Reisetagebuch #2 Hallo Meer

Zwei Jahre ist es her. 730 Mal ist die Sonne seitdem auf und wieder unter gegangen. Es war das letzte Mal, dass ich Deine Stimme in meinem Ohr gehört habe. Wusste, dass Du da bist. Damals war das noch das Selbstverständlichste der Welt, seit Jahren. Mein Leben ohne Dich – das gab es nicht mal in meiner Vorstellung. Niemals hätte ich geglaubt, dass wenige Stunden später alles anders ist. Dass eine lange Zeit des Wartens und den Hoffens begann. Ich habe mal gesagt, ich war nie richtig wütend, aber ich glaube ganz am Anfang war ich schon ab und an wütend. Und habe mich – allerdings leise – gefragt, wie Du mir das antun konntest einfach so zu verschwinden, wo ich doch gerade mit einer neuen Station und den ersten „ersten Diensten“ konfrontiert war und für so etwas keine Nerven hatte. Es war so leer ohne Dich. Du hast so eine große Lücke in mein Leben gerissen und plötzlich wusste ich gar nicht mehr, was ich machen sollte, wenn ich abends nach Hause kam und wir nicht telefonieren konnten. Ich habe jeden Tag diese Nummer gewählt. Mehrmals. Wochenlang. Als könnte plötzlich doch wieder jemand am anderen Ende der Leitung sein. Als könnten Wunder wirklich passieren.

Der Kopf hat heute alles parallel abgespielt. Immer mal wieder ist der Blick auf die Armbanduhr gewandert. Wann genau war unser letztes Telefonat? Wann haben wir uns verabschiedet? Wann habe ich gesagt: „Versprich mir, dass Du Dir nichts antust und wir hören uns morgen?“ Wann habe ich auf den roten Hörer gedrückt? Wann wusste das Universum, dass ich dachte, ich gehe vom Park heim, während ich die ersten Schritte in ein Leben gemacht habe, das nie wieder dasselbe werden würde?

Und weißt Du – ich habe heute mal so drüber nachgedacht: Es gibt im Dienst immer wieder so viele Dinge, die irgendwie am Ende doch noch „gut“ ausgehen. Die Lyse, die nicht optimal war, aber dem Patienten geht es trotzdem hinterher besser und er hat nicht eingeblutet. Die Verschlechterung auf Station, die ich letztens in den letzten 20 Minuten meines Dienstes hatte, wo ein Anfang 50 – jähriger plötzlich mit einer Halbseitenlähmung im Bett lag, ich sämtliche Diagnostik aufgefahren habe, die wir haben, um nach der Diagnostik festzustellen, dass sich die Symptomatik im Sinn einer TIA wieder zurück gebildet hat. Sonst hätte der Chef getobt – auch wenn ich daran wenig ändern kann.
Und manchmal denke ich – ich verbrauche so viel Schicksal im Dienst, dass es für das private Umfeld einfach nicht mehr reicht.
Wie konnte diese Katastrophe passieren? Warum wir? Es gibt so viele psychisch erkrankte Menschen und ja – ein Teil davon nimmt sich das Leben – aber warum musstest Du das sein? Warum der wichtigste und wertvollste Mensch, den ich hatte? Warum dieser eine Mensch, der nie hätte gehen dürfen? Ich wollte in all den Wochen des Wartens nicht darüber nachdenken was mit mir passiert, wenn ich eines Tages mit der Nachricht konfrontiert werde. Ich wusste es. Tief im Inneren wusste ich es und es brauchte mir niemand mehr zu sagen, was mit Dir passiert war. Aber ich wusste auch, dass ich das Leben danach erstmal nicht mehr weiter leben kann. Und das kam dann ja auch so – erstmal endete das danach alles in der Psychiatrie.

Und Du hast nicht nur Dich selbst mitgenommen – Du hast so viele Erinnerungen aus meinem Leben mitgenommen, für die ich gern noch ein Band zwischen zwei Menschen hätte. Situationen, über die man auch so lange Zeit später noch reden kann. Und wenn ich sagen würde: „Hey, weißt Du noch…?“, dann würdest Du sagen: „Ja klar weiß ich das noch Mondkind.“ Es gibt so viel Erleben, das ich nicht mehr geteilt weiß.
Es wird lange dauern. Bis eine Beziehung irgendwann wieder Vertrauen heißen kann. Ich wusste es gab nichts, das ich nicht hätte teilen können. Für das ich mich hätte schämen müssen.

