22 Monate - Wie viel wiegt ein Leben?

Hey mein lieber Freund,
na, sprich: Wie geht es Dir eigentlich?

Hier ist es Frühling geworden. Endgültig. Die Bäume sind grün und sobald man einen Fuß vor die Tür setzt, riecht es nach Blüten und frischen Blättern. Und obwohl ich jetzt ein Auto habe, werde ich den Weg zur Arbeit mit Fahrrad und zu Fuß bevorzugen.

Womit wir schon beim Thema wären. Es ist so verdammt viel passiert in den letzten Wochen. So viel, das ich gern mit Dir teilen würde.
Ich weiß nicht, wie es in der Welt ist, in der Du seit bald seit zwei Jahren lebst, aber für mich war es so, als sei mit Deinem Tod die Zeit stehen geblieben. Da war nichts mehr, außer einer großen, grauen Staubwolke. Das Einzige das ich gespürt habe war die Trauer um Dich, um den Menschen, den ich nicht im Leben halten konnte.
Ich war am Wochenende das erste Mal mit dem Auto in einem der Nachbarorte. Du wolltest das Auto mitbringen, wenn Du her kommst – Ausflüge wie meiner am Samstag hätten in unserer Welt seit bald zwei Jahren Normalität sein sollen. Aber das kam so nie. Ich bin mit dem Auto in die Stadt gefahren, in der ich in der Psychosomatik war (okay, das hat jetzt ein bisschen etwas vom Psychiatrie – Gelände; Du weißt wie emotional geladen der Ort für uns beide war), bin dort spazieren gegangen, habe auf einer Mauer im Park das erste Eis des Jahres gegessen und habe die zwischen den Wolken durchblitzende Sonn genossen. Und weißt Du – dann saß ich so auf der Mauer und habe mir gedacht: „Wie verdammt geil kann das Leben sein? Und wie konnte ich das vergessen?“
Es hat so viel gefehlt, all die zwei Jahre. So viel mehr, als nur Du – auch wenn das alles mit Dir zu tun hatte. Wenn mit Deinem Tod das Leben und mein Zeitgefühl stehen geblieben sind, dann hat auch das Leben gefehlt. Ich wusste es nur nicht. Ich habe es nicht gespürt. Ich habe gemerkt, dass etwas fehlt, aber ich wusste nicht was. Das ist einfach unter gegangen hinter der offensichtlichen Katastrophe.

Ich würde Dir gern das Auto zeigen – ein bisschen stolz bin ich nämlich schon darauf, dass ich ganz alleine zu so einem hübschen Auto gekommen bin. Ich würde gerne, dass Du Dich auf den Beifahrersitz setzt und wir zusammen ein bisschen Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit feiern, die dieses Auto mit sich bringt.
Die Erstzulassung des Autos ist übrigens ein paar Monate nachdem Du gestorben bist datiert. Kleiner Stich ins Herz am Rand. Wie schnell sich die Zeit dreht…

Es sind noch ein paar andere Dinge passiert, von denen ich Dir abseits der Zuschauer erzählen möchte. Insgesamt ist es der Weg zurück ins Leben. Vielleicht. Ein Fuß nach dem anderen. Ganz, ganz langsam.
Und weißt Du – ich glaube, das ist das Härteste, was ich in all den knapp zwei Jahren seitdem Du gestorben bist, gemacht habe. Denn Du weißt nie, wie Du morgens aufstehst. Eher im Licht, oder eher im Schatten. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen Fallen, Aufstehen und Tanzen.
Scheint am Morgen die Sonne nicht nur vom Himmel, sondern auch ins Herz oder ist das Kissen morgens nass, wenn Du den Kopf das erste Mal hebst und merkst, dass Dein Kopf auch dröhnt? Denn ja, jeder Schritt ins Leben ist ein Schritt weg von unserem gemeinsamen Wir. Es ist ein Zugestehen an die Realität, dass das was ich mir am Meisten wünschen würde, nicht mehr passieren wird. Die Frage, ob alles was jetzt kommt, nicht nur eine Alternative ist. Die Frage, ob das nicht immer noch Verrat ist, was ich hier betreibe. Habe ich das Recht weiter zu leben, wenn es für uns zusammen keine Zukunft gab, ich Dich nicht hier im Leben halten konnte? Ich weiß bis heute keine Antwort auf die Frage. Es ist die Einsicht, dass ich nicht mehr der Mensch sein kann, der ich mal war, weil Dein Tod so viel in mir erschüttert und verändert hat. Ein Sein, das ich mir so mühsam aufgebaut hatte.
Und dann lasse ich mich ein bisschen treiben durch die Tage. Genieße still die guten Momente, ehe die Schuldgefühle sie wieder mit sich tragen. 


