Von einem Wochenend - Intermezzo
Hey mein lieber Freund,
zwei Jahre. Sagt der Obduktionsbericht.
Zwei Jahre bist Du heute schon tot. Ich wusste damals
noch lange von nichts. Ich wollte es auch nicht wissen. Ich wusste, wenn das
wirklich die Wahrheit wird, dann wird das Leben, so wie ich es kannte,
aufhören. Hat es auch.
Zum Wochenende: Ich weiß, es war ein beschissenes
Timing. Es tut mir leid. Ist alles, was ich dazu sagen kann. Und noch was: Es
ist ein Wunder. Wenn sich zwei Menschen treffen, die einander im Leben haben
wollen. Wenn das nicht einseitig ist. Wenn es wirklich beide wollen.
Wir haben lange um Kompromisse gerungen, aber wir
waren ein Stückweit dieses Wunder.
Ich glaube, damals konnte ich das noch gar nicht so
sehr schätzen. Das sieht heute anders aus.
Vielleicht war es das Wunder meines Lebens mit Dir.
Ich hoffe, Du bist okay, wo immer Du auch bist. Ich hoffe, Du bist irgendwo und irgendwie glücklich geworden.
***
Samstag.
Ich komme gerade vom Einkaufen und schmeiße das
Handy auf den Beifahrersitz, als ich einen entgangen Anruf sehe. Ich habe mich
schon gefragt, wie schnell wir jetzt etwas voneinander hören werden. Er löst
dieses Problem dann mal. „Morgen“, höre ich wenig später in der Leitung. „Ich
dachte, Du schläfst vielleicht noch.“
Samstagmittag bin ich unterwegs in die Nachbarstadt.
Irgendwie etwas ungeplant. Ich habe mich noch gefragt, ob ich eine Zahnbürste
mit rein schmeißen soll, habe mich dann aber dagegen entschieden. Es ist das
erste Mal, dass wir uns privat treffen, wir wollen das doch sicher langsam
angehen lassen.
Ich fahre in eine Ecke der Stadt, die ich noch nie
gesehen habe, parke das Auto vor dem Haus und wenig später stehen wir uns in
der Wohnung ein bisschen unbeholfen gegenüber. Das ist gar nicht so einfach,
plötzlich auf einer komplett anderen Ebene miteinander zu reden.
Wir sitzen auf dem Sofa. Er nimmt meine Hand und
legt sie auf seine Brust. Weit schneller, als der normale Ruhepuls, stelle ich
fest. Das hier scheint irgendwie echt zu sein. Es sind nicht nur die Worte
zwischen uns, es sind auch die Reaktionen unserer Körper. Auch mein Herz
schlägt so kräftig, dass es fast ein bisschen unangenehm von innen gegen die
Rippen drückt und man am Handgelenk noch den Herzschlag sehen kann.
Es ist das erste Mal seitdem der Freund tot ist,
dass ich wieder Arme auf meinem Rücken um meinen Oberkörper herum geschlungen
fühle. Dass ich ein fremdes Herz so lange fühlen darf, während es schlägt. Dass
wer durch meine Haare streicht. Und wenig später spüre ich seine Lippen auf
meinen Lippen. 29 Jahre hat das gedauert. Ich bin kaum zwei Stunden da, als ich
mit ihm weiter bin, als ich es mit dem Freund je war. Das wird mir mit einem
kurzen Stechen im Herzen klar. Er legt ein wahnsinniges Tempo vor und ich komme
kaum hinterher. Und vor allen Dingen habe ich keine Ahnung, wie das alles
funktioniert und wie ich mich verhalten soll.
Und dennoch genieße ich die Nähe. Und frage mich,
jetzt wo ich es mal wieder fühlen darf, wie ich es so lange ohne diese Nähe
aushalten konnte.
Am Abend gehen wir eine Runde spazieren, essen noch
etwas und dann führen wir ein ernsthaftes Gespräch über uns. Er glaubt nicht,
dass das etwas wird mit uns. Es gibt für ihn bestimmte Bedingungen und wenn ich
die nicht erfüllen kann – womit ich mich ein bisschen schwer tue – dann geht es
für ihn nicht. Dann reicht es auch nicht, dass man sich liebt. Ich sehe das
Glänzen in seinen Augen und ich weiß, dass er das ernst meint.