Dennoch - alles was ich mir für Dich wünsche ist, dass Du jetzt irgendwo sicher sein kannst. Dass es Dir besser geht, dass Du das Leben, das Du jetzt irgendwo lebst, als lebenswert betrachtest. Und manchmal wünsche ich mir, dass Du ab und an zu mir schaust, wenn ich das gar nicht merke, einmal kurz vor Dich hin lächelst und denkst: „Mach Du mal und werd glücklich dabei. Und irgendwann – irgendwann werden wir all das teilen können, das wir nicht mehr gemeinsam erlebt haben.“

Es tut mir leid, dass ich es damals einfach nicht gesehen habe. Mein Bauchgefühl war schlecht, aber ich habe vertraut. In Dich, weil Du mir versprochen hast, Dir nichts anzutun. Ins Leben, ins Schicksal. Weil ich mir das, was dann passiert ist, nicht vorstellen konnte. Und was man sich nicht vorstellen kann, das kann auch nicht passieren. Dachte ich so. Mit dieser Vorstellung habe ich mein halbes Leben lang die Angst in Schach gehalten.

Du fehlst hier. So unglaublich sehr. 


 

***
Es war schwer heute.
Ich kann nicht überall traurig sein.
Manchmal ist es eine ganz leise, nach innen gekehrte Traurigkeit.
Die gern ihren Weg nach draußen gefunden hätte – aber das war vorher klar, dass das nicht funktioniert.
Lächeln, während der Herz gefühlt schon wieder stirbt.

Ich hatte heute die Strickjacke an, die ich getragen habe, als ich ihn kennen gelernt habe. Egal was passiert, die wird niemals aus meinem Kleiderschrank verschwinden.

Wir sind ans Meer gefahren heute. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich wieder die Füße ins Salzwasser halten konnte. Es muss wirklich Jahre her sein, dass ich das letzte Mal Salz und Sand in der Luft gerochen habe. Ich war ewig nicht mehr abseits von Orten, die ich kannte. Entweder im Ort in der Ferne oder in der Studienstadt.
Und während ich da so stand, den Blick über das Meer habe schweifen lassen, viele Gedanken an die Zeit vor zwei Jahren im Kopf hatte, ist mir auch klar geworden, dass ich dankbar bin. Dafür, dass so etwas wieder möglich ist. Zumindest temporär. Länger als ein Jahr kam ich die letzten Jahre ohne Klinik nicht zurecht.
Meine Schwester hat mir heute erklärt, dass ich ihr, als sie im Dezember da war, ein Brillenetui und ein Herz aus Holz geschenkt habe, das sie in ihre Küche gehängt habe. Ich habe daran absolut keine Erinnerungen mehr. Ausflüge wie der heutige waren in dieser Zeit undenkbar. Und ich merke schon, dass ich nicht so belastbar bin – als wir heute im Park auf einer Bank saßen, bin ich einfach eingeschlafen.

Aber ich kann am Meer stehen, dem Wellenrauschen zuhören, die Luft riechen und es reicht wieder.
Danach sind wir ein bisschen durchs Dorf spaziert, haben uns die Schiffe angeschaut, die im Hafen standen und ein Eis gegessen. Und dann saßen wir lange auf dem Deich, haben dem Meer zugeschaut, wie langsam Ebbe wurde, den Möwen, die kreischend ihre Kreise über dem Wasser gezogen haben und den Surfern beim Bezwingen der Wellen.
Es war schön. Sofern etwas in diesen Tagen schön sein kann. 



 

Zwischendurch hat seine Mutter geschrieben.
Wir alle, die ihn kannten, werden langsam unruhig.
Ab heute Abend beginnen die Tage, in denen keiner weiß, ob er noch gelebt hat. Fünf Tage irgendwo zwischen hier und dem Universum. In denen man nie weiß, ob man noch etwas hätte retten können.
Manchmal kann ich kaum glauben, dass das wirklich mein Leben war. Dass ich dieses Drama wirklich erleben musste.

Wir schließen heute mal mit einem Songtext von Christina Grimmie:
All my friends say It wasn't true love
I shouldn't waste my tears on you but
They don't know that I
Only miss you when I breathe

(Christina Grimmie – I only miss you when I breathe)

Worte können nicht ausdrücken, wie sehr dieser Mensch in meinem Leben fehlt. Auch, wenn ich sonst oft Worte habe – dafür reichen sie nicht.

Atmen. Einfach weiter atmen.

Mondkind 


 

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