Von Intensiv - Verlegung und einem emotionalen Auffangen

Freitagmorgen.
Der Kollege und ich sitzen zu Zweit auf der Station. Das ist – wenn alles wie geschmiert läuft – machbar, aber wehe, es gibt Probleme.
Und der Tag sieht schon in der Früh nach Problemen aus.
Eine Patientin liegt auf der interdisziplinären Intensivstation und wurde gestern notfallmäßig intubiert, nachdem sie eine allergische Reaktion auf die Lysetherapie entwickelt hatte – und zwar so heftig, dass man Sorge hatte, dass ihr die Atemwege zuschwellen und man sie deshalb lieber prophylaktisch intubiert hat. Statt zur Frühbesprechung zu gehen, darf ich mich erstmal darum kümmern und mit den Anästhesisten vereinbaren, wie es weiter geht. Der Hals sieht besser aus, man möchte noch eine Laryngoskopie machen und wenn die Schwellung abgeklungen ist, soll sie im Tagesverlauf extubiert und auf die Stroke Unit verlegt werden.
Zeitgleich fängt ein anderer Patient an, sich zum Sorgenkind zu entwickeln. Er wurde mit einer atypischen Blutung links okzipital aufgenommen, differentialdiagnostisch hat er einen eingebluteten Posteriorinfarkt. Bei dem Patienten lässt sich der Blutdruck trotz drei Perfusoren aktuell nicht beherrschen und er trübt zunehmend ein. Darüber hinaus hat er im Rahmen seiner zunehmenden Somnolenz sicherlich aspiriert, brütet gerade eine Pneumonie aus und schwächelt mit seiner Sättigung. Wir bauen erstmal Sauerstoff dran und setzen ihn ins Bett. Ich melde eine cCT – Kontrolle und ein Röntgen an, nehme nochmal Blut ab sowie Blutkulturen, weil er auch auffiebert. Außerdem gibt es sofort eine Antibiose. Das CT zeigt erstmal keine relevante Verschlechterung, die Lunge sieht auf dem Bild (noch) ganz gut aus, aber hört sich auskultatorisch schon schrecklich an und der Patient scheint sich erstmal zu stabilisieren.
Wir gehen erstmal auf die Visite und danach nehmen wir dem Patienten noch eine arterielle BGA ab. Tja, ein pO2 von 40mmHg ist halt schlecht. Erst denken wir, dass wir vielleicht doch in eine Vene gestochen haben, also stechen wir noch zwei Mal und lassen das Blut aus der Nadel zurück schießen, sodass wir sicher sind, dass das Gefäß pulsiert. Es wird nicht besser mit den Werten. Also rufen wir vorne in der Notaufnahme die Oberärzte an – die sind Anästhesisten. Und die sagen natürlich: Indikation zur Intubation; wenn auch nicht notfallmäßig, weil er mit seinen sechs Litern Sauerstoff, die mittlerweile laufen, ganz gut sättigt. Also rufe ich die Angehörigen an, bespreche die anstehende intensivmedizinische Behandlung und organisiere die Verlegung auf unsere Neuro – Intensiv, die nur im Tauschgeschäft möglich ist.
Bis alles organisiert ist, ist früher Nachmittag. Der Rettungsdienst soll den Patienten rüber in den Altbau bringen, dort wo unsere Intensivstation ist. Begleitet werden soll der Transport von einer Oberärztin aus der ZNA. Aber als der Rettungsdienst auf der Matte steht, ist die Kollegin gerade beschäftigt. Mein Kollege, der lange auf der Intensiv gearbeitet hat, ist auch gerade beschäftigt, der Oberarzt wird ganz sicher nicht mit rüber fahren – also was bleibt mir übrig, als es selbst zu machen. Der Patient war ja recht stabil, er wird schon nicht innerhalb von fünf Minuten Fahrt abkratzen und intubationspflichtig oder reanimationspflichtig werden, denke ich mir.
Also begleite ich den Patienten.

