Reisetagebuch #4 Ausland und Erinnerungen

Heute war frühes Aufstehen gesagt.
Und dann ging es in eine Stadt im Nachbarland.
Ich glaube, so viele Menschen habe ich seit Beginn der Pandemie nicht mehr auf einem Haufen gesehen. Gefühlt noch mehr Fahrräder als Menschen und eigentlich stand man überall immer im Weg herum.
Meine Schwester hat die Stadtführung übernommen und uns bestimmt sieben Mal über dieselbe Kirmes gelotst.
Reizüberflutung am laufenden Band. Und dazu… - ich habe das immer mal wieder, wenn ich den Freund sehr doll vermisse. Plötzlich sehe ich ihn in so vielen Menschen die mir begegnen und für einen kurzen Augenblick ist mein Kopf dann sehr irritiert. Das kann eine Art zu gehen sein, das können Hände von wildfremden Menschen sein, die mich an ihn erinnern, Gesichtszüge, manchmal nur ein T – shirt von dem ich weiß, dass er es auch getragen hätte, weil es zu ihm passt. Wenn das den ganzen Tag so durchläuft, kann das anstrengend werden; dann ist es eine permanente Sehnsucht, ein permanentes Fehlen und das Bedürfnis wildfremden Menschen um den Hals zu fallen.
Großstädte und ich waren noch nie die besten Freunde. Selbst die Studienstadt war mir tagsüber manchmal zu viel – obwohl es besser wurde, als ich mich auskannte.

Zwischendurch waren wir im Park, haben ein paar Enten und deren Küken beobachtet, da wurde es besser.

Es sind ein paar schöne Fotos entstanden, ich habe eine neue Stadt kennen gelernt, habe mal wieder Auslandsluft geschnuppert – jetzt fragt mich nicht, wann ich das letzte Mal im Ausland war. Es war schon gut, aber Wiederholungsbedarf gibt es jetzt auch nicht.

 







Und zwischendurch ist der Kopf natürlich noch zu Hochtouren aufgelaufen ( - kann man eigentlich auch irgendwie mal nicht denken?)

Ich glaube, meine Therapeutin aus der Studienstadt hat irgendwelche Wurzeln in dem Land, in dem wir heute waren. Ich habe sie nie genau gefragt, sie hätte es mir wahrscheinlich auch nicht verraten, aber es ließ sich vermuten aus dem, was sie doch mal erzählt hat.
Sie hat sich super viel Mühe für mich gegeben und hat mich so manches Mal mit eng getakteten Terminen alle zwei Tage vor der Klinik gerettet – aber es war eine extrem distanzierte Beziehung. Und trotzdem war sie für mich ganz lange Zeit etwas wie ein „zu – Hause – Ersatz“. Alles, was man normalerweise mit seinen Eltern besprochen hätte, haben wir zusammen gemacht. Sie hat alles miterlebt, vom ersten Staatsexamen an bis zum Ende des Studiums, die Panik vor Examen zwei und drei, hat den Auszug von zu Hause miterlebt, den großen Knall, den das nach sich gezogen hat, hat mich das erste Mal in die Klinik gesteckt (da konnte sie auch streng sein…), miterlebt wie sich ganz vorsichtig und dann immer konkreter die Idee vom Ort in der Ferne geformt hat. Sie hat für mich dieses „elterliche Nest“ ein bisschen nachempfunden, das ich de facto nicht hatte und so manches Mal kam: „Eigentlich sollten in der Situation Ihre Eltern für Sie da sein, aber da die dazu ja nicht in der Lage sind, machen wir das eben hier in der Ambulanz.“
Und am Ende hat sie mich ziehen lassen. Es war damals meine bewusste Entscheidung, dass ich gehe, obwohl ich die Ambulanz im Rücken hatte. Aber ich konnte mein Leben nicht um eine Institution herum aufbauen. Es gab zwischendurch immer mal wieder ihrerseits die Aussage, dass sie sich beruflich verändert und mich deshalb abgeben muss. Am Ende hat sie es nie gemacht; auch weil es dann terminlich schwieriger wurde, als ich schon halb in der Ferne war. Aber es war trotz allem eine vertikale Beziehung und vertikale Beziehungen können – ohne dass man irgendetwas tun kann – immer allein aus strukturellen Gründen einfach kaputt gehen.
Der Freund hat das damals anders gesehen und ermahnt, dass die psychiatrische Versorgung auf dem Land vermutlich erschreckend lückenhaft sein wird – was sich dann auch bewahrheitet hat, als ich sie brauchte.

Und dennoch hatte ich heute so einen Moment, in dem ich das ganz doll vermisst habe. Über die Jahre wusste ich genau, wie sich ihre Schritte angehört haben, wenn sie den Gang durch die Ambulanz ins Wartezimmer gelaufen kam und mich mitgenommen hat. Ich konnte aus ihrer Stimme die Nuancen hören, wie sie gleich reagieren wird auf das, was ich sage. Ich konnte mich extrem auf sie verlassen. Sie wusste, ich nutze sie nicht aus, aber wenn ich sage, dass die Hütte brennt, dann tut sie das im Allgemeinen. Da gab es auch keine Diskussion mehr drüber, dann durfte ich dort in der Regel  innerhalb von 24 Stunden aufschlagen und sie hat mit mir versucht zu retten, was zu retten war.

Dafür, dass ich mit so ziemlich Nichts zu Hause ausgezogen bin, habe ich es ganz gut gemacht, befinde ich manchmal. Ich habe mir ein Netz aufgebaut, das mich so sehr getragen hat in Unizeiten. Ich hatte die feste Anbindung an die Ambulanz, die eben der Familienersatz war. Ich hatte den Freund, mit dem ich fast jeden Abend gesprochen habe, wir haben uns fast jedes Wochenende gesehen und – als er dann neben der Uni gearbeitet hat – oft zum Mittagessen getroffen. Und daneben hatte ich irgendwann – als ich zu Hause raus war – eine Hand voll Freunde an der Uni.
Ich glaube was immer so schwer war, war das Gefühl, dass das alles fragil ist. Bis auf den Freund konnte wenig davon bleiben. Nach der Uni sind – da der NC dort damals recht niedrig war für Medizin – viele Kommilitonen zurück in Richtung Heimat gegangen. Das Konzept der Ambulanz war auch beendet – ich habe mich damals in der Lage gesehen ohne psychiatrische und psychotherapeutische Unterstützung zurecht zu kommen. Irgendwann muss man auch mal fliegen lernen, dachte ich mir so.
Der Freund würde natürlich bleiben und mitkommen. Die Brücke zwischen meinen Welten sein.
Aber dass ich Angst hatte vor dem was so nach dem Studium passiert, erscheint doch irgendwie nachvollziehbar.

Was dann passiert ist, wissen wir alle. Manchmal glaube ich, das Projekt war mutig und groß gedacht, aber vielleicht hätte ich bleiben sollen, wo ich war.

Ich war letztes Jahr mal in der Studienstadt und habe in dem Zusammenhang auch die alte Therapeutin besucht. Darauf lässt sie sich tatsächlich noch ein, wenn ich das nicht übertreibe – also so ein bis zwei Mal jährlich, maximal. Vielleicht soll ich ihr die Tage nochmal schreiben. Vielleicht lässt sich etwas planen. Für Juli oder so. Ich glaube, da gibt es eine kleine Lücke im Urlaubsplan. Vielleicht mit zwei Urlaubstagen.
Es war schon bewegend im letzten Herbst. Sie ist eine der ganz, ganz wenigen Menschen, die die Mondkind von früher noch kennen. Und das ist unglaublich schön, solchen Menschen zu begegnen.

Und als dann alles zusammen brach: Wie hätte man eine Mondkind da noch charakterisieren sollen? Davor gab es ein typisches Mondkind – Leben. Studentin, immer unterwegs mit dem Fahrrad, ein bisschen schüchtern, eine Beziehung zum Freund, die irgendetwas zwischen Seelenverwandtschaft und einer klassischen Beziehung war. Immer ein bisschen instabil mit viel zu vielen Gedanken im Kopf, ein bisschen psychiatrisch neben der Kappe mit unglaublich vielen Ängsten und Zweifeln. Und gleichzeitig mutig an den vermeintlich richtigen Stellen. Diejenige, die mit ein bisschen Vertrauen in das Leben immer das Beste aus allem gemacht hat, die leise rebelliert hat, sobald sie sich von den Eltern losgelöst hatte. Leise, weil das Leben da war, aber verborgen.

