Von einem langen Gespräch mit dem Intensiv - Oberarzt

Freitag. Früher Mittag.
Mein Intensivoberarzt und ich sitzen mal wieder in einem unserer Besprechungsräume. Ich habe irgendwie gar keine Ahnung, worüber ich heute reden möchte. Es fühlt sich so wenig aufgeräumt in mir an, dass ich gar nicht weiß, was mich jetzt gerade am Meisten bewegt.
„Das ist schon ziemlich klassisch depressiv“, sage ich irgendwann. „Diese ganze Schlafproblematik, diese ständige Erschöpfung, die Tatsache, dass die Stimmung morgens meistens ganz gedrückt ist und sich in den späten Abendstunden erst stabilisiert – das kenne ich nur aus Zeiten, in denen es mir wirklich sehr schlecht ging. Und dass der Verlust einer sozialen Bindung (die vielleicht aus seiner Sicht nie eine war) das wieder auslöst – ich meine, ich kenne mich bald 30 Jahre lang, da hätte man den Wecker nach stellen können. Und trotzdem versuche ich jeden Tag dagegen zu halten; ich möchte, dass das ein einziges Mal nicht irgendwann in der Psychiatrie endet, aber das ist echt anstrengend. Mehr als die basalen Dinge schaffe ich gerade nicht mehr.“ „Und da beißt sich die Katze ja irgendwie in den Schwanz“, merkt der Herr Oberarzt an. „Auch wenn ich Sie da gut nachvollziehen kann und das auch so sehe; das ist schon depressiv und ich stelle mir das anstrengend vor. Aber Sie müssen ganz kleine Lichtmomente schaffen. Ganz kleine Schritte. Mini – Schritte.“ „Der dienstplanverantwortliche Oberarzt hat mich schon gefragt, ob ich eine Woche Urlaub haben möchte“, merke ich an. „Also nicht, weil ich ihm irgendetwas erzählt hätte, sondern weil ich einfach dezent erschöpft aussah auf der Arbeit. Aber meiner Erfahrung nach bringt das meistens nichts; da hat man nur noch mehr Zeit für diesen Gedankensalat und steht trotzdem nicht auf.“ „Was haben Sie jetzt medikamentös schon alles durch?“, fragt er nochmal und dann geht es eine Weile darum und um den Vorschlag eines neuen Versuchs. „Sie müssen das halt schon ein paar Wochen nehmen, um zu merken, ob sich da an der Grundstimmung irgendetwas tut. Und mit meiner Frau weiter arbeiten, denn die Lösung ist das nicht. Das soll Sie nur stabilisieren, bis es besser wird.“

Später geht es nochmal um den ehemaligen Freund und mich.
„Naja zumindest haben Sie ja festgestellt, dass Sie sich mal grundsätzlich wieder verlieben können und wieder einen anderen Menschen fühlen können“, sagt er. „Das sagen alle“, entgegne ich. „Und das macht mich latent aggressiv.“ Er schaut mich fragend an. „Also verlieben kann ich mich schon – das ist auch nicht besonders schwer. Aber es geht ja darum, diese Beziehung, die sich daraus ergibt auch führen zu können. Und abgesehen davon, dass es halt ohnehin nicht möglich gewesen wäre, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass er eine Beziehung ohne Bindung möchte – aber das wusste ich noch nicht, als ich aufgehört habe, ihn zu spüren.“ „Was ist da passiert?“, fragt er. „Naja, darüber habe ich viel nachgedacht“, entgegne ich. „Das kann auch ein dummer Zufall sein, weil wir ja irgendwann beide gemerkt haben, dass da irgendetwas nicht mehr gepasst hat, aber zumindest gibt es mal einen gewissen zeitlichen Zusammenhang. So etwas, das ich mit dem ehemaligen Freund erlebt habe, habe ich nie davor erlebt. Ich war wirklich bis über beide Ohren verliebt – und das war beim verstorbenen Freund damals anders. Da war sofort ein Gefühl von ganz tiefer Bindung, ganz tiefen Vertrauen, als hätten wir uns schon ewig gekannt. Wir waren so auf einer Wellenlänge, dass wir von Anfang an die grundsätzlichen Dinge nicht besonders ausdiskutieren mussten. Und beim ehemaligen Freund – das war wirklich so diese rosarote Brille. Ich weiß nicht, ob ich in diesem letzten Sommer ein einziges Mal mein Gehirn eingeschaltet habe. Wir haben einfach von heute auf morgen gelebt, Vergangenheit und Zukunft war ziemlich ausgeblendet und manchmal hat mir das schon Angst gemacht, wie ich drauf war. Und doch fordert die Mutter des verstorbenen Freundes von Zeit zu Zeit diese Besuche auch aktiv ein. Ich kann das verstehen; der verstorbene Freund war ihr einziges Kind und ich war der Mensch, der ihn noch am Besten kannte. Und auch ich finde es wichtig von Zeit zu Zeit dort zu sein, auch wenn diese Besuche jedes Mal emotional sehr anstrengend sind. Irgendwann habe ich immer das Gefühl, ich kann in dieser kleinen Wohnung nicht mehr atmen vor Schwere. Und dann war ich bei ihr und habe sie solange genervt, bis sie mir endlich ein paar Informationen gegeben hat, wo und wie er denn nun beerdigt ist. Und dann bin ich einfach hingefahren, habe eine Weile gesucht und sein kleines Grab gefunden. Und ich hätte nicht gedacht, was das mit mir macht.“

