Nach Norden

11. Mai. 2022. Ein Mittwoch dieses Jahr.
Geburtstag.
Heute vor zwei Jahren. Der Freund war damals der Erste, der morgens gratuliert hat. Wir haben frühs kurz telefoniert, aber es war noch einiges zu erledigen, bis ich aufbrechen würde in die Studienstadt. Wir haben vereinbart, dass wir versuchen in der nächstgrößeren Stadt auf dem Bahnhof nochmal zu telefonieren. Hat auch geklappt. Ich war komplett durchnässt, weil es geschüttet hat wie aus Eimern. Vorletztes Bahnhofstelefonat. Weniger als eine Woche vor der Katastrophe.
Ich würde die Welt bewegen, um diesen Tag nochmal zu erleben - trotz der Nässe bis auf die Unterwäsche und der fünfstündungen Verspätung und am Ende stand ich in der falschen Stadt...

Zwei Jahre später. „Mondkind, komm mal kurz mit auf den zweiten Stock“, werde ich nach der Frühbesprechung von einer Kollegin abgefangen. Ein paar Kollegen haben sich zusammen getan und überraschen mich mit einem kleinen Geschenk und einem Geburtstagsständchen.
Es hat etwas von der Idee, nach all den Jahren in der Ferne anzukommen. Den Anflug von einem Gefühl, nach all den Jahren mal wieder in einer Mitte zu sein. Da sind Menschen, die an mich denken. Und das rührt mich sehr an diesem Morgen.

Ansonsten ist der Tag ein normaler Arbeitstag. Und ich zähle die Tage bis zum Urlaub rückwärts. Langsam ist die Belastung nicht mehr machbar.

12. Mai. Donnerstag.
Frühs muss ich mit dem Auto auf die Arbeit fahren. Der Tag auf der Intensivstation ist anstrengend. Über die Nacht haben wir drei neue Intensivpatienten bekommen, einer wird im Lauf des Tages noch von der Frühreha zu uns verlegt und wenige Minuten vor Feierabend geht der Notfallalarm.
Ich komme zu spät weg, habe aber auf dem Weg in die Nachbarstadt vorsorglich ein paar Minuten Puffer eingeplant, sodass ich doch noch pünktlich auf der Matte stehe.

Gut geht es mir heute nicht. Ich habe hunderttausend Sachen im Kopf, aber es ist schwer, die einigermaßen strukturiert wieder zu geben. Das Offensichtlichste und auch das, zu dem man am Wenigsten sagen kann ist: Ich wünschte, ich hätte die Dinge vor zwei Jahren anders gemacht. Ich wünschte, ich hätte mehr wahrgenommen, was da läuft. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel Vertrauen gehabt. Kein Grundvertrauen in uns und die Welt. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass am Ende niemand den anderen halten kann. Dass die Liebe alleine nicht reicht, wie irgendwann auch mal Theresa Enke formulierte.

Für unsere Verhältnisse sind wir heute schnell durch. Bevor er noch ein bisschen Orga – Kram hat. Und dann sitzen wir dort. Auf dem roten Fußboden, an einem niedrigen Holztisch über Eck und er schiebt mir einen Bogen nach dem anderen unter die Nase. Fragebogen zur Symptomatik, der Hundertste über die Jahre, Schweigepflichtsentbindung, Konsil für den Hausarzt, Anti – Suizid – Vertrag, Info – Material…
Und mir wird in dem Moment klar: Ich bin dieses therapeutische Setting so unglaublich leid. Weil das immer ein emotionales Ausziehen und Verlieren ist. Nichts von dem, was in diesem Rahmen besprochen wird, bleibt. Und doch brauche ich diesen sicheren Rahmen so sehr. Einen Ort, an dem einfach mal alles sein darf, wie es eben ist. Eine Pseudo – Welt, die in der großen Welt draußen einfach nicht existiert.

Ich nehme die Zettel, falte sie einmal und stecke sie in die Handtasche. Dabei fällt das Buch, das ich aus den whatsApps zwischen dem Freund und mir gestaltet habe in meinen Blick. Ich hatte es mal rein geschmissen; wer weiß, wozu es gut ist. Nirgendwo gibt es einen authentischeren Einblick in das Leben kurz vor dem Fall als in diesen Zeilen, die schwarz auf weiß immer bleiben werden. Und das zweite Buch ist ja sehr schmal, weil es nur ein paar Monate wieder gibt.
Und fast nimmt mir allein der Blick auf das Buch hinter dem ich Zettel verstaue, die Luft zum Atmen. Es gibt Momente, da fühlt es sich an, als hätten wir uns doch gestern noch in den Arm genommen.