Was blieb danach noch übrig? Nach diesen verhängnisvollen Tagen vor zwei Jahren? War ich tatsächlich an den richtigen Stellen mutig gewesen, oder war das einfach nur dumm und fahrlässig gewesen? Es war eine Zeit, in der es ohnehin viele Umbrüche gab. Aus der Studentin wurde eine Assistenzärztin, die Strukturen auf dem Land hätten ein Leben mit dem Fahrrad nicht mehr ewig erlaubt. Die Zeit, die den Einstieg in den Job zeichnet, ist wohl für Niemanden leicht und wenn so ziemlich die einzige Säule, die stehen geblieben wäre unter großem Krach zusammen fällt…?

Heute stehe ich so dazwischen. Letzten Endes konnte ich zumindest in Teilen nicht wählen die alten Zeiten zu beenden. Ehrlich gesagt – ich vermisse sie sehr. So schwer sie auch manchmal war. Und ich glaube dieser Abschiedsschmerz wird nochmal besonders deutlich, wenn man sich irgendwann – so wie ich aktuell – bewusst macht, dass es nur den Weg nach vorne gibt. Ich bin dabei. Aber die Mondkind von heute ist eine andere. Die ihre Beziehungen bewusster gestaltet, viel mehr Angst um die Menschen um sie herum hat, die die Menschen auch danach auswählen muss wie viel Verständnis es für das gibt, das sie erlebt hat und dass sie immer noch sehr beschäftigt. Die Mondkind von heute ist nicht mehr so kopflos, braucht viele Sicherheiten.

Was heute läuft, ist irgendwie anders als früher und ich weiß, dass die Mondkind von früher skeptisch die Augenbraue hoch gezogen hätte über das, was hier heute läuft. Ich traue mich noch nicht so wirklich, das Licht zu sehen. Obwohl – wenn man ehrlich ist – ich schon morgen heim fahre um Freitag einen Menschen zu sehen, der mir sehr ans Herz gewachsen ist. Und die Mondkind von heute mit der Arbeit auf der Intensivstation (die ja so semi läuft, aber immerhin bin ich bisher noch nicht zerbrochen daran) sich etwas zutraut, von dem sie damals nicht geglaubt hätte, das jemals machen zu können.

Was Landesgrenzen auslösen können – unglaublich.
Ich glaube, es ist okay zu sagen, ich vermisse mein altes Leben. Sehr. Ich vermisse mich selbst. Auch sehr. Ich wusste noch nie so wenig, wer ich eigentlich bin, wie nach dieser Katastrophe. Und ich wäre gern nochmal die Mondkind, die neben dem Freund nach einer langen Reise im Café sitzen könnte und ein bisschen müde ihr Müsli löffeln würde. Ich habe mich nirgendwo so sicher gefühlt, wie in seiner Nähe, war nirgendwo so echt. Ich werde unser letztes Café – Date nicht vergessen.  Es war kalt, wir saßen draußen und doch war es irgendwie besonders. Vielleicht, weil es das nicht mehr oft gab, seitdem ich in der Ferne war und wir für eine begrenzte Zeit endgültig eine Fernbeziehung hatten. Vielleicht, weil doch etwas in der Luft lag – ich weiß es nicht. Ich vermisse die Unbeschwertheit, das in dem Moment sein, das stille Genießen, das grenzenlose Vertrauen, wenn er da war. Eine Mondkind, die auf Augenhöhe geliebt hat, die sich sicher war, dass dieser Mensch bleibt, die sogar schon so weit gedacht hat, dass er ja schon ein paar Jahre älter ist und doch theoretisch mal eher von der Welt gehen müsste. In vielen Jahren.
Ich vermisse es, so etwas nochmal erleben zu können – es muss wachsen; über Jahre.

Aber ich möchte versuchen, der Zukunft eine Chance zu geben.
Eine andere Wahl habe ich ohnehin nicht.

Ich habe Angst davor, aber ich möchte heraus finden, wer die Mondkind der Zukunft sein kann. Ob diese Mondkind irgendwann nochmal so lieben, vertrauen, sich fallen lassen kann. Ob diese Mondkind nochmal ein Nest finden kann, in dem sie sich sicher fühlt. Ob es nochmal ein „typisch Mondkind“ geben kann.

Erstmal muss ich jetzt gleich packen und dann geht es morgen zurück gen Heimat. Die Klimaanlage ist nicht so der Brüller, wahrscheinlich wird es ein bisschen unangenehm, aber drückt mir die Daumen, dass ich heil im Ort in der Ferne ankomme.

 

Mondkind

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