Reisetagebuch #3 Pausentag und Scherben

Pausentag.
Heute.
Bevor es morgen nochmal ins Nachbarland geht.
Ein bisschen die Stadt erkunden. Eine Runde durch den Hafen. Steuererklärung. Auto Volltanken für die Rückreise übermorgen und vorher die Spritpreise im Auge haben.
Die Sonne scheint.
Die Jacke, die ich drüber geschmissen habe, ist schon fast zu viel.
Verfrühter Sommerurlaub. Oder so.

Fotos vom Hafen.
Oder vom Meer.
Sind die Fotos, die geteilt werden.
„Das sieht ja direkt nach Erholung aus. Ganz spontan? Freut mich sehr, genieß die Zeit.“
Solche Kommentare kommen dann. Logischerweise.
Und ich genieße es auch streckenweise. Zumindest für meine Verhältnisse, wo ja in den letzten Monaten kaum etwas mit Genießen war.

Hafen der Stadt, in der meine Schwester lebt. Fein hat sie es hier.

 

Und dennoch.
Auch das Leuchten zwischendurch kann nicht weg schieben, was da war. Die andere Seite der Medaille dieser Tage.
Es sind diese Tage, in denen ich diesen Mantel des Alltags so sehr spüre. In denen ich mich Lachen höre, während das Herz wieder splittert, bevor die Glasscherben fest geklebt waren.
Weil das kaum noch einer versteht nach zwei Jahren.

Vor zwei Jahren. Ich hatte Dienst. Die Notaufnahme war den ganzen Tag voll und obwohl ich eigentlich nur Stationsdienst hatte, war ich durchgehend mit der Kollegin vorne beschäftigt. Es war keine Zeit, um viel nachzudenken zwischendurch. Um nachzuforschen, ob die Nachricht, die ich am Morgen vor dem Gehen schnell geschickt hatte, durchgestellt wurde.
Vielleicht wollte es ein Teil von mir auch nicht wissen.
Und am Abend, so gegen 19 Uhr hat mich die Tatsache erschlagen, dass sie nicht durchgestellt war.

Zwei Jahre später.
Ich schlucke die Tränen runter, wenn ich sie aufsteigen fühle.
Schaue einmal in die Sonne und sage meiner Schwester, dass sie mich geblendet hat, deshalb sind meine Augen ein bisschen nass.

Still und leise ist es ein Fallen durch die Tage. Viele Erinnerungen. Und irgendwie bleibt ein Gefühl von: Ist es das jetzt wirklich? Kommt da nicht noch etwas? Werden sie einfach so vergehen, diese Tage, ohne dass ich die Zeit anhalten kann? Wird es nicht vielleicht doch noch einen Moment geben, in dem jemand einfach die Seele einer Mondkind festhält, die vor Schmerz schreien würde, wenn sie könnte? Weil das zwischen all den guten Momenten die stille Sehnsucht bleibt. Gesehen werden mit dem Schmerz. Ein bisschen Trost finden. Zwei Hände spüren, die dieses Herz aus Glas vorsichtig in beide Hände nehmen, es kurz in ihrer Mitte tragen. Still den Schmerz mittragen, ihm kurz Raum geben, mir einen Moment zum Anlehnen geben.
Ich wünsche mir ein Ohr. Das war doch der Wunsche für die Tage. Geht nicht ganz auf, der Plan. War aber vorher zu befürchten.

Zwei Jahre später bleibt die Angst.
Was ist, wenn ich darunter zerbreche? Was ist, wenn die Fassade, die ich so mühsam aufstelle hinter der Sonne der freien Tage nicht hält? Wer fängt mich dann auf? Kann ich das wem zumuten?
Und was ist, wenn ich nicht darunter zerbreche? Und wäre ich ihm – statt am Strand herum zu sitzen – nicht wenigstens ein paar Tränen schuldig? Wie kann ich weiter leben und atmen, glückliche Momente sammeln und in mir speichern, wenn vor zwei Jahren die Welt stehen geblieben ist? Wenn ich so viel versäumt habe in diesen Tagen?
Ist es erlaubt, etwas wie Glück zu erleben in Anbetracht der Situation?

Es sind noch ein paar Tage bis zum 22. Mai.
Vor zwei Jahren um die Zeit war er irgendwo. Irgendwo zwischen dem Diesseits und dem Jenseits.
Ich weiß nicht, wann sich seine Seele aufgemacht hat. Ich weiß es einfach nicht. Wann in seinem Kopf kurz nach dem Sterben das Feuerwerk der Neuronen gezündet hat. Ein letzter Moment des Glücks, wie ein pseudowissenschaftlicher Artikel mal festgehalten hat.
Diese Ungewissheit ist vielleicht mit eines der schlimmsten Dinge in dieser Geschichte. Niemand weiß, wann, wo und wie genau. Das weiß nur er. Und er hat alles mitgenommen.

Mondkind

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