„Ist noch etwas offen geblieben?“, fragt er. „Nein“, sage ich. Doch, es ist ne Menge offen, aber ich kann nicht heute. Es ist immer blöd, wenn es keine Worte mehr gibt für dieses ganze Chaos. Weil eigentlich schon alles gesagt ist. Und es eigentlich nur wen braucht, der das alles still mit mir aushält.

Und dann reden wir über uns. Ich bin langsam überfordert damit. Mit dem, was es alles in mir auslöst. Und das heißt nicht, dass ich mir wünschte, es wäre anders. Ich glaube ich bräuchte nur bei dem Thema eine therapeutische Begleitung nach allem was war und das kann er nicht sein, weil er mit drin hängt. 

 

Von der Wanderung von letztens...

13. Mai. Freitag.
Der Tag auf der Arbeit ist eine Katastrophe von vorne bis hinten. Allerdings ist das vermutlich auch hauptsächlich meiner Wahrnehmung geschuldet – die anderen finden es nicht stressig. Ich muss mich heute sehr bemühen nicht zwischenzeitlich Tränen in den Augen zu haben. „Mondkind, stell mal den Oxylog ein, wir müssen ins CT mit dem Patienten…“ Tja, hätten wir die Geräteeinweisung nicht nur unterschrieben, sondern tatsächlich auch erhalten könnte ich das vielleicht machen, aber da ich nicht weiß, wie das Ding funktioniert... Irgendwann schaffen die Pflege und ich es gemeinsam zu programmieren und ich hoffe nur, dass es bis nach dem CT zuverlässig Sauerstoff in meinen Patienten befördert.
Das Problem auf der Intensiv ist, dass man bitte alles können soll, aber die wenigsten Sachen erklärt werden. Wenn wirklich mal irgendetwas nicht läuft, habe ich keine Ahnung, was ich machen soll – nicht mal medizinisch, allein organisatorisch. An guten Tagen kann ich das aushalten und mit einer gewissen Hoffnung, dass schon nichts passieren wird die Tage überstehen. An schlechten Tagen funktioniert das nicht.

Außerdem steht heute die Entscheidung an, was ich aus meinem Urlaub mache. Bevor meine Schwester am Nachmittag aufbricht in ihren Dienst muss die Entscheidung getroffen sein. Die Wahrheit ist: Ich weiß, was ich brauche in diesen Tagen, aber es gibt niemanden, der mir helfen kann das umzusetzen. Das Wichtigste wäre, es nicht alleine aushalten zu müssen. Ich weiß, dass mir kein Mensch der Welt meine Gefühle und mein Erleben abnehmen kann, aber zu Zweit ist es immer leichter. Und da müssen keine großen Worte gesprochen werden. Es reicht ein stilles aneinander anlehnen. Vielleicht wäre es auch sinnvoll gewesen in der Studienstadt am Fluss zu sitzen – das ist mir aber tatsächlich zu spät eingefallen.
Ich bin weder hier noch irgendwoanders sicher. Und deswegen fahre ich morgen in den Norden für ein paar Tage. Ob es sinnvoll ist, weiß ich nicht. Ich bin ja ewig keine weiten Strecken mehr gefahren. Mir geht es auch nicht besonders gut. Ihr bekommt einen Reisebericht. Wie immer.

Am späten Nachmittag sortiere ich meine Sachen und gehe heim.
Wie Urlaub fühlt es sich nicht an. Aber das war auch nicht das Ziel der Urlaubswoche. Ziel war, wenigstens irgendwo den Druck raus zu nehmen und wenigstens schon mal nicht das Krankenhaus und die Intensivstation sehen zu müssen, ist schon mal ein Gewinn.

Ich hätte nicht gedacht, dass es auch nach zwei Jahren noch so sehr weh tut. Die letzten drei, vier Tage läuft es hier einfach rückwärts und bergab und es ist so schwer, dafür Worte zu finden. Manchmal wünschte ich, die Menschen könnten nachfühlen, wie sehr das Herz weh tun kann. Obwohl man immer noch reden, aufrecht gehen und funktionieren kann.
Ich wünsche mir mein altes Leben zurück. Immer noch so sehr. Ich habe einen Kollegen, der am Ende des Sommers in die Studienstadt zieht, um dort zu arbeiten. „Genieß die Sommerabende am Fluss“, habe ich erklärt. „Mache ich Mondkind. Du musst mir noch erklären, wie man in [der Studienstadt] lebt.“ Fast hätte dieses Kommentar mich endgültig aus der Spur geworfen.

Die Wäsche ist noch in der Maschine, morgen früh muss ich noch packen und dann geht es los.
Ich habe keine Ahnung, wie ich die nächsten Tage schaffe. Ich weiß es einfach nicht. Ich wünschte, ich hätte irgendein Konzept. Aber das habe ich nicht.
Und dennoch - den Weg in die Zukunft gibt es nur über die Gegenwart.

Mondkind

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