Ich glaube, ich habe noch niemanden außer mit dem ehemaligen Freund über meinen Besuch dort gesprochen. Ich habe darüber geschrieben – das ja, aber gerade spüre ich, wie mir die Tränen in die Augen steigen und ich erstmal eine kurze Redepause brauche, damit mich meine Emotionen nicht völligst überschwemmen. Der Herr Oberarzt lässt mich einfach atmen und gibt mir kurz Zeit.

„Irgendwie war es so viel Frieden zu wissen, wo er jetzt ist“, fahre ich irgendwann fort. „Und gleichzeitig habe ich einen Moment gehabt, in dem ich so bewusst die Autoschlüssel in meiner Tasche gespürt habe und das Gefühl hatte, dass uns das damals vielleicht gerettet hätte. Ich stand da, in meiner grünen Herbstjacke, die so alt ist, dass er sie auch noch kannte, mit meinem beige – karierten Schal um den Hals und habe mich gefragt, was zur Hölle er sagen würde, wenn er mich und uns dort sehen würde. Ich hatte plötzlich die letzte Verabschiedung in der Studienstadt in Kopf – da haben wir noch einen Kaffee getrunken; ich kann Ihnen heute noch genau sagen, wo das war und dann bin ich gefahren. Das war kein Abschied für immer damals. Und doch ist er es geworden. Was hätten wir uns damals gesagt, wenn wir damals gewusst hätten, wann und an welcher Stelle wir uns wieder begegnen werden? Und dann dachte ich mir: „Wie erkläre ich ihm das denn jetzt? Wie soll ich ihm sagen, dass ich mich verliebt habe, dass ich einen der besten Sommer meines Lebens hatte?“ Und ich habe mich so schuldig gefühlt, weil ich einfach nicht auf ihn aufpassen konnte, weil ich diese Welt noch spüren darf und er nicht mehr.
Dieser Moment dort war etwas wie ein ganz komisches Aufwachen. In dem ich plötzlich alles hinterfragt habe. Und in dem mir bewusst geworden ist, dass das irgendwie doch zu früh war. Ich habe ja bis ich den eheamaligen Freund kennen gelernt habe immer gesagt, dass ich keinen Freund mehr an meiner Seite haben kann. Und dann kam er und dann ist irgendetwas in meinem Gehirn mit mir durch gegangen. Und das war vielleicht auch gut. Aber ein anderer Teil kam da wohl einfach nicht mehr hinterher. Das war, als würde plötzlich irgendetwas auf mich herunter fallen, als würde ich plötzlich anders in dieser Welt stehen. Als hätte sich innerhalb von Sekunden alles gedreht.
Ich habe dann hinterher auch überlegt, ob ich überhaupt zum ehemaligen Freund fahre, wie das geplant war. Ob das gerade geht und ob das uns beiden gut tut. Welcher Freund will bitte irgendwie spüren, dass da gerade ganz viel Aufruhr in dieser Beziehung ist? Aber am Ende wäre ich zu Hause alleine gewesen und das habe ich mir dann irgendwie auch nicht zugetraut in dem Zustand und dann bin ich zu ihm gefahren. Und das war nicht der erste gemeinsame Urlaub - wir hatten danach beide ein paar Tage frei – theoretisch wussten wir, dass das mit uns funktioniert. Aber zumindest für mein Gefühl war ab diesem Wochenende vieles anders. Ich wollte ihn das nicht so spüren lassen, wir haben erst Monate später darüber geredet, als es wahrscheinlich schon zu spät war, aber es war einfach nicht mehr wie vorher, wenn er mich in den Arm genommen hat, wenn wir uns geküsst haben – da war so ein Teil, der hat sich dagegen gewehrt, der hatte jedes Mal diese Mondkind vor Augen wie sie da am Grab steht und ich habe das einfach alles nicht mehr übereinander bekommen.“


Die Bäume über dem Grab des Freundes

Wir schweigen eine Weile. „Ich weiß, Sie können da natürlich auch nichts machen. Aber Danke, dass ich es hier erzählen darf“, sage ich irgendwann. „Ich bin kein Psychologe. Ich kann nicht viel machen. Ich kann nur zuhören. Und vielleicht irgendetwas sagen von dem ich glaube, dass es hilfreich sein könnte. So allein vom gesunden Menschenverstand her“, sagt er. „Manchmal ist das schon alles was es braucht“, sage ich. Und nach einer Pause. „Das ist ja auch alles kein Einzelschicksal. Es gibt so viele Menschen, die schwer zu tragen haben. Und die müssen das auch irgendwie hinkriegen. Ich weiß nur noch nicht wie.“ „Unter den Teppich kehren dürfen Sie es aber auch nicht. Es ist schon nicht gewöhnlich, was Ihnen da passiert ist. Und hier im Krankenhaus sehen wir immer die dramatischen Schicksale. Das ist auch eine gewisse Selektion. Nicht jedes Leben läuft so, auch wenn Sie sicher Recht damit haben, dass jeder seinen Rucksack trägt. Sie müssen das irgendwie alles nochmal aufarbeiten. So sehr, wie das auch weh tut. Eine andere Chance sehe ich da nicht. Ich merke ja, wie sehr Sie das alles beschäftigt und bewegt.“

Wir einigen uns, ich versuche erstmal weiter zu gehen. Einen Fuß vor den anderen. Und versuchen, nebenbei die guten Momente zu sehen. Und wenn sie noch so klein sind.
Nächste Woche wird eine Herausforderung. Die Woche ist so voll, weil da auch noch drei Fortbildungen sind, dass für einen Termin bei der Frau des Oberarztes keine Zeit war und ohne Spätdienste kann ich auch nicht einfach so beim Intensiv – Oberarzt in der Arbeitszeit aufschlagen. Zudem ist da am Freitag noch ein Dienst. Ich hoffe, das wird alles gehen.

Als ich abends nach dem Spätdienst das Haus betrete, habe ich plötzlich den Geruch des Freundes in der Nase. Vielleicht, weil ich doch noch hoffe, dass er irgendwann nochmal auf meiner Treppe sitzen wird. Immerhin war er ein einziges Mal unangemeldet hier. Das war das letzte Wochenende, an dem wir noch zusammen waren. Ich gehe vorsichtig die Treppe hoch, aber natürlich sitzt er nirgendwo herum. Wir werden uns halt einfach nicht mehr sehen. Und dieser Frühling tut so weh. Ich habe so gehofft, dass er noch da ist, wenn ich nächstes Jahr wieder die dünneren Klamotten aus meinem Schrank ziehen werde. Aber es ist eben nicht so.

Die Woche war anstrengend. Ich war jeden Tag außer Donnerstag fast bis Mitternacht auf der Arbeit, weil jeden Tag in der Notaufnahme High life war. (Ab jetzt soll der Spätdienst immer bis 23:15 Uhr bleiben, hat der Chef gestern beschlossen. Wie gut, dass ich im April dauernd nur tageweise Spätdienst habe. Wie soll ich gegen 1 Uhr in der Nacht im Bett sein und um kurz nach 5 wieder aufstehen. Ich kann einfach nicht mehr mit diesen Arbeitszeiten…) Mittwoch haben wir einen 45 – jährigen thrombektomiert, der im Krankenhaus einen Schlaganfall bekommen hat. Gestern kam ein Mensch mit Rückenschmerzen, der vor Jahren mal ein Rektum – Karzinom hatte. Er war über 80 und hat mir versichert, dass er die Woche drei Mal ins Fitnessstudio geht und bei der Kraftprüfung habe ich das auch gemerkt. Nur das linke Bein, das wollte nicht mehr so ganz und über Rückenschmerzen klagt er auch seit drei Wochen. Ich hatte schon ein blödes Gefühl dabei und leider kam dann auch eine Metastase zum Vorschein in der Wirbelsäule. Ich hoffe, man kann ihm helfen. Dann habe ich gestern Abend auf meiner Station einen jungen Patienten wieder getroffen, der ewig auf unserer Intensivstation mit einer Vaskulitis und mehreren Schlaganfällen infolge dessen lag; er hat noch ein Aneurysma, das noch versorgt werden sollte, deshalb kam er noch mal zu uns und war im Anschluss eben noch auf der Überwachungsstation. „Sie kenne ich doch“, begrüßt er mich. „Irgendwann als ich auf der Intensivstation lag und wieder wacher geworden bin, ist mir aufgefallen, dass Sie immer mit auf der Visite waren“, sagt er. „Ja genau“, sage ich. „Und Sie haben mich aufgenommen, als ich damals kam.“ Damals, im letzten Sommer. Als er mit einer Sprachstörung kam, wir uns gar nichts Böses dabei dachten, er nach wenigen Stunden auf unserer Station vollkommen dekompensiert ist und intubationspflichtig geworden ist. Der Fall war wochenlang ein Rätsel, bis die Vaskulitis raus kam. Und jetzt liegt er vor mir. Keine Lähmungen mehr, er spricht wieder, als hätte er nie nicht gesprochen. „Er ist ein intelligenter Junge“, sagte die Mutter immer wieder und ich merke das daran, wie er sich ausdrückt. „Es freut mich wirklich, dass es Ihnen wieder so gut geht“, sage ich. „Sie sind eine richtige Erfolgsgeschichte von unserer Intensivstation.“ „Das sagen alle“, entgegnet er. „Weil es halt einfach so ist“, erwidere ich und wünsche ihm eine gute Nacht. Wir retten wenige Menschen. Aber ihn – ihn hat unsere Intensivstation gerettet. Ganz sicher.

Mondkind



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen