habe, dass er mir mal geschrieben hat, dass er jedes Mal im U – Bahn – Schacht steht und weint, wenn ich wieder in die Ferne gefahren bin. Und das… - das hat mich so berührt. Was habe ich uns denn da angetan nur weil ich geglaubt habe, dass ich hinsichtlich des Jobs in der Ferne glücklich werde und nicht mal das funktioniert so richtig. „Und dann muss man sich vorstellen: Ich war im Mai 2020 nochmal in der Studienstadt, aber wir konnten uns nicht sehen, weil er noch in der Psychiatrie war und da Besuchsverbot war. Und dann wurde er am späten Donnerstagabend entlassen und hat mich gefragt, ob ich Freitagfrüh noch vorbei komme, aber ich konnte nicht, weil ich den Zug in die Ferne kriegen musste und am nächsten Tag Dienst hatte. Und ich bin dieses eine Mal nicht über die Studienstadt in die Ferne gefahren, sondern über eine Nachbarstadt genau in der falschen Richtung, sodass wir uns auch nicht am Bahnhof in der Studienstadt treffen konnten. Er hat mich dann irgendwann Freitagfrüh gefragt, wo ich bin. Vielleicht wollte er wissen, ob ich das ernst meinte, dass ich einfach so fahre. Und ich habe ihm dann gesagt, dass ich im Zug sitze.“ Ich schweige kurz. „Und irgendwie glaube ich, dass dieser Satz ihn umgebracht hat.“ Und dann ist es vorbei mit der Beherrschung.
Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr mit dieser Geschichte.

Frau Therapeutin hat wenig Konstruktives zu sagen. Kommt wieder damit um die Ecke, dass es doch ein Unfall gewesen sein kann. Meine Güte, ich hab’s echt nicht vermisst, diese Aussage. Warum muss ich das mit ihr seitdem wir uns kennen immer wieder ausdiskutieren? Relativierung macht es nicht besser.

Allerdings gefällt ihr die Lage so schlecht, dass sie vorschlägt nochmal auf der Psychosomatik anzurufen. Vielleicht kann man ja noch eine Krisenintervention hinterher schieben. „Dann treffe ich wieder auf meinen Kliniktherapeuten; der hat die Krisengruppe – der wird sich freuen mich genauso zu sehen, wie im Dezember“, sage ich. „Ich kann jetzt auch nicht nochmal fehlen auf der Arbeit, das machen die echt nicht mit. Lassen Sie das. Ich habe auch echt keine Lust mehr auf Klinik. Ich hatte Glück mit dem Aufenthalt, aber ich mag jetzt nicht nochmal.“

Das Fahrrad schiebe ich im Anschluss tatsächlich nach Hause und komme nebenbei dazu, mal Fotos aus einer anderen Ecke des Dorfes zu machen. Ich rufe schon mal im Fahrradladen an. Das ist wirklich ernüchternd. „Also Termine haben wir nach Ostern wieder.“ Echt jetzt? Ich brauche dieses verdammte Fahrrad, sonst komme ich weder zur Arbeit noch zur Therapie. Im zweiten Fahrradladen betone ich nochmal, dass ich das Fahrrad brauche, wie andere Menschen ihr Auto. Zähneknirschend gibt der Typ mir einen Termin für morgen früh um 9. Das war es dann wohl mit den Annehmlichkeiten des Ausschlafens, um dem Spätdienst wenigstens irgendetwas abzugewinnen. 

Heimweg. Sieht friedlicher aus, als es sich angefühlt hat.

 

Zu Hause pumpe ich nochmal Luft auf den Reifen – ich erwarte eigentlich, dass es pfeift und die Luft sofort wieder raus geht. Das Ventil war auch zugedreht, ich habe eigentlich gedacht, dass der Reifen irgendwo ein großes Loch hat, wenn er innerhalb von neun Stunden komplett platt ist. Zum Test fahre ich noch zwei Runden über das Nachbardorf, damit Gewicht auf dem Reifen ist. Aber auch da – die Luft ist noch drauf.
Jetzt überlege ich schon – kennt sich jemand aus? Was kann der Reifen haben? Soll ich morgen trotzdem zum Fahrradladen fahren, wenn da morgen früh immer noch Luft drauf ist? Oder sollte ich es dann weiter beobachten? Ich brauche es halt echt noch rund einen Monat lang – danach eigentlich auch, aber wenn ich alternativ ein Auto habe, habe ich auch Luft bis zur Reparatur.

Und später – wenn ich hier noch ein bisschen klar Schiff gemacht habe – darf ich endlich wieder das Licht löschen. Ich kann nicht mehr.
Aber ich möchte auch nicht, dass ich mich völlig für umsonst in die Trümmer gelegt habe. Es muss nochmal okay werden, bevor ich falle.
Bitte.

Mondkind

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