Ich arbeite auf der Intensiv. Und im Moment wird da viel gestorben. Der Oberarzt sagt, das komme jetzt nicht so häufig vor, dass man quasi über ein Wochenende ein Viertel der Station ins Jenseits verliert, aber es kommt vor.
Und weißt Du, dann frage ich mich: Wie viel wiegt ein Leben? In Anbetracht dessen, dass Sterben Tagesordnung zu sein scheint.
Wahrscheinlich hat man als Ärztin auf der Intensiv eine verzerrte Wahrnehmung, aber gefühlt gibt es nur noch Tod und Sterben auf dieser Welt. Und dann höre ich Kommentare wie: „Für den Patienten war es ein schicksalhafter Verlauf, aber wir können viel lernen aus dem Fall.“ Und ja, ich verstehe den Punkt. Aber ist es nicht makaber, dass manche Menschen und deren Familie so viel leiden müssen, damit andere Tode die vielleicht ähnlich verlaufen wären, verhindert werden können? Gestern hatte ich ein Schreiben von der Kriminalpolizei in der Hand. „In der Leichensache“ stand dort geschrieben. Leichensache. Das hört sich an, als würde jegliche Würde nach dem Sterben verschwinden. Und dann habe ich an Dich gedacht und mich gefragt, ob es so einen Zettel nach Deinem Tod auch gab. Muss es eigentlich, denn die Kriminalpolizei muss da gewesen sein. Du bist doch keine Sache. Und dann musste ich mich kurz sammeln um nicht sofort in Tränen auszubrechen, sondern erst, als ich daheim war.

Und dann habe ich überlegt, ob man das über uns auch sagen könnte. Ob man auch sagen könnte: „Es war ein schicksalhafter Verlauf und die Mondkind kann daraus lernen.“ Vielleicht vertraut die Mondkind dann das nächste Mal ihrem Bauchgefühl. Es war so dumm von mir. Ich wusste, dass im Frühling statistisch die meisten Suizide passieren. Es hat mich gestört, dass Deine Stimmung innerhalb von Tagen eine 180 – Grad – Wende hingelegt hat. Und doch war ich so froh, Dich nach Monaten, in denen ich gefühlt nur gegen Wände geredet habe, wieder glücklicher zu erleben. Ja, irgendetwas in mir war skeptisch. Aber ich wollte das nicht hinterfragen, nachdem die letzten Monate für uns Beide so schwer gewesen waren. Da hattest Du Deine Entscheidung wohl schon längst getroffen und ich – ich war so blind. Ich hoffe, dass ich nie wieder in eine solche Situation komme, aber ja, ich würde daraus lernen.

Heute vor zwei Jahren… - wir wussten nicht, dass es dieses Wir das wir hatten nur noch 13 Tage geben würde. 13 Tage, die ich noch Zeit hatte, um uns zu retten. Wir wussten noch nicht, dass wir uns nicht mehr sehen würden, wenngleich ich nochmal in der Nähe war. Ich wusste nicht, dass ich die Welt hätte bewegen müssen, um zu verhindern, dass unsere beiden Leben auf verschiedene Weisen untergehen. Ich wusste nicht, dass so kurz vor dem Ziel alles fallen würde und ich kurz vor der härtesten Zeit meines bisherigen Lebens stand.

Und während eine Hirnhälfte heute bei Dir ist, muss die andere zur Intensiv – Königin werden. Heute steht meine erste Tracheotomie auf dem Programm, ein Shaldon – Katheter und eine Lumbalpunktion. Manchmal wünschte ich, es gäbe mehr Zeit für Stille. Ich werde mich freuen, wenn ich das heute irgendwie hinkriege, ohne dass wer stirbt und ohne, dass ich für absolut inkompetent erklärt werde. Und einen Brief muss ich noch fertig schreiben für einen Patienten, der dort schon lag, bevor meine Intensiv – Karriere angefangen hat. 20 Seiten hat er schon…
Ich werde mich darauf freuen, heute Abend hoffentlich ein paar Momente für mich und mit Dir zu haben. Und so manches Mal hoffe ich immer noch darauf, dass irgendwann mal noch jemand daran denkt, was da im Hintergrund läuft. Ein einfaches "Mondkind ich denk an Dich" würde schon reichen.

Es sind noch 13 Tage.
Ich weiß noch nicht, wie ich das überleben soll. Ich weiß auch noch nicht, wo ich sein werde. In diesen Tagen.
Du fehlst hier. Immer noch so sehr. Manchmal kann ich Deine Hand fast noch auf meiner Schulter fühlen. Und glaub mir, ich würde immer noch alles geben, um die Dinge zu ändern. Alles. Denn nichts ist wichtiger als Menschen um sich herum zu haben, die die Welt bedeuten.

Ganz ganz viel Liebe ins Universum. Ich hoffe Du bist okay, wo immer Du bist.
Ich bin heute irgendwie nicht so okay. Aber ich bin auch müde. Von den Diensten und dem Schlafmangel, von den Monatstagen, von dem, was in meinem Kopf los ist.

Mondkind

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