Ein paar Überlegungen zum Thema Suizidalität

Samstagmorgen.
Die Nacht war kurz.
Bevor ich anfange zu packen, setze ich mich mit einem Kaffee auf den Wintergarten. Noch kurz die Ruhe genießen, bevor es dann losgeht.

Die Dinge ändern sich.
Nicht nur im Außen. Sondern auch im Innen.

Heute vor zwei Jahren.
Wurde der Freund am späten Nachmittag aus der Psychiatrie entlassen.
Wäre ich die halbe Nacht wach geblieben, hätte ich ihn noch besuchen können. Damals habe ich entschieden – ich möchte nicht mitten in der Nacht in der Studienstadt auf dem Hauptbahnhof festhängen, weil die Stadt in der er damals gelebt hat von meinem Elternhaus doch ein Stück weg war. Wäre er einen Tag eher entlassen worden, hätte uns das vielleicht gerettet. Hätte ich damals schon das Auto gehabt, wahrscheinlich auch.
Damals habe ich entschieden: Ich muss nur fünf Tage arbeiten, dann habe ich wieder Urlaub. Wir sehen uns dann. In fünf Tagen. Nachdem wir uns wegen Coroni wochenlang nicht gesehen hatten – was sind da schon fünf weitere Tage?
Dass diese Entscheidung zu einem solchen Verhängnis wird, habe ich nicht gewusst.

Und während ich mich so sehr danach sehne, dass mich jemand einfach in den Arm nimmt, dass ich ein fremdes Herz spüren kann, das mehr im Takt schlägt als meins, wird mir etwas klar. Ich habe es schon in der letzten Therapiestunde angesprochen.
Früher wären Tage wie diese fast hundertprozentig der Weg in eine suizidale Krise gewesen. Weil es sich nicht aushaltbar anfühlt. Der Schmerz, dass die Realität ist, wie sie ist. Dass ich lebe, während er tot ist. Dass ich ihn nicht halten konnte. Und ja, niemand ist in letzter Instanz für wen anders verantwortlich. Aber wenn es um Leben und Tod geht, ist die Abgrenzung davon schwer.

Ich glaube Suizidalität war lange Zeit die Antwort auf Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut. Das alles durfte nicht gelebt werden – ich habe es so oft nicht mal spüren und benennen können. Das Einzige was erlaubt war, war der Weg geradeaus. Entscheidungen nicht danach, was sich richtig anfühlt, sondern was sinnvoll erscheint. Und in den meisten Fällen nicht mal selbst getroffen. Insbesondere nach der Entscheidung zum Medizinstudium ging das damals los. Ich wollte es einfach nicht, habe damals allerdings auch keine Möglichkeiten für mich gesehen, gegen die Vorgaben zu rebellieren.
Das Umfeld konnte durchweg nicht verstehen, wie man – wo die Möglichkeit doch besteht – nicht Medizin studieren will. Es schien fernab jeder Lebensrealität zu sein, dass mein Anspruch an das Leben ein gewisses Quäntchen Glück ist und ein Gefühl hat mir gesagt, dass man das auch ohne ein Medizinstudium erreichen kann. Ich war traurig um all die Hobbies, die ich aufgeben musste, weil es nicht mehr in dieses Leben gepasst hat, das ausschließlich dem Erfolg und der Außenwirkung gewidmet war. Was war aus dem Schreiben, aus dem Reiten, aus dem Keyboard spielen geworden? Und was war mit lauen Sommerabenden, die man lieber draußen, als über den Büchern verbracht hätte? Und das heißt nicht, dass ich nicht begriffen habe, dass man nicht auch etwas im Leben tun muss. Aber der Anspruch bei uns war ja hundert Prozent Tun und Null Prozent leben. Und jedes Stück Leben – wie das mit dem Freund – hatte ungesehen statt zu finden.