Als ich einen Blick ins Arztzimmer schmeiße, als ich den Patienten auf die Station bringe, sehe ich dort den Intensiv – Oberarzt sitzen. Ich mache die Übergabe und beschließe auf dem Rückweg bei ihm vorbei zu schauen. Nachdem es mittlerweile sowieso 15 Uhr ist, mein Zeitmanagement komplett für den Eimer und für heute nicht mehr rettbar ist und ich jetzt sowieso hier bin.
Ich mache die Übergabe und laufe zurück zum Arztzimmer. „Frau Mondkind, haben Sie den Patienten jetzt hier rüber gebracht?“, fragt er mich, als er mich sieht. „Ja, es war niemand anders da; deshalb musste ich es selbst machen. Eigentlich wollte ich Sie heute nicht besuchen, aber ich dachte mir, wenn ich jetzt sowieso schon hier bin, schaue ich vorbei.“ „Sollen wir mal kurz reden? Ihre letzten Mails hören sich nicht gut an. Und Sie sehen echt nicht gut aus“, sagt er. „Wäre glaube ich gut, ja“, entgegne ich. 





Wenig später sitzen wir in einem der Besprechungsräume, ich habe gebeichtet, dass ich entgegen des Rats des Oberarztes am Wochenende beim ehemaligen Freund war, dass ich selbst die Dinge am Dienstag nochmal klären wollte und es seit diesem Gespräch rückwärts und bergab läuft.
„Frau Mondkind, betrachten Sie das mal realistisch. Ich bin nicht Ihr Vater und ich darf Ihnen da auch keine Vorschriften machen, aber wenn Sie sich mal überlegen, was Beziehung für Sie ist und was das für Ihren ehemaligen Freund bedeutet, dann gibt es da – aus allem was ich als Außenstehender gehört habe – zwei völlig verschiedene Konzepte. Sie möchten Zweisamkeit, Verlässlichkeit, Nähe und Bindung und er möchte das nicht. Gerade was das Thema Bindung anbelangt scheint das für ihn ganz nah neben Abhängigkeit zu stehen und natürlich ist eine Bindung eine gewisse Abhängigkeit – da hat er Recht – aber das ist ja nicht wie eine Klette zu sehen. Aber ohne das bewerten zu wollen – obwohl ich in dem Beziehungsbegriff näher bei Ihnen als bei Ihrem ehemaligen Freund stehe – es passt nicht. Und er scheint in seinen Entscheidungen und Überzeugungen sehr klar zu sein – Sie werden das nicht ändern können; und wenn Sie noch so viel reden. Was ich sehe ist, dass Sie jedes Mal noch verletzter aus dieser Geschichte raus gehen und er hat Sie genug verletzt. Es ist vielleicht nochmal schön ihn zu treffen, ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen, aber das schlägt schon auf der Heimfahrt ins Gegenteil um. Und Sie werden da in Ihren Bedürfnissen immer zurück stecken müssen. Er kann oder will Ihnen nicht das geben was Sie brauchen. Und es kann ja sein, dass Sie ihn weiterhin körperlich anziehend finden und es gibt Menschen, die können solche Beziehungsmodelle leben, die auf einer reinen körperlichen Anziehung beruhen. Aber so wie ich Sie einschätze gehören Sie dazu nicht. Sie sind so ein feinfühliger, sensibler Mensch und ich glaube nicht, dass Sie in so einer Beziehung glücklich werden. Wie soll denn das weiter gehen? Sie werden doch immer einen Teil von sich verstecken müssen.“
In dem Moment weiß ich, dass der Recht hat. Man hätte das absolut nicht besser zusammen fassen können. Irgendwann muss man anfangen, das Hirn wieder einzuschalten. Und ja, ich finde ihn immer noch unglaublich anziehend, ich liege so gern in seinen Armen, ich habe dieses Feuerwerk geliebt, das er in mir auslösen konnte, sobald er mich berührt hat. Ich habe die Küsse zur Begrüßung und zu Verabschiedung am Meisten geliebt, weil das die Emotionalsten waren. Ich habe nie einen Menschen so attraktiv gefunden; das muss ich zugeben. Aber das reicht nicht. Wenn die emotionale Ebene nicht passt, dann reicht das nicht.

Ich spüre die Tränen in meinen Augen. Und mein Gegenüber fängt behutsam auf.

Wir reden über die letzten Tage. Über die durchgeweinten Nächte, die permanente Kopfschmerzen, die Augen, die den ganzen Tag über sichtbar geschwollen sind.
„Es geht um mehr, als die Trennung, oder?“, sagt er irgendwann. Ich nicke stumm. Denke lange nach und drehe mein Telefon in der Hand, das ich neben mich gelegt habe.
„Um viel mehr“, sage ich.
Er lässt mir Zeit.
„Es ist schwierig, ständig nicht gewollt zu werden. Oder als Mensch nicht zu reichen“, sage ich irgendwann. Er seufzt. „Ihre Familie will Sie nicht, Sie glauben, Sie waren nicht genug für den verstorbenen Freund. Und der jetzige Freund will Sie auch nicht.“ Ich nicke. „Das ist auch ein bisschen Schicksal. Das hat nicht unbedingt nur etwas mit Ihnen zu tun. Sie sind eine wunderbare und sehr starke Frau. Sie haben viel in Ihrem Leben geschafft mit den Startbedingungen, die Sie hatten. Und nach allem, was ich von Ihrem Freund gehört habe, liegt das auch schon mit an ihm. Vielleicht sehen Sie das nicht; vielleicht sehen Sie beide das nicht, aber glauben Sie es mir.“
Ich schweige lange. „Ich glaube, ich habe im neuen Freund auch immer ein bisschen den verstorbenen Freund gesucht. Ich habe mir oft Dinge gewünscht, die er nicht mochte. Was ich zum Beispiel früher geliebt habe, waren die Sonntagnachmittage im Café. Ich habe den Freund mal versucht zu überzeugen und er meinte, es wäre doch viel schöner zu Hause Kaffee zu trinken. Und ich glaube, ein Teil von mir wollte diese Café – Dates zurück. Ein Teil von mir wollte ihn zurück.“ „Da werden Sie noch lange dran arbeiten müssen. Das hat Sie geprägt, dieses Ereignis.“ „Ich glaube manchmal viel mehr, als ich denke“, sage ich. „Ich bin kürzlich mal die Status – Meldungen meiner sozialen Medien im Archiv durchgegangen. Ich fand das erschreckend. Irgendwie hatte ich geglaubt, ich sei schon immer so verloren gewesen, wie die zwei Jahre nach seinem Tod, aber das ist nicht so. Klar, es gab schwere Zeiten, auch immer wieder kritische Zeiten, ich war ja sogar in der Psychiatrie, auch davor schon. Aber es gab auch immer wieder Licht. Und das gab es die zwei Jahre danach fast überhaupt nicht mehr. Ein guter Tag war ein Tag ohne zumindest latente Suizidalität.“
Ich schweige eine Weile und er wartet, weil er merkt, dass ich etwas sagen möchte. „Womit wir beim Thema wären“, sage ich irgendwann. „Es ist ja nicht so, dass ich das wollen würde. Es drängt sich ab einem gewissen Grad von Verzweiflung einfach auf und ich finde das selbst so ätzend. Und ich glaube, das hat nicht mal etwas mit der Trennung an sich zu tun. Zumindest nicht auf diesen Menschen gemünzt.“ „Das ist, weil Ihre emotionalen Bedürfnisse gerade nicht erfüllt werden können und Sie – das ist eben leider so – selbst wenn Sie daran arbeiten, einige Zeit brauchen werden, bis sich da etwas stabilisiert. Und ich glaube Ihnen, dass Sie diese Gedanken nicht wollen.“ Ich nicke. Und bin beeindruckt, dass er so genau sieht, was ich meine. „Ich hab zwei Jahre so gelebt; ich will das einfach nicht mehr und ich habe auch keine Kraft mehr.“ „Sie bleiben“, sagt er irgendwann und fragt mich, was ich am Wochenende vor habe. „Am Sonntag ist Dienst; damit ist das Wochenende recht safe“, sage ich. „Ich bin ja so ein verantwortungsbewusster Mensch.“ „Was in dem Fall gut ist“, entgegnet er. „Rufen Sie mich nächste Woche jederzeit an“, sagt er. „Danke“, entgegne ich.

„Ich glaube, ich muss mal langsam noch was arbeiten gehen“, sage ich. „Aber Danke für Ihre Zeit und Ihre Mühe. Das hat mir echt viel geholfen jetzt.“ „Ich tue was ich kann Frau Mondkind. Jederzeit sehr gerne“, sagt er. Wir stehen auf. „Darf ich Sie einmal in den Arm nehmen“, fragt er. Ich nicke. Manchmal ist das einfach alles, was es braucht.

Ich trabe wieder rüber, wo auch keiner glauben kann, dass ich mal eben den Patienten begleitet habe. Bis in die Abendstunden bin ich mit den restlichen Patienten beschäftigt, die ich auch noch zu betreuen habe.
Morgen habe ich frei, habe eine Menge zu tun und am Sonntag wieder Dienst.
Gerade ist es ein bisschen ruhiger in mir. Das darf gern kurz so bleiben.

Mondkind

 

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