32 Monate

Mein lieber Freund,
na, wie geht es Dir?
Die Tage werden wieder merklich heller, ich fahre schon in der Dämmerung zur Arbeit und es wird nicht mehr lange dauern, bis man vielleicht schon in der Früh die ersten Sonnenstrahlen abgreifen kann.

Die letzten Wochen waren immer noch ziemlich schwer.
Aber ich betrachte das auch alles – zumindest in den guten Momenten – als neue Chance.
Ich habe mich mit meiner Naivität mal wieder ordentlich auf die Nase gelegt. Die Idee von „eine Therapie brauche ich eigentlich nicht mehr und mit einer neuen Beziehung komme ich jetzt auch zurecht“, war eben mal wieder zu kurz gedacht. Klar – das hätte auch funktionieren können und wenn es das getan hätte, wäre es sicher auch okay geworden. Nur habe ich wieder nicht einberechnet, dass zu allen zwischenmenschlichen Verbindungen zwei Menschen gehören.

Das neu etablierte Helfersystem steht noch, auch wenn ich dem noch nicht so ganz vertrauen kann.
Aber ich versuche es.
„Sie sind irgendwie von einem Trauma ins nächste Trauma gerutscht“, hat mein Intensiv – Oberarzt die Tage mal zusammen gefasst. Und langsam wird auch mir klar, dass es hier um mehr als um die Themen Trennung und Tod geht.

Ich habe mein altes Tagebuch mal wieder raus geholt. Ich mach das selten, weil es weh tut. Weil ich mir für mich selbst so sehr einen besseren Start gewünscht hätte. Aber wem erzähle ich das…?
Und darin findet man nicht nur eine Dokumentation, dass ich mein Leben mehr als ein Jahrzehnt fast ausschließlich am Schreibtisch verbracht habe, sondern auch viel über die Familie. Die Tage habe ich mal einen Text von meinem 15 – jährigen Ich gefunden, das sich Gedanken zum Thema Wünsche für meine Familie gemacht hat. Darin heißt es: „Familie als Netz, das sich untereinander hält und auffängt, sich den Mut gibt, neue Wege zu gehen.“ Und ein bisschen später: „Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit für uns alle, aber das erfordert, dass die zugelassen wird. Und das geht nur mit Vertrauen.“ Und dann: „Es wäre schön, wenn wir die Perfektion aufgeben könnten, akzeptieren, dass es Brüche gab und gibt und dass die nicht verschwinden, wenn man versucht die unter den Teppich zu kehren. Das führt insgesamt nur zu noch mehr Leid.“ Und zuletzt: „Insgesamt wünsche ich mir mehr Zusammenhalt, mehr Bindung für uns alle – dass wir uns nicht so fremd sind, dass nicht jeder in diesem Haus in verschiedene Etagen und verschiedene Zimmer flüchtet.“


Mir wird langsam klar, dass die Trennungen auch immer ein Zurückwerfen auf mein altes Ich sind. Der Intensiv – Oberarzt hat schon mal angemerkt, dass Du wahrscheinlich in den Jahren, in denen wir uns kannten, zur engsten Bezugsperson geworden bist.
Und das ist glaube ich das, was nicht so richtig sichtbar ist. Natürlich bin ich nicht die Einzige, die mit ihrer Familie absolut nichts anfangen kann. Aber dadurch werden enge außerfamiliäre zwischenmenschliche Beziehungen immer ganz schnell ganz wichtig und wahrscheinlich auch ein Versuch einen Ort zu finden, an dem ich menschlich bleiben kann.
Und vielleicht ist jede Beziehung auch für mich irgendwie ein Versuch irgendetwas wieder gut zu machen. Der Mondkind von damals endlich ein zu Hause zu geben. Ich weiß, dass ich mein halbes Leben gedacht habe, dass ich das nur überleben muss, bis ich aus diesem zu Hause, das keins mehr war, weg kann. Bis ich endlich in so vielen Hinsichten autonom bin. Aber wahrscheinlich habe ich nicht bedacht, dass so viele Dinge Spuren hinterlassen.
Ich habe das in all den Jahren mit Dir nicht hinterfragt. Weil das irgendwie okay war. Wahrscheinlich war unsere Beziehung auch ein bisschen vertikal angehaucht, aber nicht auf einer tiefen emotionalen Ebene. Du warst ein Stück älter, Du musstest mir damals erstmal zeigen, wie man lebt und ich glaube, das war für keinen von uns ein Problem. Aber emotional war das so viel Nestwärme. Ich hatte gehofft, dass das für uns beide gilt. Es war klar dass – egal was in der Welt so passiert – wir uns immer wieder begegnen, nur wir Zwei, geschützt vor allem was da draußen passiert.
Mit Dir hatte ich irgendwie das Gefühl, dieser – selbst für mich fast unsichtbare Plan – geht auf.

Es gibt viel aufzuräumen und ich habe vor, das endlich zu tun.
Und da der Oberarzt mich ordentlich getreten hat aktiv zu bleiben, gehe ich nicht nur laufen, sondern habe auch das Keyboard wieder raus gekramt. Erinnerst Du Dich, wie gern Du mir beim Spielen zugehört hast? Ich muss immer dran denken, wenn ich dort stehe.

Ich hoffe, Du bist okay, wo immer Du auch bist…
Habe ich schon erzählt, dass wir dieses Jahr planen auf ein Revolverheld – Konzert zu gehen? Ich muss die anderen nochmal treten, dass wir endlich mal Karten kaufen. Ich nehm Dich in Gedanken mit.

Ganz viel Liebe
Mondkind

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