Und weil ich nicht wusste, wie man all das auflösen kann, habe ich mir die letzte Freiheit genommen, die es gab. Man konnte mich ja zu Vielem zwingen, aber nicht zum Leben an sich. Und dennoch war ich glaube ich immer ein lebenshungriger Mensch. Was dann regelmäßig zu all den Krisensitzungen im Helfersystem geführt hat, die wir so gut kennen. Ich wollte nie ernsthaft sterben – wie die meisten suizidalen Menschen übrigens – ich wusste nur nicht, wie ich leben sollte.

Der Tod des Freundes hat da viel verändert. Es ist natürlich nicht – wie man das vor bald zwei Jahren in der Psychiatrie erwartet hat – die Wunderheilung von dem Thema. Aber es ist schon der Gedanke: Ich würde gerne – wenn ich diese Welt verlasse – sagen, dass es sich gelohnt hat zu leben, dass ich viel mitgenommen und erlebt habe und im Gesamten glücklich war. Und das kann ich bei Weitem noch nicht sagen.
Und natürlich muss ich heute noch den Freund auf meinen Schultern tragen – das ist eine gewisse Verpflichtung, die sich auf absehbare Zeit nicht abschütteln lässt. Er selbst kann seine Spuren nicht mehr in der Welt hinterlassen – also muss ich es für ihn tun.

Es ist seltener geworden, das mit der Suizidalität. Viel seltener – die Gedanken sind zwar noch oft da, aber die Impulse zur Umsetzung sind weniger. Das letzte Mal richtig schlimm war es im Januar, das war noch in der Klinik und das war alles extrem unangenehm. Ich möchte das nicht mehr erleben.

Und dennoch gibt es all diese Gefühle noch und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Aktuell kanalisiert sich das sehr auf eine körperliche Ebene. Magenschmerzen sind seit Wochen fast an der Tagesordnung, die Stunden, die ich in den Nächsten schlafe kann man – wenn überhaupt – an einer Hand abzählen und oft tut mein Körper nachts so weh, dass ich nicht mehr weiß, wie ich liegen soll.

Und dennoch möchte ich bereit sein, die alten „Lebensweisheiten“ ein bisschen über Board zu schmeißen. Leben ist eben mehr, als nur im Kittel über die Flure zu rennen. Mehr als der Versuch eine Schuldbegleichung. Und die Katastrophen – die verhindert man sowieso nicht. Es ist einfach nicht menschlich, immer nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein zu wollen und alles richtig zu machen. 


 

Und ja, das ist alles nicht so einfach. Auf der Intensiv bin ich gerade dabei, komplett zu versagen. Ich muss lernen, dass auch eine Mondkind Grenzen hat – wie jeder Mensch – und dass die jetzt erreicht sind. Nur weil die potentielle Bezugsperson der Meinung war, dass aus der Mondkind eine gute Intensivmedizinerin wird, wenn man sie nur dazu zwingt heißt das nicht, dass das funktioniert. Mein Oberarzt meinte gestern zu mir, dass es wohl besser wäre, ich würde im ersten Dienst mit Notaufnahme und Stroke Unit bleiben, statt in die Intensivdienste einzusteigen. Den Intensivdiensten wird häufig nachgesagt, dass sie ruhiger sind, man rennt dort im Allgemeinen nicht die ganze Nacht – aber wenn die Hütte brennt, dann brennt sie richtig. Das tut sie in der Notaufnahme von Zeit zu Zeit auch, aber irgendwie doch anders. Ich und die Intensivmedizin – wir werden halt keine Freunde und da ist es egal, ob die Intensivdienste laut der Kollegen „einfach“ sind oder nicht – für mich ist es nicht machbar. Und das heißt nicht, dass ich die Intensivmedizin nicht irgendwie faszinierend finde, aber ich habe zu viel Angst. Ich war schon immer eine kleine Katastrophendenkerin – da läuft mein Gehirn täglich zu Höchstformen auf.
Nicht jede Ärztin muss eine gute Intensivmedizin sein und schon mal gar nicht in der Neurologie – das Fach hat auch oft mehr mit Denken, als mit Handeln zu tun. Aber klar, dadurch bin ich jetzt damit konfrontiert auf der Intensivstation im Rahmen meiner Pflichtrotation geduldet zu sein, aber eben als inkompetent betrachtet zu werden, was für einen Menschen, der seinen Wert über die Leistung definiert, der worst case ist.