Es ist kurz vor Mitternacht. Mein Magen hat
mittlerweile gefühlt die Größe einer Weintraube und schmerzt so sehr, dass ich
eigentlich nicht mehr weiß, wie ich noch sitzen soll. Die Muskeln unter mir
zittern vor Müdigkeit. Ich habe keine Ahnung, wie ich das Auto und mich jetzt
noch heil über die kurvigen Landstraßen heim bringen soll.
„Du kannst bei mir schlafen“, bietet er an. „Ich
habe nicht mal ne Zahnbürste dabei“, entgegne ich und verfluche mein Ich von
der Früh. Das macht nichts, er hat eine. Also liege ich wenige Minuten später
mit geputzten Zähnen und mit einem Shirt und einer Hose von ihm bekleidet auf
seinem Sofa. Verrückt. Richtig verrückt. So etwas gibt es in einem Mondkind –
Leben eigentlich nicht. Das T – shirt riecht nach ihm und ich kann nicht
anders, als das gut finden. Ich schaue in den Sternenhimmel. Sternenhimmel
haben eine neue Bedeutung bekommen seit zwei Jahren. Ich hätte eigentlich
gedacht, dass es länger als einen Tag dauert, bis wir zu der Idee kommen, ob es
passt oder nicht. Und ich hätte nicht gedacht, dass bestimmte Themen so schnell
auf den Tisch kommen und er da so absolut kompromisslos ist. Und nicht mal
meinen Vorschlag mir noch ein bisschen Zeit zu geben sonderlich ernst nimmt.
Ich beobachte die halbe Nacht eine Spinne, die sich
vor dem Fenster ab- und wieder aufseilt. Schlafen kann ich irgendwie nicht. Alexa Feser läuft hoch und runter.
Sonntag.
Zerzauste Haare. Kaffee und Toast.
Ein Gespräch über den verstorbenen Freund am
Frühstückstisch. Das scheint für ihn okay zu sein. Für mich ist das immer noch
beeindruckend. Mal nicht gleich ein blödes Kommentar zu bekommen, sondern ein
ehrliches Schweigen und nach ausreichender Überlegung ein Eingehen auf das, was
ich gesagt habe. „Sorry, ich soll nicht mehr so viel darüber reden“, sage ich
irgendwann. „Du solltest viel mehr darüber reden“, sagt er. Es ist so schön,
dass er nicht nur die oberflächliche Mondkind sieht, sondern auch das, was tief
darunter ist.
Ich frage mich, was er jetzt so vor hat. Ob er heute Abend noch einen Termin wahrnehmen kann, fragt er mich. „Na klar“, sage ich. Das heißt wohl, ich darf noch ein bisschen bleiben.
Fast den ganzen Tag trennt nur der Stoff unserer T –
shirts uns voneinander. Wir müssen gar nicht viel reden. Es reicht, wenn wir
uns spüren.
Bis wir irgendwann wieder auf das Thema vom Abend
zuvor kommen. „Ich glaube das ist eine Tatsache und kein Problem“, sagt er
irgendwann. „Und wenn es wirklich eine Tatsache ist, dann heißt es Abschied
voneinander zu nehmen.“ Ich versuche noch eine Weile die Tränen zu
unterdrücken, aber mein Herz zerspringt vor Schmerz gefühlt fast. Wir liegen
uns in den Armen und wissen eigentlich, dass das hier alles keine Zukunft hat.
Dass es ein kleines Intermezzo ist. Vielleicht, um nochmal nachzuspüren. Wie
war das Leben früher, als es noch den Freund in meinem Leben gab. Wie viel
Lebensqualität ein „wir“ gegeben hat. Aber irgendwann spüre ich das Wasser in
den Augenwinkeln. Er wischt die Tränen vorsichtig weg, während ich krampfhaft
versuche zu verhindern, dass mein Körper weitere produziert.
Ich komme mir vor, wie in einem schlechten Roman.
Wahrscheinlich ist das hier eines der zwischenmenschlich schönsten und
schwersten Wochenenden gleichzeitig, seitdem der Freund gestorben ist. Ich
weiß, ich darf diesen Menschen, in dessen Armen ich vor ein paar Stunden dann
doch mal erschöpft eingeschlafen bin, nicht festhalten. Wenn er nicht mit mir zurechtkommt,
dann ist es so. Ich habe mal irgendwo geschrieben, dass ich mir gewünscht
hätte, der Freund und ich hätten sich getrennt. Das wäre auch schlimm gewesen,
aber dann hätte jeder von uns beiden irgendwo weiter gelebt und weiter geatmet,
wäre auf seine Weise glücklich geworden und hätte auch das mit der
Partnerschaft nochmal versuchen können mit Jemandem, mit dem es vielleicht
besser passt. Es ist ein schwacher Trost, aber vielleicht alles was bleibt. Ich
liebe ihn wirklich und er mich glaube ich auch und ich möchte nicht, dass er unglücklich mit mir wird. Es
soll nicht noch jemand sterben, weil Mondkind das alles nicht gebacken bekommt. Und dennoch wird es mir
das Herz brechen. Aber so richtig. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass
das mit ihm irgendwie alles intensiver ist, als mit dem Freund und dann fühle
ich mich schuldig.
Und vielleicht ist es legitim, es nochmal versucht
zu haben, aber vielleicht soll man das auch einfach mal als Signal nehmen, dass
die Mondkind doch allein bleiben soll. Das was uns hier das Genick bricht, war
schon mit dem Freund lange Diskussionsgegenstand. Und spätestens, wenn er die
Wohnung hier sieht, wird es wohl auch Diskussionsbedarf geben. Vielleicht kann
ein Mondkindleben irgendwie funktionieren. Nur mit dem Leben an sich – das scheint
schwierig. Und langsam kann mein Herz nicht mehr. All die guten Momente haben
immer eine Kehrseite. Und der Schmerz war immer immens. Es tut mir auch leid
für ihn, weil er auch leiden wird, glaube ich. Ich hätte das glaube ich nie
verantworten sollen.
Ich wusste, dass das passieren kann. Das haben wir uns immer wieder gesagt. Das was wir da machen, ist ein Risiko. Und trotzdem habe ich gehofft, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben können. Ich habe viel dafür aufgegeben. Besonders habe ich Sicherheiten hergegeben. Was ich sonst sehr selten mache. Ich gebe einen Menschen her, bei dem das Thema mit dem Freund sicher aufgehoben war. Das hätte man noch eine Weile so haben können.
Irgendwann essen wir noch etwas. Und dann muss er
los. Eine letzte Umarmung.
„Du hast Hausaufgaben. Meld Dich, wenn Du sie
gemacht hast“, sagt er. „Eine schöne Arbeitswoche…“ Mh… - das klingt nicht so,
als sollten wir in den nächsten Tagen etwas voneinander hören.
Wenig später ziehe auch ich die Wohnungstür hinter
mir zu. Ich sehe kaum die Straße auf dem Heimweg. Es tut einfach weh. Ich
vermisse ihn jetzt schon. Was wäre das für ein Leben, denke ich mir auf dem
Heimweg. Wenn das Normalität werden würde. Dass ich Sonntagabend aus der
Nachbarstadt zurück in meine eigene Wohnung fahre.
Da hat mein Herz die Rechnung mal ganz alleine
gemacht. Ohne in letzter Instanz den Kopf zu fragen. Und hat sich… -
einigermaßen auf die Nase gelegt, würde ich sagen.
„Mondkind, Du hast Dich so verändert in letzter Zeit“, war ein häufig gehörtes Kommentar in der letzten Zeit. Es ist noch nicht ganz vorbei. Ich mag die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben, dass wir das irgendwie hinkriegen. Aber wahrscheinlich wird es den Weg zurück geben.
In der vorläufig letzten Therapiestunde kam die Frage auf, ob Menschen von Erinnerungen leben können. „Für einen gewissen Zeitraum bestimmt“, habe ich entgegnet. Manche Menschen werden nicht so ganz gefragt. Manche Menschen müssen das. Ich hoffe, ich habe jeden Moment der letzten zwei Tage in mir aufgesogen und gespeichert. Und ich hoffe, ich komme eine Weile damit zurecht.
„Mondkind wie war’s?“, fragt der einzige Mensch, dem
ich erzählt habe, was hier Sache ist. „Ich erzähle es Dir irgendwann“, schreibe
ich zurück.
Ich habe schon ne Menge verspielt, muss ich sagen. Da hing sehr viel dran.
Es war glaube ich die turbulenteste Urlaubswoche meines Lebens, die hier zu Ende geht. Ich fühle mich gar nicht bereit für morgen. Aber meistens kommt man schneller auf dem Boden der Tatsachen an, als man das so denkt. Spätestens, wenn Montagmorgen die Hütte auf der Intensivstation brennt.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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