Halt(losigkeit)

Ich würde sagen, ich habe Angst.

Morgen vor zwei Jahren. Fing es an. Weniger als eine Woche, bevor er mutmaßlich gestorben ist. Ich bin das letzte Mal unter den alten Bedingungen in die Studienstadt gefahren. Wir haben gehofft, dass wir uns sehen, aber sicher war es nicht, weil er immer noch in der Psychiatrie war und wir nicht wussten, wann er entlassen wird. Ich hätte zu dem Zeitpunkt nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber Corona und das Besuchsverbot ist uns zum Verhängnis geworden. Ich wäre sicher hin gefahren, wenn ich gekonnt hätte.

Gestern ist der Urlaubsantrag für nächste Woche durchgegangen, der Oberarzt hat den Zettel nach einem kritischen Blick auf den Personalplan unterschrieben.

Da ich jetzt ein Auto habe, könnte ich nächste Woche in den Norden fahren und meine Schwester besuchen. Ob so eine Mammuttour mit knapp zwei Wochen Fahrpraxis eine gute Idee ist, ist mal so die Frage. Aber ich denke, ich würde es auf mich nehmen. Und ich weiß, dass meine Schwester sich das wünscht.

Jetzt ist aber die Überlegung: Was brauche ich in diesen Tagen, in denen sich die Versäumnisse, die Katastrophe wiederholen?
Und wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es ein Heizungsmoment. Jemand, der einfach nur neben mir sitzt, keine Worte mehr erwartet, weil alles, was es zu sagen gibt, schon mal irgendwann gesprochen wurde. Einfach ein Mitaushalten.

Ich habe Angst. Wieder so verletzt und angreifbar zu sein.
Es gibt Momente, in denen das Mäntelchen von meinen Schultern fällt.
In denen ich nichts mehr in eine zwischenmenschliche Beziehung geben kann, in denen die Tage nichts als Überleben sind, weil da nichts mehr ist, das ich noch teilen könnte. Momente, in denen ich vollkommen darauf angewiesen bin, dass irgendwer mir seine Hand reicht, an der ich mich kurz festhalten kann, ohne dass ich irgendetwas zurückgeben kann. 
Und jedes Mal ist es, als würde ich dabei irgendetwas zerstören. Als sei dieser Blick auf eine zerbrechliche – und in diesen Tagen auf eine ein Stückweit zerbrochene Mondkind – zu erschreckend, um zu bleiben. Insbesondere die potentielle Bezugsperson war so oft viel zu gut darin, der Zerbrechlichkeit gezwungenermaßen ihren Panzer zurück zu geben.

Da sind so viele Scham- und Schuldgefühle, dass ich mich darunter ganz erdrückt fühle. Immer noch die alten Schleifen. Die Vorwürfe an mich selbst, warum ich ihn nicht hier im Leben halten konnte. Was es über mich und meine Beziehungsfähigkeit aussagt, wenn uns diese Katastrophe passiert ist. Und – so aktuell wie nie davor – ob es unter den Voraussetzungen überhaupt gerechtfertigt sein kann, über eine neue Beziehung nachzudenken. 


 

Und doch habe ich mittlerweile für mich selbst gelernt, dass es nichts nützt vor diesen Tagen, diesen Gefühlen und dem Erleben zu kapitulieren. Egal was passiert ist, ich trage die Verantwortung für mein Weiterleben. Und auch dafür, mir Hilfe zu suchen, wenn ich es alleine nicht schaffe. Wir sollen die Tragödie nicht weiter geben, sondern ein Stoppschild sein. So hart das manchmal auch ist. Ich glaube, das habe ich jetzt gelernt. Vor einem halben Jahr habe ich das noch anders gesehen.

Und manchmal denke ich an Kevin Hines und seine Worte: „It’s okay not to be okay. But it’s not okay not to ask for someone, who backs you up.“
Ich weiß nur noch nicht genau, woher mein Backup kommen soll. Ich habe schon viel Backup von meinem Therapeuten und ich soll das nicht noch mehr ausreizen. Aber sich mit mir am Dienstag vor die Heizung zu setzen und einfach nur daneben sitzen, das kann er jetzt halt nicht machen.

Und doch ist der einzige Weg derjenige in die nächsten Tage. Immer nach vorne, ruhig und gerade, pflegte mal einer meiner Psychiater zu sagen.
Ich versuche es. Ich versuche, mutig zu sein. Auch, wenn mir niemand unterschreiben würde, dass die nächsten Tage viel mit Mut zu tun haben. Aber die Menschen haben es auch alle irgendwie nicht erlebt.

 

Mondkind

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