Ich würde nicht sagen, dass ich den Tod des Freundes gebraucht hätte. Ich möchte nicht sagen, dass ich daran irgendetwas gut finde. Und ich hätte darauf verzichten können, dass er mich als Menschen hat wachsen lassen. Und doch sieht die Welt anders aus, wenn man  sich traut sich wie so ein Maulwurf aus der Erde hervor zu buddeln und die Nase mal wieder vorsichtig in den Wind des Lebens zu halten.
Es bringt nichts, gegen die Mauern im Kopf zu rebellieren und sich dadurch selbst zu zerbrechen. Wenn wir rebellieren, dann sollten wir das nach außen tun, laut und deutlich. Und dann gehört dazu Mut. Und dann gehört dazu, die alten Glaubenssätze über Board zu schmeißen ohne zu wissen, was gerade halten kann. Es schien sicher zu sein, alles daran zu setzen, alles richtig zu machen. Immer die Beste zu sein. Als könnte das vor Katastrophen schützen. Aber es schützt nicht. Katastrophen passieren, Versagen passiert, Fehler passieren. Und so schwer, wie all das auch ist, aber man wächst daran. Es formt und bringt eine gewisse Demut gegenüber dem Leben.
Und bevor man sich in die Arbeit stürzt, soll man sich vielleicht Gedanken machen. Was will ich vom Leben? Brauche ich einen Doktortitel um glücklich zu sein? Muss ich Diejenige sein, die immer einspringt, wenn die anderen nicht können, die immer alles erledigt, was liegen geblieben ist? Ist das wirklich das Tun, aus dem ich meinen Selbstwert ziehen möchte? Denn der Preis ist halt unglaublich hoch.
Oder schalte ich einen Gang runter? Sage ich mir, dass es mir persönlich doch eigentlich egal ist, ob ich fünf oder sieben Jahre für meinen Facharzt brauche. Und wenn ich mich in meinem Psychiatriejahr entscheide, dass ein Fachwechsel doch nicht schlecht wäre und ich damit Ausbildungsjahre verlieren würde – wäre das schlimm, nur weil das Außen es schlimm findet? Bedeutet Leben nicht auch mal pünktlich nach Hause zu gehen, die Arbeit liegen zu lassen und stattdessen Zeit mit den Menschen zu verbringen, die mir wichtig sind? Und heißt das im Endeffekt auch mal zu sagen: Ich weiß, dass das jetzt alles unvernünftig ist, aber ich sehne mich so sehr wieder nach einer Beziehung in meinem Leben, also scheiß mal auf die Umstände und wir versuchen das jetzt einfach. Und wenn’s schief geht, dann gehört das auch zum Leben. Und dann kann ich es bereuen, aber ich habe es wenigstens versucht.
Arbeiten kann man immer. Doktorarbeiten schreiben auch. Nur Leben mit den Menschen, die die Welt bedeuten – das kann man nicht immer. Und morgen kann es zu spät sein.

Ich hätte das gerne nicht so brutal gelernt.
Aber ich möchte lernen, anders zu leben. Ja, dann gibt es auch Weniger Anerkennung von Außen. Aber brauche ich die?

Das macht die nächsten Tage jetzt nicht einfacher. Weil ich keine Erfahrung damit habe, wie man konstruktiv mit schwierigen Situationen umgeht. Trotz jahrelanger Therapie. Weil ich das vermutlich auch nie lernen wollte. Weil da ganz viel Trotz und ganz viel Wut war und ich das nicht eingesehen haben mit dem Schmerz alleine zu bleiben, den ich mir nicht mal angetan habe.
Und ich merke, dass etwas durchkommt, das selten da war in dem Ausmaß. Angst. So eine diffuse Panik vor allem Möglichen. Vielleicht am meisten davor, es emotional nicht zu schaffen. Einfach zu zerbrechen.

