Verletzlichkeit
„Die Zukunft und die Liebe haben mir bis dahin nie
Angst gemacht.
Seit Dein Tod meinen Lebensweg kreuzte, hatte ich
nicht nur mit einem Mal Angst vor dem Sterben, sondern genauso Angst vor dem
Leben und der Liebe.“
(Aus Stephanie Mauer – Suizid und diejenigen, die
zurückbleiben) --> Leseempfehlung ;)
Donnerstag.
Aus dem Dienst auf den Donnerstag wurden – weil es
morgens wieder eskaliert ist in der Notaufnahme – eher 27 Stunden Dienst. Und
danach bin ich noch in die Nachbarstadt gefahren. Ein bisschen wahnwitzig, aber
ich habe diesen anderen Menschen so vermisst.
Und irgendwie war es dann das übliche Drama zwischen
uns.
„Wir sollten uns erst wieder sehen, wenn wir eine
Entscheidung getroffen haben.“
„Ist das Dein Ernst jetzt?“
„Ja.“
Ein Gehen aus dieser Wohnung, das mir wieder das
Herz zerrissen hat. Und ich frage mich, wie er es aushält, so hart zu sein.
Auf so ein Drama war ich nicht vorbereitet. Definitiv nicht. Bei dem Freund damals war das einfach. Wir haben uns kennen gelernt und nie wieder so richtig los gelassen. Es ist nicht so, dass es keine Krisen und Meinungsverschiedenheiten bei uns gegeben hätte und ich habe auch so manche Nächte geweint, weil ich Angst um diese Beziehung hatte. Aber der Anfang war sehr harmonisch und das ist die einzige Vergleichsmöglichkeit, die in meinem Kopf bislang existierte.
Ich bin fix und fertig vom Tag.
Freitag hat es noch eine Chefarztvisite gegeben und ein bisschen Aufregung, weil ich nächsten Monat wieder auf eine andere Station muss – es weiß allerdings keiner so genau, ob das ab dem ersten des Monats oder ab der nächsten Woche gilt. Ich hoffe sehr, dass es ab Mittwoch gilt, sonst hätte ich Freitag Spätdienst und… – ich bin wieder in der Situation, meine Freitagabende zu brauchen.
Ich habe mich gerade eine halbe Stunde hingelegt und
merke, dass ich doch nicht schlafen kann. Ein Blick auf das Handy verrät, dass
er angerufen hat. Erstaunlich inkonsequent dieser Mensch. Ich rufe ihn zurück.
„Ich verstehe diesen Stress nicht. Du kannst nicht
alles von mir innerhalb von einer Woche erwarten. Wenn das der Anspruch ist,
dann funktioniert es wirklich nicht. Obwohl ich grundsätzlich der Meinung bin,
dass es klappen kann. Grundsätzlich bin ich da recht optimistisch. Unsere
Herzen haben gesprochen, bevor wir Worte dafür finden konnten. Das fand ich
schon beeindruckend.“
Es ist glaube ich das erste Gespräch, in dem nicht
nur ich rede, sondern auch er. Wir sind eben beide keine 21 mehr – so wie ich, als
ich den Freund kennen gelernt habe. Wir sind Beide durch die verschiedensten
Ereignisse im Leben geprägt worden, wir haben beide unsere Erfahrungen mit
Beziehungen gemacht, haben schmerzhafte Enden erlebt, die ihre Narben auf der
Seele hinterlassen haben.
Wir haben Beide Angst, sind Beide unsicher, wissen
beide nicht, ob das Herz den Schmerz nochmal aushalten würde. Jeder hat da so
seine Themen. Und bei uns beiden sind es eher Grundsatzthemen, die mit der
Beziehung an sich nicht viel zu tun haben.
Wir müssen wahrscheinlich viel miteinander reden,
versuchen den anderen zu verstehen. Und wir dürfen vermutlich keine Angst
haben, den anderen mit dem Inneren unserer Seele zu belasten.
Es ist die erste Nacht seit Langem, in der ich mal wieder halbwegs durchschlafe. Das hier ist irgendwie anstrengend.
Samstag.
Ich bringe die Wohnung auf Vordermann, kümmere mich
mal um alle Chaos – Ecken, die mich zwar gestört haben, aber für die ich keine
Motivation hatte, sie zu beseitigen. Im Keller finde ich tatsächlich noch eine
Decke und ein Kopfkissen in einer Kiste, in die ich bestimmt seit 2018 nicht
mehr geschaut habe. Ich schmeiße beides erstmal in die Wäsche.
Sollten wir uns mal bei mir treffen wollen – ich bin
vorbereitet. Letztens hatte er die Idee, er könnte mich ja mal von der Arbeit
abholen, was ich einen sehr schönen Gedanken finde.
Am Nachmittag schreibt die Mutter des verstorbenen
Freundes. Wie es mir geht, will sie wissen.
Ich weiß nicht, was ich ihr schreiben soll. Ich weiß
es einfach nicht. Immerhin war sie es, die im letzten Oktober zu mir sagte, dass
ich noch so jung bin und dass es okay ist, wenn ich nochmal wen kennen lerne.
Und nachdem sie das gesagt hat, haben wir beide geweint. Weil wir wussten, dass
es vielleicht passieren wird. Und, dass es auf gewisse Art auch schlimm ist. Ich
werde ihn nicht vergessen und meine Liebe für ihn wird immer bleiben – und trotzdem
könnte es keinen größeren Schritt in die Zukunft geben, als eine neuen Menschen
wieder so nah an mein Herz zu lassen.
Es gibt auch die Momente, in denen die jetzige
Situation mich innerlich zerreißt. Manchmal tut es allein sehr weh zu
realisieren, dass ich mich nach seinem Tod wieder verlieben konnte. Denn egal
was aus dieser Beziehung jetzt wird, aber das ist jetzt eine Tatsache – und manchmal
eine sehr Erschreckende. Auch knapp zwei Jahre nach seinem Tod habe ich für
mich noch kein Konzept gefunden, was Schuld, Verantwortung, Abschied und Schicksal
angeht – und somit auch für mich noch für mich keinen sicheren Weg gefunden,
auf dem ich weiter gehen kann. Ich bin höchstgradig verunsichert, ob ich das
was hier gerade passiert, wirklich vor mir vertreten kann. Und ob es okay ist alles
zu nehmen, was ich von dem Freund gelernt habe und in ein neues Wir zu
integrieren, von dem er nicht mehr Teil ist. Der aktuell lebende Freund
überfordert mich sowieso etwas - aber
mit meinem 21 – jährigen Ich wäre das mit uns definitiv gescheitert.
Es ist die Frage, ob man diesem unglaublichen
Schmerz über den Verlust etwas Neues, anderes gegenüber stellen darf. Liebe sei
ein kindliches Bedürfnis, habe ich letztens gelernt (und fand das ziemlich
unromantisch). Aber ja – ich sehne mich danach, mein Leben, mein Herz, Meine
Seele, mein Ich mit wem zu teilen und auch zu spüren, dass ein Anderer es mit
mir teilt. Ich vermisse ein gegenseitiges Aneinander anlehnen, ein an die Hand
nehmen und sich durchs Leben begleiten. Und ist das okay, dass es jetzt ist,
wie es ist, wenn die alten Pläne nicht mehr funktionieren können?
Und trotzdem bleibt die unglaubliche Angst, dass
diesem neuen Menschen in meinem Leben etwas zustößt. Die letzten zwei Jahre
waren die Hölle und ich ertrage das in dieser Form definitiv nicht nochmal.
Sonntag.
Kurzfristiger Plan. Ich trabe hoch auf den Campus.
Nachdem die potentielle Bezugsperson letztens ein
paar Fragen gestellt hat, konnte er sich auch eins und eins zusammen zählen. Er
hat Dienst heute.
„Es ist erstaunlich, wie schnell Ihr über diese
Honeymoon – Phase weg hinweg seid. Normalerweise stellt man sich in diesem
Stadium der Beziehung nicht die Fragen, die Ihr Euch stellt. Da macht man
einfach.“
„Ich glaube, wir hätten beide am liebsten Garantien
bis ans Ende unseres Lebens. Und das funktioniert einfach nicht.“
„Ihr müsst nur aufpassen, dass diese Angst nicht
dazu führt, dass Ihr es gar nicht erst versucht. Aber Mondkind, grundsätzlich
freue ich mich sehr für Dich, dass Du das jetzt auch endlich mal wieder erleben
darfst. Wenn ich Dich jetzt mit Dezember vergleiche – damals wusste ich echt
nicht, ob wir das nochmal hinkriegen mit Dir.“ Und nach einer Pause. „Und noch
etwas Mondkind – darüber möchtest Du jetzt bestimmt nicht nachdenken, aber Du
brauchst einen neuen Therapeuten. Eine Beziehung löst nicht alle Probleme und
wenn das mit Euch nicht funktionieren sollte – dann möchte ich Dich nicht
erleben.“ „Ich auch nicht“, entgegne ich leise. „Ich kann so unglaublich viel
verlieren. Und das macht mir eben auch viel Angst.“
„Vermisst Du ihn eigentlich Mondkind?“, fragt er. „Jede
Minute, die ich ihn nicht sehe oder höre“, antworte ich. „Hört sich total kitschig an,
ist aber echt so. Und dann sitze ich manchmal abends alleine in meiner Wohnung
und frage mich, wie ich es zwei Jahre am Stück geschafft habe, nur im Vermissen
zu leben. Nur in Momenten zu leben von denen klar war, dass sie einfach nicht
wiederholbar waren, weil das Gegenüber nun mal tot war. Und jetzt, wo ich es
aus einer anderen Perspektive sehe finde ich das Wunder, dass ich das überlebt
habe, noch viel größer.“
Wenn man die Kehrseite des Lebens in der ersten
Beziehung erlebt hat, dann macht es das schwierig. Dann ist es nicht nur die
Angst, ob es für eine Beziehung reicht. Und die Angst, um diesen anderen Menschen. Es
ist auch die Angst vor mir selbst. Ich habe nie darüber nachgedacht, was passiert,
wenn einer von uns stirbt. Und selbst wenn ich das getan hätte, hätte ich mir nicht
vorstellen können, was das bedeutet.
Den Tod gesehen zu haben heißt auch, die eigenen
Grenzen gesehen zu haben. Ich dachte mehr als ein Mal, dass ich das einfach
nicht schaffe. Dass es langfristig unmöglich ist, das zu überleben. Dass dieser
Schmerz in meinem Herzen und in meiner Seele mir die Luft zum Atmen nehmen.
Und einen neuen Menschen so nah an mein Herz zu
lassen, ist nicht nur die rosarote Brille, mit der Beziehungen gern anfangen. Da ist gleichzeitig ein Bewusstsein,
dass ich Verletzbarkeit zulasse, obwohl Wunden noch nicht mal zu Narben
geworden sind. Das Paradoxon ist nur, dass in erster Linie die Liebe das Herz
heilt. Die Liebe für das Leben, die Liebe für mich selbst und vielleicht eben
auch die Liebe für einen anderen Menschen.
Mondkind
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