Aber vielleicht darf ich vertrauen: Dahinten wird es schon wieder hell. Auch, wenn ich es noch nicht sehen kann. Und bis dahin einfach weiter atmen, ein Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt und nie weiter als bis zum nächsten Schritt denken.

So… - wer fährt jetzt viel zu spät los in Richtung Norden?
Die Mondkind.
Aber ich habe Urlaub.
Es ist okay. Und das musste jetzt heute Morgen noch gesagt werden.

Drückt mir die Daumen, dass es klappt. Laut google maps fährt man fünf Stunden, die Mondkind fährt bestimmt ein paar Stunden länger. Ich habe Angst nicht rechtzeitig eine Tankstelle zu finden, dass das Auto nicht anspringt zwischendurch, dass ich zu müde werde zwischendurch, dass irgendetwas passiert und ich irgendwo zwischen Hier und Dort fest hänge. Und das Konto weint schon jetzt über die Benzinpreise… - langsam muss ich meine Kröten auf dem Konto mal beisammen halten.
Ihr hört von mir.

Mondkind

Kommentare

  1. “ Bedeutet Leben nicht auch mal pünktlich nach Hause zu gehen, die Arbeit liegen zu lassen und stattdessen Zeit mit den Menschen zu verbringen, die mir wichtig sind? Und heißt das im Endeffekt auch mal zu sagen: Ich weiß, dass das jetzt alles unvernünftig ist, aber ich sehne mich so sehr wieder nach einer Beziehung in meinem Leben, also scheiß mal auf die Umstände und wir versuchen das jetzt einfach. Und wenn’s schief geht, dann gehört das auch zum Leben. Und dann kann ich es bereuen, aber ich habe es wenigstens versucht.
    Arbeiten kann man immer. Doktorarbeiten schreiben auch. Nur Leben mit den Menschen, die die Welt bedeuten – das kann man nicht immer. Und morgen kann es zu spät sein.”
    Liebe Mondkind, ohne dir zu nahe treten zu wollen, traue ich mich die Kommentarfunktion zu nutzen, um dir zu sagen, wie sehr ich deinen Gedanken hier zustimme. Morgen kann es zu spät sein. Und dann bereut man es für immer, dass man das richtige Moment verpasst hat. Ich würde es einfach probieren ohne abzuwarten. Alles andere ergibt sich von selbst.
    Als Ärtinnen haben wir und werden wir weiterhin mehr als genug leisten. Aber nebenbei müssen wir lernen, auch zu leben. Und glücklich zu sein.
    Eine bisher stumme Leserin.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Hallo,
      Danke für das liebe Kommentar - ich freue mich immer, wenn sich Menschen trauen die Kommentarfunktion zu benutzten.
      Danke auch für die Bestärkung meiner Gedanken. Du glaubst nicht, was ich alles bereue, was der Freund und ich nicht mehr geschafft haben. Reisen, die wir gemeinsam machen wollten, Konzerte, die wir besuchen wollten, Abende dam Fluss, die ich zu Gunsten des Lernens abgesagt habe. Ich bin nie dazu gekommen ihm die Stadt zu zeigen, in der ich geboren wurde - all solche Dinge.

      Es fühlt sich halt nur ein bisschen schlimm an, dass ich aus dieser Geschichte mit ihm auch irgendwie wachse und manche Fehler hoffentlich nicht mehr mache. Ich wünschte, dafür hätte nicht ein Mensch sterben müssen. Es fühlt sich so falsch an, Dinge das nächste Mal vielleicht besser zu machen, die wir beide irgendwie nicht besser machen konnten.

      Und vielleicht hast Du Recht und man man gerade auch in diesem Job auf sich achten. Und sich Grenzen eingestehen. Sonst geht man so leicht daran kaputt.

      Es wird noch ein weiter Weg, das alles nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen. Aber ich hoffe, ich kann das schaffen.

      Liebe Grüße
      Mondkind

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen